Zeit als Ideologie
Ein sich auf eine Ideologie berufendes psychisches Machtverhältnis, also ein institutionalisiertes politisches oder religiöses Dogma, wie der Kommunismus oder das Christentum, führt zuallererst immer ein neues Kalendersystem ein. Damit will man sich zum einen vom alten abgrenzen, vor allem aber entscheidend auf das Leben der Untergebenen einwirken und zwar durch die Strukturierung und Reglementierung der Zeit. Durch Feiertage, festgelegte arbeitsfreie und festliche Zeiten wird die aufgezwungene Ideologie quasi zu einem nicht hinterfragbaren lebens- und alltagsbestimmenden Naturgesetz. So lässt sich ein absoluter Konformismus erzwingen, an den selbst diejenigen gebunden sind, die die jeweilige Ideologie eigentlich ablehnen.
Das Jahr
Ein Jahr ist die Zeitspanne, welche die Erde für eine Umkreisung der Sonne benötigt — ein gutes Beispiel für den zyklischen und nicht linearen Charakter der Zeit. Jedes scheinbar lineare Geschehen ist eingebettet in einen größeren zyklischen Kreislauf. Die westliche lineare Perspektive der Zeit blendet den ewigen Kreislauf des Seins meist aus.
Während die Naturwissenschaften den Urknall der Schöpfung als den Beginn der Zeit ansehen, wird im Hinduismus der Kosmos nicht als singuläre Erscheinung, sondern als wiederkehrendes Phänomen verstanden. Genauso wird Leben und Sterben nicht als einmaliger Vorgang aufgefasst.
Geburt, Tod und Wiedergeburt werden als ein ewiger Kreislauf gewusst. Dieser Zyklus spiegelt sich in einem Erdenjahr.
In welchem Jahr leben wir? Die jeweils vorherrschende Religion gibt uns dieses Jahr vor. Und wenn wir dieser Zählweise Glauben schenken, ordnen wir uns einem kollektiven Zeitverständnis und Empfinden unter und negieren unser eigenes. Denn für jeden von uns ist das Jahr Null eigentlich das eigene Geburtsjahr. Hier beginnt für ihn die Zeit und das Leben auf der Erde. Zudem verschleiern wir, wenn wir dem Jahr eine Zahl geben, was es eigentlich ist: das Hier und Jetzt. Alle Menschen, Tiere und Pflanzen dieses Planeten leben gleichzeitig hier und jetzt. Darüber hinaus existiert der gesamte Kosmos mit all seinen Lebensformen und -welten gemeinsam mit uns hier und jetzt.
Nicht in der Vergangenheit, nicht im Jahr 2020 und auch nicht in ferner Zukunft!
Deutlich wird, welche Absicht wohl mit der diktierten linearen Zeitauffassung und Zählweise verfolgt wurde: dem Menschen die zyklische Beschaffenheit der Zeit zu verbergen, ihn von seiner Präsenz zu entfremden, um so seine Spiritualität zu schwächen und ihn leichter in Dogma und Angst einsperren zu können.
Vor der Missionierung mit dem Schwert lebten unsere Vorfahren im zyklischen Zeitverständnis. Die Jahre wurden nicht gezählt, man lebte also nicht in einer Jahreszahl, sondern einfach in einem Jahr. Die Gegenwart wurde als Folge der Vergangenheit, der Zeit der Ahnen verstanden. Beides war untrennbar miteinander verknüpft.
Das Jahr war klar strukturiert, denn für die Landwirtschaft ist es unabdingbar, zur Aussaat und Ernte die exakte Jahreszeit bestimmen zu können, und das geht nicht meteorologisch oder an Hand von Ereignissen in der Natur, wie die Brunftzeit bestimmter Tierarten, sondern nur astronomisch. Während für die Sammler und Jäger die Veränderungen der Natur das Jahr strukturierten, richteten die Bauern also ihr Handeln nach dem Lauf und Stand von Sonne und Mond aus.
Die Wintersonnenwende
Der dunkelste Tag im Jahr, die Wintersonnenwende am 21. Dezember, wurde als das Ende des alten und der Beginn des neuen Jahres gefeiert. Wenn am nächsten Morgen die Sonne aufging, war dies der erste Tag des neuen Jahres, eines neuen Zyklus.
Dieses Fest war zugleich Weihnachten und Silvester!
Die ganze Nacht hindurch brannten riesige Feuer, und die anschließenden 10 bis 12 Tage waren die Raunächte, eine Übergangszeit zwischen dem alten und neuen Jahr. Eine magische, den Reglementierungen und gesellschaftlichen Zwängen entrückte Zeit. Eine Zeit der Besinnung und Einkehr, aber auch der Ausgelassenheit und Ausschweifungen. Sogar unser heutiger Weihnachtsbaum geht auf diese Zeit zurück. Früher waren es große heilige Tannen, die zur Wintersonnenwende feierlich geschmückt wurden.
Nach der mit der erzwungenen Christianisierung einhergehenden Einführung des gregorianischen Kalenders, in dem die Wintersonnenwende ursprünglich auf den 25. Dezember fiel, legte man zunächst das wichtigste christliche Fest des Jahres, die Feierlichkeiten zur Geburt Christi, auf das gleiche Datum. Man übernahm somit zunächst Datum und Brauch, um über die religiöse Deutungshoheit christliche Herrscher zu legitimieren und sich gleichzeitig den kulturellen Gegebenheiten soweit anzupassen, dass die Beherrschten die neuen Machteliten nicht als Fremdherrscher ansahen. Eine Taktik, die vom alten römischen Imperium entwickelt wurde und die wir heute „Softpower“ nennen.
Nach einer späteren Korrektur des gregorianischen Kalenders, die noch heute gilt, fiel der Tag der Wintersonnenwende dann auf den 21. Dezember, man behielt aber den 25. Dezember für die Feierlichkeiten bei. Der ursprüngliche Brauch konnte jetzt ohne größere Widerstände verboten werden und geriet über die Jahrhunderte in Vergessenheit. So wurde der gesamte Zyklus des Jahres christlich neu strukturiert und gedeutet.
Auch kommunistische Diktaturen wie die Sowjetunion oder Nordkorea nutzten und nutzen die Deutungshoheit über das kalendarische System in ähnlicher Weise als Machtinstrument.
Monate und Wochen
Neben dem Sonnenkalender gibt es den Mondkalender: In diesem sind die 28 Tage, die der Mond für eine Umrundung der Erde benötigt, ein Monat. Um beide Kalendersysteme miteinander zu kombinieren, wurden aus den 28 Tage langen Monaten sieben Monate mit 31 Tagen, vier Monate mit 30 Tagen sowie ein ,,echter“ Monat mit 28 Tagen, sodass diese 12 Monate insgesamt 365 Tage, also ein Sonnenjahr ergeben. Der Monat als festgelegter Zyklus hat somit seine ursprüngliche Funktion eingebüßt und dient nur noch als Einteilung des Jahres.
Ursprünglich orientierten sich unsere bäuerlichen Vorfahren bei Einsaat und Ernte nicht nur nach dem Stand der Sonne, sondern auch nach dem des Mondes. Er war von ähnlicher spiritueller und magischer Bedeutung, wie es noch heute in der Esoterik der Fall ist.
Die Woche wurde als weitere Untereinheit des Monats konzipiert. Sie ist ein Viertel von 28, also 7 Tage lang. Überliefert ist uns diese Zeiteinheit erstmals aus dem alten Ägypten und Babylonien. Sie diente zur Strukturierung von Arbeitstagen und arbeitsfreien Tagen der Beherrschten.
Eine Gliederung der Tage in Wochentage benötigen sich selbst versorgende Bauern nicht, wohl aber zur Arbeit gezwungene Unfreie. Die antiken Machteliten erkannten, dass ohne Tage der Regeneration die Produktivität der Beherrschten weitaus geringer war als mit solchen Tagen.
Arbeitszeit
Genauso wie die Gliederung der Tage in Wochen, wurde auch die Tagesstruktur in 24 Stunden, einer sich aus einem Winkelmaß ergebenden Zahl, zur Produktivitätssteigerung und Kontrolle der Arbeitenden zuerst im alten Ägypten und Babylonien eingeführt. Autarke Jäger, Sammler und Bauern benötigen keine solche Einteilung des Tages und richten sich allein nach dem Stand der Sonne.
Das Imperium Romanum und nachfolgende Staaten im Mittelalter griffen die Einteilung des Tages in Stunden und Minuten auf und verbreiteten sie in Europa.
Der alle anderen Gebäude weit überragende Kirchturm versinnbildlicht das christliche Herrschaftsverhältnis, dessen hierarchische Spitze wie im alten Imperium nach wie vor in Rom angesiedelt ist. Anfangs über den Glockenschlag und später auch über die großen mechanischen Uhren wird die arbeitende Bevölkerung in den vorgegebenen Stundentakt gezwungen. Damit greift die christliche Religion über das Diktat des Zeitempfindens fundamental in den Lebensalltag eines jeden ein. Diesen Punkt könnte man sogar mit der Erfindung der Zeit gleichsetzen.
Davor hatte das Wort Zeit vermutlich eine andere Bedeutung, die wir auch heute noch kennen: als fortschreitender Prozess der Veränderung, der dem Kosmos unterworfen ist — die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die exakt getaktete Zeit etablierte sich im Mittelalter in den Städten und Dörfern. Während die Bauern sich in der Landwirtschaft nach der Tageslänge und den anfallenden Arbeiten ausrichteten, orientierten sich Städter und Dorfbewohner in den Werkstätten und Läden zunehmend nach der Uhr. Dort arbeiteten die meisten in einer Viereinhalbtagewoche, samstags halbtags und montags war frei. Hinzu kamen viele über das Jahr verteilte christliche Feiertage, sodass im Schnitt an etwa 265 Tagen im Jahr gearbeitet wurde.
Allerdings wurde in vielen Werkstätten, in denen die Handwerker oft auch wohnten, von 3 Uhr morgens bis tief in die Nacht gearbeitet. Diese in Gilden organisierten Berufsgruppen waren aber Besitzer ihrer eigenen Produktionsmittel, der durch Mehrarbeit erzielte Gewinn zahlte sich also für sie aus. Erst mit der, mit dem Entstehen des Großbürgertums einhergehenden Konzentration von Kapital und der darauf folgenden Massenproduktion im Zuge der Industrialisierung entstand das heutige System der Lohnarbeit.
Während die Sammler und Jäger durchschnittlich 4 Stunden pro Tag für die anfallenden Arbeiten benötigten, arbeiteten sesshafte Bauern von morgens bis abends. Das Empfinden, in Subsistenzwirtschaft zu arbeiten, unterscheidet sich allerdings grundlegend von jenem der Lohnarbeit. Man ist sein eigener Herr und schuftet nicht fremdbestimmt für einen Arbeitgeber, allein aus der Notwendigkeit heraus, Geld zu verdienen. Somit ist die Arbeitszeit zwar genauso zwingend notwendig und nicht selbst gewählt, wird aber dennoch nicht als quälender Zwang — als Hamsterrad — wahrgenommen.
Deutlich wird dies durch die Konzeption der arbeitsfreien Zeit, der Freizeit, zur Zeit der Industrialisierung. Sie verdeutlicht, wie Lohnarbeit auf die Lohnabhängigen wirkt: wie die tägliche Verleugnung des eigenen selbstbestimmten Lebens.
Die individuellen und kollektiven Spuren dieses Traumas formten und formen Gesellschaft und Zeitgeist.
Freie Zeit
Zeit, Lebenszeit, ist unser einziger wirklicher Besitz. Wie wir sie verbringen, bestimmt, wer wir sind. Und wenn wir gezwungen sind, sie zu nutzen, um Geld zu verdienen, verlieren wir dadurch die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung, die uns nur in freier Zeit gegeben ist. Wichtig ist es, persönliche, familiäre und gesellschaftliche Verantwortungen und Verpflichtungen, die Zeit kosten, vom Zwang, die Lebenszeit kapitalisieren zu müssen, zu unterscheiden. Sich frei zu nehmen, sollte nicht bedeuten, diese Pflichten zu vernachlässigen.
Die kapitalistische Gesellschaftsordnung verlockt dazu, die Freizeit in Ablenkung und Zerstreuung ungenutzt zu lassen, beispielsweise durch unkontrolliertes Wahrnehmen eines unbegrenzten Medienangebots. Wem es aber gelingt, seine freie Zeit in seine eigene Entwicklung zu investieren, der wird dadurch immer mehr freie Zeit gewinnen, nicht zuletzt weil es ihm zunehmend möglich sein wird, durch Schärfen der eigenen Stärken auch Geld verdienen zu können.
Stress entsteht vor allem dadurch, dass freie Zeit fehlt, und er lässt sich auch nicht durch ausufernden Konsum reduzieren, der durch die geregelte Arbeitszeit ermöglicht wird. Stress bedeutet permanentes Leiden und Unglücklich-Sein.
Wer sich also der Lohnarbeit verweigert, wird durch diese Entscheidung nicht unglücklich, weil etwa sein — zunächst — enger werdender finanzieller Spielraum ihn zum Verzicht zwingen würde. Im Gegenteil: Dadurch wird erst ein glückliches Leben ermöglicht.
Für die meisten ist der Ausstieg aus der Lohnarbeit aber aufgrund vieler Verpflichtungen unmöglich, da sie noch keine tragfähigen alternativen Möglichkeiten entwickelt haben. Seine freie Zeit in die Etablierung dieser Alternativen zu investieren, zum Beispiel in den Kampf um ein bedingungsloses Grundeinkommen oder in die Schaffung neuer Kollektive in Subsistenzwirtschaft, kann mehr Zeit und Glück für alle bewirken.
Die Neue Zeit
Wem es gelingt, seine Zeit und das, womit er sie verbringt, zu weihen, der wird ihr wirklich gerecht und schenkt ihr einen Sinn. Denn Zeit ist heilig. Zeit ist immer gegenwärtig, also ist es richtig, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Die Vergangenheit existiert nur als Erinnerung, und Zukunft nur als Vorstellung. Vielleicht wird eines Tages wieder vielen ein Leben ohne Fokussierung auf Uhr und Kalender möglich sein. Dafür lohnt es sich einzutreten!
Denn auch die gewaltigen organisatorischen Aufgaben, die mit der heutigen Weltbevölkerung einhergehen, lassen sich nicht intelligent nach einer Zeittaktung, sondern nur gemäß dem natürlichen Zeitempfinden strukturieren. Nur wer sich schon einmal für längere Zeit ein Leben ohne Uhr leisten konnte, weiß, welcher Gewinn darin liegt.
Natürlich ist es für vieles zwangsläufig notwendig oder sinnvoll, Zeit messen zu können, wie bei Sportereignissen, in der Wissenschaft oder beim Kochen. Wir müssen die Uhrzeit aber nicht vollständig abschaffen, um unser Leben nicht mehr nach ihr auszurichten. Alles ist permanenter Veränderung, also der Zeit unterworfen.
Dies akzeptieren zu können, ist die eigentliche große Herausforderung, mit der wir alle konfrontiert sind. Denn nur wenn es uns gelingt, ohne zu klammern mit dem Fluss der Zeit zu fließen, können wir ein erfülltes und immer frisches Leben führen.
Während der Französischen Revolution versuchte man, eine neue Zeittaktung im Dezimalsystem, eine neue Jahreszahl sowie einen neuen Kalender einzuführen. Doch geht es ja nicht darum, der so fassbar gemachten Zeit lediglich ein neues Gesicht zu geben, sondern es geht um das Herausbilden und Leben eines neuen Zeitgefühls.
Warum sollten wir aber nicht auch einzeln und gemeinsam neue Kalendersysteme und Jahreszahlen entwickeln? Unser heutiges ist schließlich nicht alternativlos. Die Erde ermöglicht es, uns in den natürlichen Rhythmus des Seins einzufügen.
Versuchen wir es!
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