Der Winterschlaf ist vorbei. Die Natur erwacht. Der alte Bär reckt und streckt sich in alle Richtungen. Was lange ruhte, strebt wieder der Sonne entgegen. Was versteckt war, kommt ans Tageslicht. Leben will sich ausdehnen und wachsen. Es will sich fortpflanzen und weitergehen. Daran können auch ein paar menschengemachte Verordnungen nichts ändern. Mag mancher glauben, alles sei unter Kontrolle — das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen, die letzte Szene ist noch nicht abgedreht, der Vorhang noch nicht gefallen.
Alles strebt hinaus an die frische Luft und atmet Frühlingserwachen. Wie gut die tiefen Atemzüge tun! Wie wohltuend ist es, den giftigen Lappen vom Gesicht zu nehmen und frei zu atmen! Sauerstoff fließt, die Lungen weiten sich, das Herz geht auf, das Gehirn wird wieder durchblutet und der Blick klar. Wir richten uns zu unserer vollen Größe auf, wischen uns den Schlaf aus den Augen und sehen uns an, was los ist.
Die Straßen sind leer, kein Leben ist auf den öffentlichen Plätzen. Die Orte, wo Menschen sich treffen können, sind geschlossen, unzählige Existenzen ruiniert. Die Alten sind an Einsamkeit gestorben, viele Jüngere haben sich das Leben genommen, die Kinder sind traumatisiert. Wenn sie sich ihr Leiden als Erwachsene nicht ins Bewusstsein rufen, werden sie ihr Trauma an die folgenden Generationen weitergeben, so wie es immer geschieht, wenn wir etwas nicht sehen wollen und wegdrängen. Es entwickelt ein eigenes Leben und gärt unter verschlossenem Deckel, bis es früher oder später explodiert.
Was wir verdrängen, bleibt an uns hängen
Letztlich kommt alles ans Licht. Es ist der natürliche Gang der Dinge, dass das Lebendige in Richtung Sonne wächst. Nichts kann diesen Prozess aufhalten. Wir können es lernen, eine Weile die Luft anzuhalten, uns dabei verkrampfen und verbiegen und so tun, als sei alles normal so — doch irgendwann müssen wir an die Oberfläche. Je früher wir das tun, desto besser ist es für uns.
Das Schlimmste, was wir uns selbst und unseren Nachkommen antun können ist, die Dinge nicht wahrhaben zu wollen.
Da ist etwas — eine unangenehme Sache, ein Problem, eine Störung, doch wir wollen es nicht sehen und versteifen uns darauf, in unserem Film zu bleiben, in den Bildern und Vorstellungen, in denen wir es uns bequem gemacht haben.
Im gemütlichen Sessel sitzen zu bleiben, macht nicht nur dick. Es tötet auf Dauer. Wer so tut, als sei da nichts, der ruiniert sein Leben. Bis es so weit ist und ein Tod kommt, der keine Erlösung bringen wird — niemand steht dort mit einem großen Schwamm und wischt die Tafel für uns ab —, macht er anderen das Leben schwer. Das im Verborgenen Gärende entwickelt unangenehme Gase. Es verpestet nicht nur den eigenen Körper, sondern auch die umliegende Luft. Es stinkt zum Himmel. Und wenn es dann explodiert, werden viele in Mitleidenschaft gezogen.
Die Geister, die ich rief
Wollen wir das? Eigentlich ist uns doch daran gelegen, ein möglichst gutes Leben zu führen und unseren Mitmenschen zumindest keine Qual zu sein. Wenn wir das so sehen, dann ist jetzt der Moment gekommen, in dem wir es anders machen können. Wir können uns unsere Wirklichkeit ansehen: das, was im Verborgenen wirkt. Da brodelt und dampft es. Etwas wühlt uns auf, frustriert uns, widert uns an, macht uns wütend, traurig, bringt uns außer uns. Das Herz klopft, die Galle steigt hoch, der Kamm schwillt. Wunderbar! Hier sind wir auf dem richtigen Weg. Denn hier spielt die Musik.
Was uns trifft, das betrifft uns. Hier will etwas ans Licht. Die Vorhänge geschlossen zu halten, macht es nur noch größer. Was wir verdrängen, verfolgt uns und geschieht uns als Schicksal. Wollen wir uns von etwas befreien, gibt es nur einen Weg: Den Vorhang beiseiteschieben und schauen, was da ist. Das macht Angst. Manchmal ist die Angst so groß, dass wir glauben, sterben zu müssen, wenn das ans Licht kommt! Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!! Doch es führt kein Weg daran vorbei:
Was wir unter Verschluss halten, das frisst uns von innen auf.
Ich habe das im eigenen Körper erfahren. Ich hatte Krebs.
Es kostet mich eine Menge Mut, in meinem Leben immer wieder dorthin zu schauen, wo es unbequem ist, und mich zu fragen, was ich denn mit der Sache zu tun habe, die mir da gerade passiert. Wie heißt mein Virus? Was vergiftet mich? Was ist mein Lockdown? Wie sieht meine Maske aus? Hinter welchen Mauern und Vorschriften verberge ich mich? Was ist mein Gefängnis? Immer wieder bietet das Leben Gelegenheiten, genauer hinzuschauen. Mein Job ist es, den Blick nicht abzuwenden und zu versuchen, die Geister aufzulösen, die ich unbewusst gerufen habe.
Denn ich habe sie gerufen, das ist sicher. Alles, was mir widerfährt, hat mit mir zu tun. Die Ereignisse in meinem Leben sind die aufgehende Saat, die ich oder meine Vorfahren in die Erde gebracht haben. Sicher hat auch der Wind einige Körner auf mein Feld geweht. Wenn es mir nicht gefällt, was da wächst, dann kann ich es nur immer wieder abmähen oder auszupfen. Bei den Disteln und Dornen jedoch, die über mich oder meine Familie ausgesät wurden, kann ich versuchen, sie an der Wurzel auszureißen, damit sie mich künftig in Ruhe lassen.
Am Wesentlichen vorbei
Dafür muss ich mich bücken und mir die Hände schmutzig machen. Ich riskiere, dabei zerkratzt zu werden. Es ist nicht einfach, sich von alten Schmerzkrusten und schwärenden Wunden zu befreien, die so unappetitlich sind, dass sie uns zum Würgen bringen. Die Nazis in unserer Familie sind so ein Beispiel. Hier riecht es besonders unangenehm. Viele Schichten haben wir über die alten Geschichten gelegt und massenweise Parfüm versprüht. Doch sie sind noch da. Nichts von dem wurde wirklich verarbeitet. Wir haben dieses Kapitel unserer Geschichte rauf und runter studiert und analysiert — doch das Wesentliche haben wir dabei vergessen: Heilung erfolgt nicht über den Kopf.
Soll das Körperliche heilen, dann muss zunächst das Geistige geheilt werden: die unterdrückten Gefühle und die geschundene Seele.
Dass es andersherum nicht geht, haben wir gerade deutlich vor Augen: Wir sind erneut ein Volk von Mitläufern und Denunzianten geworden. Der Faschismus ist nicht tot. Mehr denn je konzentriert sich die Macht in wenigen Händen. Was nicht in das Reinheitsprotokoll passt, wird verfolgt. Erneut muss das Entartete ausgemerzt werden. Es gibt nur eine Marschrichtung — Andersdenkendes wird diffamiert und darf nicht sein. Es wird nach der absoluten Kontrolle gegriffen. Wir befinden uns im totalen Krieg.
Dieses Mal mähen keine Panzer und Kanonen das Leben nieder, sondern Chemikalien und Strahlen. Das sieht nur von außen gesehen sauberer aus. Die Schäden sind noch verheerender. Alles wird uns genommen: unsere Rechte, unsere Freiheiten, unsere Gesundheit, unsere Würde, unser Bewusstsein, unser Menschsein. Das zu sehen ist ein ungeheuerlicher Schock. Es kann uns das Leben kosten, wenn wir das nicht annehmen. Das Entsetzen zieht durch uns hindurch wie ein Fegefeuer und setzt uns wahrhaftig Höllenqualen aus. Ob wir in diesem Feuer verbrennen oder es nutzen, um uns von den alten Lasten zu reinigen, liegt in unserer Hand.
Neues Drehbuch
Für diejenigen, die sich dieser Wahrheit gegenüber nicht verschließen, ist es an der Zeit, um Verzeihung zu bitten. Wir sind nicht schuldig für das, was unsere Vorfahren getan haben. Diese Verantwortung liegt allein bei ihnen. Sie bezahlen für ihr Handeln und für ihr unterlassenes Handeln. Wir können um Verzeihung dafür bitten, dass über diese Menschen so viel Leid in die Welt getragen wurde. Wir können um Verzeihung bitten, dass wir uns so lange dem gegenüber verschlossen haben und uns selbst und denen, die wir lieben, damit viel Leid zugefügt haben. Wir können jetzt ein Feuer anzünden und in ihm in symbolischer Weise alles verbrennen lassen, was wir bisher nicht haben sehen wollen.
Großzügig nehmen sich die Flammen des alten Schmerzes an. Lassen wir es geschehen. Tränen fließen. Es sind Tränen der durchlebten Trauer und der Erleichterung. Es ist vorbei. Es tut nicht mehr weh. Der Eiter ist abgeflossen. Die Wunden können heilen. Das Feuer kann uns wärmen und uns helfen, uns in der Dunkelheit zu orientieren. Anstatt Waffen mit ihm zu schmieden, können wir etwas Gutes zu essen kochen und unsere Nachbarn und Freunde dazu einladen. Mit offenen Blicken empfangen wir sie. Vielleicht geben wir ihnen die Hand oder nehmen sie in die Arme. Das Angstvirus ist verschwunden. Das Terrain ist bereinigt. Die Luft ist sauber. Die Gefahr ist gebannt.
Der alte Film ist vorbei. Das Programm ist aus. Wir sind frei. Die Fäden, die uns zurückgehalten und daran gehindert haben, voranzugehen ohne die Schuld, haben sich aufgelöst.
Die Vergangenheit lässt uns in Ruhe. Was nach Aufmerksamkeit und Anerkennung rief, konnte verschwinden. Wir müssen nicht ständig das Vergangene wiederholen, um es uns ins Bewusstsein zu rufen, sondern können unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten. Hier können wir einen neuen Film einlegen. Das Drehbuch dafür schreiben wir gerade selbst. An uns liegt es, ob es eine Tragödie wird oder eine Komödie, ein Kriegs- oder ein Liebesfilm, ein Drama oder eine Dokumentation darüber, wie Menschen es schaffen, friedlich zusammenzuleben, in Vielfalt geeint, um gemeinsam ein Stück Geschichte zu schreiben, in dem die Harmonie die Hauptrolle spielt.
Die Bilder frei lassen
Das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen. Wir sind dazu aufgerufen, all unseren Mut zusammenzunehmen, und die Verwirrungen und Verdrehungen in unserer Geschichte aufzulösen. Hierfür brauchen wir mehr noch als einen scharfen Verstand ein offenes, liebendes Herz. Denn nur die Liebe kann wieder zusammenführen, was so lange getrennt war. Nur sie kann verzeihen, was geschah. Laden wir sie ein in unser Haus. Jetzt, wo Angst, Hass und Misstrauen ausgezogen sind, gibt es viel freien Platz in uns. Sie kommt, wenn wir uns für sie öffnen, ganz einfach. Gleiches zieht Gleiches an. Wer Liebe sät, wird Liebe ernten.
Es bleibt uns, uns in unseren Frühlingsgarten zu setzen und den Pflanzen beim Wachsen zuzusehen. Das kann interessanter sein als mancher Kinofilm. Lassen wir dabei den Bildern freien Lauf und pressen die Dinge nicht in unsere engen Vorstellungen. Befreien wir sie aus den Korsagen und lassen sie uns überraschen. Wer weiß: Was uns vorher als das Allerletzte erschien, erweist sich so vielleicht als die größte Chance unseres Lebens. Um das zu wissen, bleibt uns nur eins: es auszuprobieren.
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