Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es eine Sache gibt, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet? Diese eine Sache ist nicht die Sprache — da sind uns, was Präzision, Melodie und Poesie angeht, viele Viecher überlegen. Es ist auch weder Verstand noch Intelligenz, Vernunft oder — um mal was Moderneres zu nennen — Kreativität. Von all dem haben die meisten Pflanzen und Tiere mehr als genug und die meisten Menschen viel zu wenig. Es geht auch nicht um so einen Quatsch wie „Leistungsbereitschaft“ — die hat niemand, weder Pilz noch Wildsau und auch nicht das sogenannte „Menschenmaterial“, außer auf dem Papier diverser Pläne von Wirtschaftsberatungs- und Kapitalanlagekonzernen.
Nein, was ich meine, ist: Angst. Und ich meine damit ausdrücklich nicht Furcht. Furcht ist etwas ganz Natürliches: Wenn ein Gewitter heranzieht oder man in die Nähe einer Autobahn gerät, kann etwas passieren. Also fürchtet man sich, weil das die Vorsicht und die Aufmerksamkeit erhöht und notfalls Flucht- oder Angriffsreflexe auslöst, die recht hilfreich sein können, wenn man nicht in einer temperierten Wohnzelle im zwanzigsten Stock eines Gated-Community-Hochhauses wohnt.
Ich hatte mal einen Kater, der zu jeder Jahreszeit nachts vom Fensterbrett nach draußen springen wollte, um dort herumzustrawanzen. Einmal lag unvermutet Schnee, und zwar so hoch, dass er bis ans Fenstersims heranreichte. Der Kater versank, ich musste ihn eilends und umständlich aus den Schneefluten in die Wohnung retten und mit einem Badetuch abfrottieren. Danach war er gelähmt vor Furcht und stank wie etwas, was niemand jemals riechen möchte. Dieser Gestank war eine natürliche Folge seiner Furcht und schützte ihn. Trotz seiner Lähmung wäre er so nämlich als Beutetier nicht in Frage gekommen — höchstens für ein Auto.
Es gibt dann noch den Schreck. Den kennt jeder. Wir machten uns als Kinder mal den Spaß, uns indianermäßig an eine Schafherde heranzuschleichen und einem Schaf mit der Hand auf den Hintern zu klopfen. Das gab ein staunenswertes Durcheinander und ein Mordsgeblök, bis der Schäfer oder sein Hund uns entdeckte. Da sind auch wir erschrocken, wie zuvor die Schafe, aber Angst hatten wir nicht, sondern liefen kichernd davon.
Angst ist etwas ganz anderes. Angst ist unnatürlich und muss erzeugt werden.
Ich komme darauf noch.
Mein Urgroßvater hatte keine Angst. Er entstammte der Gesellschaftsschicht, die man Proletariat oder treffender Lumpenproletariat nannte. Von „Beruf“ — wenn man das so nennen kann — war er Schweizer; das heißt: Er kümmerte sich um Rindviecher, gab ihnen zu essen und zu trinken, striegelte und unterhielt sie mit lustigen Zoten, wenn sie murrten, weil ihnen langweilig war. Er molk die Kühe, kürzte Stieren die Hörner und holte bei Bedarf auch mal sein Messer aus der Hosentasche, um einen Stier in einen Ochsen zu verwandeln. Die waren schon damals nicht nur auf dem Oktoberfest gefragt. Abends, nach zwölf, dreizehn Stunden Arbeit, nahm er seine Gitarre, zog durch die Wirtshäuser und verdiente sich als Volkssänger ein paar Pfennige dazu, mit Liedern, in denen er über Kaiser, König und sonstige Obrigkeiten herzog, dass die Schwarte krachte und die Bänke sich bogen. Heute ginge so etwas nicht mehr, aber das ist eine andere Geschichte.
Mein Urgroßvater hieß Alois Wohlmuth und war in der Familie meiner Mutter der Erste, der geheiratet hatte. Seine Frau hieß vorher Maria Hanrieder, sie hatten ein paar Kinder, aber wann die Eheleute genau geboren waren, weiß niemand, weil so was bei solchen Leuten nicht aufgezeichnet wurde. Als mein Urgroßvater 1918 aus dem Krieg zurückkam, waren die Zeiten noch schwerer als vorher; wieder zog er durch die Wirtshäuser von Hadern und Pasing und sang aufmüpfige Lieder. Dabei lernte er ein paar Leute aus besseren Häusern kennen, die sich „Rätesozialisten“ nannten und die Gesellschaft jetzt, wo der Kaiser und der König und sogar der Prinzregent weg waren, endlich so richtig neu gestalten wollten.
Zur Verteidigung der revolutionären Räterepublik gegen die verräterischen Konterrevolutionäre von der SPD in Berlin und ihre Freikorps, aus denen später SA und SS hervorgingen, kommandierte man meinen Urgroßvater, weil er sich da auskannte, dazu ab, Milch in die belagerte Stadt zu schmuggeln. Dabei wurde er erwischt und am 1. Mai 1919 nachmittags um drei in einer Kiesgrube bei Laim von sogenannten württembergischen Truppen standrechtlich erschossen. Seine Kinder verstreute man in ganz Bayern, nachdem man der Mutter bescheinigt hatte, sie sei als Kommunistenbraut zu verwahrlost, um sie großzuziehen.
Meine Großeltern, die in einem Erdloch in Aubing wohnten, hatten auch keine Angst und weigerten sich, Angst zu kriegen, als fünfzehn Jahre nach dem ersten Krieg eine neue Regierung daherkam und ihnen Angst machen wollte. Die ganze Gesellschaft, plärrte diese Regierung, das ganze Volk sei durchsetzt von Juden und Bolschewisten, die Deutschland zugrunde richten und vernichten würden. Seltsamerweise erklärten sie im nächsten Atemzug, diese Juden und Bolschewisten seien schwach, feig, verweichlicht und eigentlich gar nicht lebensfähig, weshalb man sie ausmerzen müsse.
Ähnlich war es mit den Russen: Die würde man von der Landkarte fegen, hieß es, und zugleich betonte man bei jeder Gelegenheit, wie mörderisch gefährlich sie seien.
Erkennen Sie das Paradoxon wieder? Es ist einer der Grundzüge der Angstmacherei: Der Feind ist ungeheuer gefährlich und stark, weshalb wir ihn niederringen müssen. Zugleich ist er minderwertig, schwach und hat keine Chance, selbst wenn er zwischendurch mal ganz Deutschland besetzt — der Endsieg ist auf jeden Fall gewiss. Fragen Sie mal heute hochnoble „Fachleute“ wie die Herren Masala, Kiesewetter oder Strack-Zimmermann, wie die das so sehen.
Und vor allem muss der Feind für die, die Angst vor ihm haben sollen, mehr oder weniger ein Phantom sein, ein Gespenst. Der Russe blieb im zweiten Krieg zumindest für die meisten Daheimgebliebenen bis 1945 beziehungsweise insgesamt unsichtbar, so wie heute übrigens auch. Die Juden und Bolschewisten sah man zwar, aber man erkannte sie nicht, weil sie ausschauten wie normale Leute. Drum versuchte man mit grotesk verzerrten Karikaturen Angst zu erzeugen, so wie heute übrigens auch.
Oder glauben Sie, die Klima- und sonstigen Leugner, Querdenker und Verschwörungstheoretiker beziehungsweise neuerdings Verschwörer schauen wirklich so aus, wie sie in der Zeitung zu sehen sind? Ja? Gratuliere, dann hat man Ihnen schon mal sehr erfolgreich Angst gemacht.
Warum macht man Menschen Angst? Ich will das mal an einem Vergleich zu erläutern versuchen: Stellen Sie sich ein Huhn vor, das friedlich in einer Wiese herumstolziert und Ihnen nicht viel bringt, außer vielleicht alle drei Tage ein Ei. Renitent und eigensinnig ist es auch noch: Wenn Sie es in den Stall treiben möchten, verliert es sofort jede Lust, diesen Stall aufzusuchen. Dann rennen Sie längere Zeit im Kreis herum, hören sich das empörte Gegacker an und kommen vielleicht eines Tages zu dem Schluss, dass ein Ei alle drei Tage diesen Zirkus nicht wert ist.
Sie könnten das Huhn nämlich auch abkrageln, rupfen, ausnehmen, in einen Topf schmeißen und mit Pfeffer, Salz, Knoblauch, Kümmel und Wurzelgemüse ein paar Stunden kochen. Das bringt viel mehr. Und wenn Sie recht schlau sind, könnten Sie die Brühe mit viel Salz einkochen, trocknen, in Stücke schneiden und als Suppenwürfel verkaufen. Das ist dann schon ein Geschäft.
So funktioniert das auch mit der Angstmacherei. Gesotten und in Stücke geschnitten wird dabei zwar nur alle paar Jahrzehnte, wenn ein Krieg nötig und möglich ist, weil nicht mehr genug Leute am Leben sind, die den letzten Krieg noch erlebt haben. Aber gerupft und ausgenommen wird zumindest metaphorisch allüberall, wo ein sogenannter Kapitalismus im Gange ist und der Mensch ebenso wie das Huhn deshalb einen ziemlich genau berechenbaren Wert hat. Den hat er aber nur, wenn er kuscht, wenn man ihn ununterbrochen terrorisiert und derart mit Angst vollpumpt, dass man ihn gar nicht mehr schlachten muss, um ihn zu verwerten. Oder eben nur alle paar Jahrzehnte, wie gesagt.
Wie aber erzeugt man Angst? Das ist aufwendig, aber gar nicht so schwer, weil es selbst dann funktioniert, wenn einzelne Menschen es durchschauen. Oder wenn es fast alle durchschauen. Angst haben sie trotzdem, weil Angst blind macht. Und dumm, und zwar gewaltig dumm.
Eigentlich braucht man dazu nur eine genügend große Masse Menschen. Denen erzählt man irgendeinen fürchterlichen Unsinn über eine fürchterliche Gefahr, die ganz furchtbar droht und ganz plötzlich kommt oder unsichtbar ist oder beides. Und schon fügen sie sich den absurdesten Befehlen — man muss nur behaupten, wenn sie das täten, seien sie „sicher“. Dass sie ihr ganzes Leben noch nie „sicher“ waren, allem Gehorsam zum Trotz, fällt ihnen nicht auf, weil sie Angst haben und Angst nun mal blind und dumm macht und das Gedächtnis löscht.
Manchmal läuft das nicht so wie gedacht. Als ich neunzehn war, lief im Fernsehen ein Film über einen Atomkrieg. Vor Atombomben hatte damals so gut wie jeder Angst, aber eher abstrakt. In diesem Film sah man, wie so was wirklich aussehen könnte, wie Menschen und ganze Städte zerfetzt, zermatscht, versaftet, in Rauch, Dampf und Asche zersprengt werden, wie Feuerstürme durch eine Hölle jagen, die gerade noch eine beschauliche Kleinstadt war, wie hinterher — nach ein paar Stunden oder Tagen — apathische Krüppel durch eine Welt humpeln, stolpern und kriechen, in der sie nur noch eines können: möglichst bald sterben.
Für mich war die Welt danach eine andere, aber nicht aus Angst.
Ich weiß nicht, wie es anderen ging — ich empfand das dringende Bedürfnis, herauszufinden, weshalb diese Leute, die sich als Führer und Herrscher aufführten, die Welt oder wenigstens möglichst viele Menschen derart brutal vernichten wollten.
Und ich wollte das mit allen Mitteln verhindern. Da ging es mir übrigens so ähnlich wie dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der am Tag vor dem Film noch geglaubt hatte, der Atomkrieg gegen den Russen könne und müsse gewonnen werden, und am Tag danach so deprimiert war, dass er von diesem Tag an nur noch Abrüstungsverhandlungen führen wollte, um das grauenhafte Scheißzeug, mit dem seine Militärindustrie Milliarden scheffelte, von diesem Planeten zu entfernen.
Das wollten damals auch viele andere Leute. Da hatte die Angst mal was Positives bewirkt. Aber glauben Sie mir als Historiker: Das kommt so selten vor, dass mir kein zweites Beispiel einfällt, und es verfliegt sehr schnell, weil die Angst zu Verstand, Vernunft und Geist keinen Zugang findet. Wissen Sie noch, wie lange es nach dem Zweiten Weltkrieg gedauert hat, bis aus Franz Josef Strauß und seinem Spruch „Wer in Deutschland noch mal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll der Arm abfallen“ der erste Kriegsminister einer neuen Bundeswehrmacht geworden war, der stante pede Atomwaffen für seine Armee forderte?
Vor allem lernen auch die Mächtigen, die Suppenköche aus solchen Ausrutschern. Wenn Hollywood so was bewirken kann, sagten sie sich, dann lässt sich das auch für andere Zwecke nutzen. Fortan sahen wir im Blockbuster-Kino und Fernsehen keine atomaren Massenmorde mehr, sondern neue Feinde: finstere Terroristen meist arabischer oder südamerikanischer Provenienz, grauenhafte Naturkatastrophen und schreckliche Krankheitserreger, die in wenigen Tagen ganze Völker dahinraffen. Zählen Sie gerne ein paar Titel auf, vielleicht bemerken Sie was.
Und vor allem sahen wir Helden, immer mehr und immer bessere, die sich tapfer dem Feind entgegenwarfen: zu Robotern hochgerüstete Soldaten, kahlgeschorene Einzelkämpfer, geniale Wissenschaftler und mutige Führer, die ohne Rücksicht auf sich oder irgendwas gegen alle Widerstände unpopuläre, aber nötige Entscheidungen trafen.
Das Ergebnis ist wiederum paradox: Fragen Sie mal herum, wovor die Leute Angst haben. Ich habe das selbst probiert, und in den meisten Fällen waren das vor allem zwei Dinge: nicht unbedingt der Russe, der ja immer noch im Osten lauert und uns angreifen will, wie er das 1942 schon mal getan hat. Zum Glück kommt der aber erst in fünf Jahren, wenn wir genug Waffen haben, „kriegstüchtig“ sind und keine Angst mehr haben müssen. Und schon gar nicht ängstigt sie der atomare Holocaust, der noch nie so unmittelbar bevorstand wie heute. Sondern: Kohlensäure und eine Erkältungskrankheit.
Und jetzt fragen Sie sich mal, wieso Tiere und Pflanzen keine Angst haben: So dumm sind die halt einfach nicht. Und ohne dass ich meinen Großeltern und Urgroßeltern die Menschlichkeit absprechen möchte: So blöd wären die auch nicht gewesen.
Weil sie das Leben und die Welt um sich kannten. Weil sie wussten oder wenigstens ahnten, wer sie rupfen und ausnehmen wollte, wen sie wirklich fürchten und wem sie deshalb Widerstand leisten mussten. Vielleicht ist es das, diese Ahnung vom Leben und der Welt und den Zusammenhängen, was den meisten Menschen fehlt und was sie so anfällig macht für die freiwillige Verwandlung in einen Suppenwürfel.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien unter dem Titel „Die Angst als Herrscher“ zuerst auf Radio München.
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