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Angriffe auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Angriffe auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Die von links wie rechts geschürten „Identitätsillusionen“ zerstören das, was Gesellschaft ausmacht. Ein politischer Essay.

Gerechtigkeit erwächst aus solidarischen Gemeinschaften

Gerechtigkeit ist ein wesentlicher ethischer Anspruch, den wir an ein politisches Gemeinwesen stellen. Dieser Anspruch betrifft in einer modernen Demokratie die gesetzgebende, die rechtsprechende und die ausführende Gewalt gleichermaßen.

Doch über das geschriebene Recht und seine Manifestation in den Organen und Abläufen des Staates hinaus, lebt eine politische Gemeinschaft auch von dem tieferen Bedürfnis der Menschen nach gerechten Verhältnissen und von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, nicht nur egoistische Eigeninteressen durchzusetzen, sondern auch das Wohl der Anderen und das Gemeinwohl zu verfolgen.

Es ist eine interessengeleitete Unterstellung der Eliten, dass erst die mäßigende und züchtigende Macht eines Staates das Motiv der Gerechtigkeit ins Spiel bringt, ohne welches die Einzelnen sich im Krieg aller gegen alle befänden, da die Menschen in ihrem Wesen dumm und böse seien. (Vgl. Rainer Mausfeld: Die Angst der Machteliten vor dem Volk.)

Der Staat als Zuchtmeister?

Diese staatsphilosophische Annahme steht in der Tradition von Hobbes, der in seinem Werk ›Leviathan‹ die Gründung des Staates als Vergesellschaftung von egoistischen Einzelkämpfern unter der wohltuenden Repression einer allmächtigen Regierung erzählt. So plausibel sich dieser Übergang von einem wilden Naturzustand, wo der Mensch des Menschen Wolf war, zu einer friedlichen, zivilisierten Zeit auch anhört, so problematisch sind doch die Grundannahmen: Der Mensch sei in seinem Wesen Egoist und soziale Beziehungen hätten implizit oder explizit immer den Charakter des Kriegerischen, da jeder ausschließlich auf den eigenen Vorteil aus sei.

Staatliche Gemeinschaft wäre demnach eine notwendige Zwangsform, welche die solitären Egoisten miteinander versöhnt. Dieser Ansatz verkennt aber die anthropologische Einsicht, dass der Mensch nicht nur Einzelner, sondern immer auch ein Sozialwesen ist, dass er immer schon Gemeinschaften entstammt und in diesen existiert. Das heißt, die Frage nach gerechten Verhältnissen für alle wird nicht erst durch staatliche Verfassungen hervorgebracht, sondern diese Verfassungen antworten auf das vorausliegende elementare Gerechtigkeitsbedürfnis der sozialen Gemeinschaften.

Mehr noch: Sollten sich die Eliten oder Institutionen anmaßen, ihre Macht bloß für die eigenen Interessen und nicht dem Allgemeinwohl gemäß zu nutzen, kann das tiefere Gerechtigkeitsgefühl der Menschen zu einer politischen Empörung führen und entsprechenden Druck auf die Regierenden aufbauen. Hannah Arendt weist in ihrem Essay über ›Macht und Gewalt‹ darauf hin, dass es nicht die Verletzung der Egoismen ist, die politisches Engagement hervorbringt, sondern die Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls von Betroffenen wie Nicht-Betroffenen.

Aus gutem Grund verbindet das Motto der Französischen Revolution ›Liberté, Egalité, Fraternité‹ deshalb die Freiheit und die Gleichheit mit dem Moment der Brüderlichkeit, also einer vorpolitischen Gemeinsamkeit, aus der Mitempfinden, Gerechtigkeit und Solidarität folgen. Würde die Demokratie nur aus Freien und Gleichen bestehen, könnte eine Mehrheit mit gleichen Interessen gnadenlos auf Kosten einer Minderheit regieren. Es ist das Moment der Brüderlichkeit, das dem Einzelnen den Gerechtigkeitssinn und den demokratischen Prozessen die Verpflichtung auf das Allgemeinwohl und den Schutz der Minderheit einschreibt.

Ohne die Rückbindung an elementare Brüderlichkeit und den Gerechtigkeitsauftrag verkommt der demokratischen Staat zu einer kalten Mehrheitsmaschine, wo die Zufriedenstellung einer Mehrheit zu Lasten der Minderheit als Gerechtigkeit ausgegeben wird.

Entsolidarisierung und die Stunde der Rattenfänger

Die gegenwärtige politische Lage trägt Momente dieser politischen Verfallsform: Eine als ›Modernisierungsverlierer‹ diffamierte Gruppe von Menschen ohne Perspektive und ohne eigene Stimme im politischen Diskurs macht zumindest auf dem Weg der Wahlurnen auf sich aufmerksam und spült zur Bestürzung und Überraschung der propagandistisch eingelullten Mehrheit (vgl.: Rainer Mausfeld, Warum schweigen die Lämmer?) Figuren mit unklarer Agenda in Parlamente und höchste Regierungsämter.

Fatal ist in diesem Zusammenhang, dass der öffentliche Diskurs dies nicht zum Anlass nimmt, ernsthaft nach den Nöten dieser Gruppen und den ursächlichen sozialen Verwerfungen zu fragen, sondern in einer perfiden Verdrehung dient genau das Kreuz in der Wahlkabine dazu, die Sorgen und Bedürfnisse dieser Menschen als illegitim und sie selbst als unerwünschte Figuren im politischen Raum darzustellen, eben weil sie bspw. AfD-Wähler sind, womit sie sich ja scheinbar selbst disqualifizieren.

Diese Gerechtigkeitsproblematik, die aus einem blinden Fleck der demokratischen Parteien herrührt, ist aber nun gerade der Nährboden für populistische Angebote von rechts, die durch gezielte sprachliche Provokationen davon profitieren, dass brennende sozialpolitische Fragen im politischen Raum tabuisiert oder mit einem propagandistischen Spin versehen werden.

Neben den konkreten prekären Lebenslagen wird den ›Modernisierungsverlierern‹ vor allem ihr Bedürfnis nach ökonomischer Sicherheit, sozialer Geborgenheit, regionaler und kultureller Beheimatung zum Verhängnis: Die postmoderne offene Gesellschaft fordert den entwurzelten und kreativen Selbstunternehmer, der die Unverbindlichkeit als Ungebundenheit genießt und beruflich flexibel zwischen Standorten nomadisiert. Oder er arbeitet via Internet – dank interkultureller Kompetenz – mehrsprachig in multinationalen Projektteams, zusammengespannt durch den global harmonisierten Workflow in der universellen Grammatik des neoliberalen Projektmanagements. Sein politisches Engagement vollzieht sich intellektuell und symbolisch kanalisiert und in seinem Konsumverhalten weiß er Hedonismus mit politischer Korrektheit zu verbinden.

Der Modernisierungsverlierer dagegen raucht, isst Fleisch, spricht politisch inkorrekt und versteht nicht, warum nach vielen Jahren der Austeritätspolitik, Verfall der öffentlichen Infrastruktur, dem Verkümmern des Sozialstaates und Entsolidarisierung ausgerechnet Banken gerettet oder Kriege geführt werden müssen und warum plötzlich Willkommenskultur herrscht und Milliarden für die Integration für Flüchtlingen da sein sollen.

Ideologische Lockangebote von rechts

Ein Orientierungsangebot in den Zeiten radikaler Unsicherheit bietet das rechte Konzept des Völkischen. Dieses setzt bei dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer sinnstiftenden Gemeinschaft an, aber wendet es ins Ideologische und Instrumentelle. Das heißt, das Moment der Brüderlichkeit, welches Gemeinsinn, Solidarität und Gerechtigkeit gewährleisten könnte, dient bloß dazu, Menschen zu ködern, um sie für den eigenen Willen zur Macht zu missbrauchen. Die AfD verfolgt hinter der Fassade der Rückbesinnung auf nationale Gemeinschaften letztlich eine zutiefst neoliberale Agenda, deren sozialpolitische Folgen zulasten der eigenen Klientel gehen würden. Dies ist nicht zuletzt im Gespräch von Sarah Wagenknecht mit Frauke Petry sehr deutlich geworden.

Terror der Identität

Der ideologische Begriff des Volkes, wie ihn etwa auch die sogenannte Identitäre Bewegung verwendet, ist politisch wie theoretisch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Das Problem liegt weniger in der typisierenden Verwendung des Konzepts, wie man es ja – durchaus humorvoll – auch auf landsmannschaftliche Herkünfte bezieht: Rheinländern, Schwaben, Bayern und anderen werden oft Klischees zugesprochen, die dann als Ausgangspunkt von Gesprächen herhalten können und schließlich durch die jeweilige Person bestätigt oder widerlegt werden.

Philosophisch gesprochen handelt es sich hierbei um einen hermeneutischen Prozess, also um ein Verstehen, das von einem bewusst unscharfen Vorverständnis ausgeht und sich auf Vertiefungen und Differenzierungen freut. Problematisch ist die Behauptung einer völkischen Identität, etwa eines Wesens des Deutschen, insbesondere dann, wenn es mit Abwertungen gegenüber anderen Nationen und deren Vertretern verbunden wird. Die Vorstellung eines unveränderlichen und eindeutigen Nationalcharakters, der in allen Bürgern am Werke sei, ignoriert die Geschichtlichkeit und Vielgestaltigkeit politischer Gemeinschaften. Nationen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sind eine historische Folge kriegerischer Konflikte oder politischer Gründungsakte, denen stets etwas Zufälliges innewohnt.

Dabei kann es sein, dass kulturelle Gemeinsamkeiten, religiöse Überzeugungen oder eine geteilte Sprache ein Bindeglied bilden, muss es aber nicht. Wer also eine völkische Identität behauptet, homogenisiert das Vielgestaltige und Unähnliche. Ich möchte dies den Terror der Identität nennen, die Gleichmacherei durch Zerstörung oder Aussonderung des Abweichenden. Verbrecherisch am deutschen Nationalsozialismus ist insofern weniger die Bezugnahme auf das Volk als einer Gemeinschaft als vielmehr die ideologische Aufladung dieser vorpolitischen Sphäre mit Konzepten von Nationalcharakter und Rassenlehre im Sinne eines Terrors der Identität.

Während das Grundgesetz der Bundesrepublik das Volk als Souverän und Subjekt postuliert: ›Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.‹, sah es bei den Nationalsozialisten genau umgekehrt aus: Das Volk ist Objekt, Projekt und Produkt gewalttätiger Formungen durch eine Machtclique in einem autoritären Staatsapparat: Holocaust, Eugenik, Euthanasie, Vertreibung, Verfemung, Zensur, Bücherverbrennungen, Propaganda, Gleichschaltung von Wissenschaft, Medien und Kultur, waren biopolitische und sozialtechnologische Instrumente zur Herstellung von Homogenität durch Tilgung von Vielheit.

Dabei lag die Definitionshoheit dessen, was diese Identität ausmachte, gerade nicht beim Volk, sondern in den Händen der Ideologen. Identität, im Sinne von Einheitlichkeit, wurde nicht in der bestehenden politischen Gemeinschaft aufgesucht, sondern gnadenlos interessengeleitet konstruiert. Damit ist ein weiteres Problem verbunden: Die Erschleichung einer Legitimation durch die Behauptung, ein Sprachrohr des Volkswillens zu sein. Populisten erheben sich mit markigen Worten zu Anwälten der Ausgegrenzten und sprechen dann als Auguren vermeintlich ›im Namen des Volkes‹. Anders aber als ein Richter tun sie dies nicht aus einer demokratisch kontrollierten und legitimierten Amtsrolle heraus, sondern in einer übergriffigen Vereinnahmung, welche gar nicht mehr an einem vielstimmigen demokratischen Aushandlungsprozess interessiert ist.

Gegen Kritik immunisiert man sich dann dadurch, dass man demokratischen Gegenrednern unterstellt, sie seien ›Volksverräter‹. Damit aber erweist sich das völkische Konzept als gewaltsam homogenisierte Identität, als ein Machtmittel der Wenigen gegen die Vielen.

Identitätspolitik und der Terror der Differenz

Eine andere Strategie zur Brechung der Macht der Vielen besteht im Terror der Differenz. Divide et impera! Teile – oder besser: spalte! - und herrsche! Da die Macht der Vielen aus ihrer Brüderlichkeit erwächst und zu einem einvernehmlichen Handeln führen kann, hätten die Machteliten dem wenig entgegenzusetzen. Deshalb säen sie Zwietracht und schüren Konflikte zwischen den Unterworfenen, damit diese nicht zueinander finden, um gemeinsam ihre demokratischen Ansprüche durchzusetzen. Geheimdienste, Stiftungen und Think Tanks setzen systematisch auf die Kraft der Zersetzung.

Im geostrategischen Interesse etwa werden regionale Konflikt zwischen ethnischen und religiösen Gruppen forciert, um in widerspenstigen Staaten einen ›Regime Change‹ herbeizuführen, damit der Zugriff auf Rohstoffe und die Errichtung von Militärbasen möglich wird. Die militärischen Eingriffe lassen sich der heimischen Öffentlichkeit sogar moralisierend als ›humanitäre Kriege‹ verkaufen. Nicht selten hinterlassen solche Interventionen dann statt der versprochenen Demokratien ›failed states‹, gescheiterte Staaten, in denen trotz etablierter Institutionen kein Gemeinwesen zustande kommt, das diese Strukturen trägt und mit Sinn erfüllen kann.

Als Variante des Soft-Terrors erscheint die Fragmentierung von Gesellschaften in identitätspolitisch bewirtschaftete Gruppen. Dies ist insofern perfide, weil sich der spaltende Machtwille hinter Wissenschaftlichkeit und Moralismus verbergen kann, und damit das Gerechtigkeitsbedürfnis der Menschen ebenso ausbeutet, wie die völkische Ideologie den Gemeinschaftssinn.

Unter den strategischen Vokabeln von „Vielfalt“, „Heterogenität“ oder „Diversity“ wird im sozial-kulturellen Bereich das Trennende und die Trennung kultiviert. Den meist wohlmeinenden Akteuren wird damit ein sezierender Blick eingepflanzt und ein Sprachkorsett auferlegt, dem sie sich einerseits unterwerfen müssen, das ihnen andererseits aber die Möglichkeit gibt, selbst andere zu unterwerfen.

Der programmatische Hintergrund dieser Machtpraxis wurde insbesondere von französischen Modephilosophen des Poststrukturalismus geliefert. Im Namen von „Diskurstheorie“ und „Dekonstruktion“ wurde von diesen nicht nur die Philosophiegeschichte abgearbeitet (und gewissermaßen entsorgt), sondern auch jegliche Voraussetzungen für linke Widerstandspolitik und einen humanistischen Gegenentwurf zum Bestehenden zerlegt. Modelle von Wahrheit, Aufklärung, Gerechtigkeit, Vernunft, Emanzipation, Kritik, Ethik, Menschenrechte und sogar die Fähigkeit des Menschen als Person oder Gemeinschaft Urheber von politischen Veränderungen sein zu können, werden radikal bestritten. Für Michel Foucault etwa sind dies keine unumstößlichen Konzepte, sondern bloß zufälliger Ausdruck von anonymen Machtdiskursen, die den Menschen steuerten, ohne vom Menschen gesteuert zu sein.

So hilfreich diese Analysen sein mögen, um die verborgenen Interessen hinter wohlklingenden Begriffsfassaden auszumachen, so vernichtend sind die Kernthesen: Es gibt keine Wahrheit. Es gibt keine Vernunft. Es gibt kein Subjekt. Es gibt keinen Menschen. Es gibt keine Aufklärung. Es gibt keine Dialektik. Es gibt keine Geschichte, die wir zum Guten wenden können. Wir alle sind bloß Marionetten, die von der unsichtbaren Hand des Diskurses gespielt werden.

So abstrus diese Thesen für Außenstehende klingen mögen, für die Wissenschaftlergeneration, die momentan die geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehrstühle besetzt, haben sie - trotz der Behauptung, es gäbe keine Wahrheit - unumstößliche Geltung. Inwieweit die breite und tiefe Wirkung dieser Programme auch eine Folge von interessierter Wissenschaftspropaganda durch Geheimdienste und Konzerne ist, wäre eigens zu untersuchen. In Summe jedenfalls ist damit der Boden für den Siegeszug des Neoliberalismus bereitet worden. Bernd Stegemann bringt es im ›Gespenst des Populismus‹ auf den Punkt:

„Die Linken sitzen offensichtlich in einem Kerker, den das postmoderne Denken für sie gebaut hat. Ob die Dekonstruktion linken Denkens in der Realität tatsächlich so planvoll ablief, wie der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch „D’une révolution conservatrice“ beschrieben hat oder nicht, seine Zuspitzung bringt die Dimension des Problems auf den Punkt: ‘In den Achtzigern haben linke Neokonservative mit Investorengeld Konferenzen organisiert, Seminare gegeben und mediale Debatten angezettelt mit dem Ziel, die Grenze zwischen rechts und links zu verwischen. Das war eine konzertierte Kampagne. Sie wollten all das abschaffen, worauf sich linkes Denken gründet: den Begriff der Klasse, die soziale Determination, die Ausbeutung der Arbeitskraft etc. Heute sehen wir, dass sie zum größten Teil erfolgreich waren.‘“

Exemplarisch soll im Folgenden der Soft-Terror der Differenz am Beispiel des Gender-Programms verdeutlicht werden. Ausgangspunkt ist eine durchaus zutreffende Feststellung, jene nämlich, dass Geschlecht im sozialen Raum nicht allein durch biologische Befunde erklärt werden kann. So gibt es gesellschaftlich formulierte und historisch wandelbare Geschlechterrollen, die – wenn auch nicht ausschließlich – Ausdruck von Macht sein können. Im Sinne des oben dargelegten Terrors der Identität können sie auf den Einzelnen repressiv wirken. Der Prä-Gender-Feminismus formulierte daraus ein Emanzipationsprogramm, das soziale Zuschreibungen und Vorschriften zurückwies und den Frauen damit die Deutungs- und Gestaltungshoheit über ihre Weiblichkeit zurückgab.

Der Genderismus aber radikalisiert diesen Ansatz im Dunstkreis der Postmoderne, indem das Geschlecht komplett als Produkt gesellschaftlicher Konstruktionen betrachtet wird. Damit verlässt er den Bereich der Theorie, also der Erkenntnis, dessen was der Fall ist, und wird zu einem gesellschaftspolitischen Programm, das etwa die Erkenntnisse der Biologie und anderer Wissenschaften insgesamt für ungültig erklärt, wenn es um Geschlechterfragen geht. Dabei wäre eine Integration der Ansätze, also die Realität und Sozialität des Geschlechtes, relativ schnell zu leisten, wenn man von gesellschaftlichen Interpretation anhand natürlicher Grundlagen spräche. Diese Leugnung einer geschlechtlichen Existenz, die man zwar deuten, aber nicht selbst erschaffen kann, hat weitreichende Konsequenzen.

  1. Wenn Geschlecht keinen Anhaltspunkt mehr im Sein der Menschen hat, sondern nur gesellschaftlich produziert wird, kann es beliebig ausgestaltet und pluralisiert werden. Die einschlägigen Geschlechter des Genderismus gehen in die Tausende und sind letztlich nur begrenzt durch die Anzahl der Menschen auf der Erde.

  2. Die Überführung der Geschlechtlichkeit in die virtuelle Welt sozialer Zeichen führt zu einer Entfremdung von der leiblichen Realität des eigenen Geschlechts, das ja nicht nur biologischer Befund ist, sondern auch eine Weise, wie wir dem anderen und uns selbst begegnen.

  3. Die biologische Dualität von Mann und Frau, die selbst im Tierreich Zwischenformen und homosexuelle Beziehungen kennt, trägt anthropologisch gewendet immer eine Beziehungsqualität in sich. Als einzelne Person bin ich geschlechtlich auf den erotischen Anderen und die generationale Gemeinschaft verwiesen. Die ›Brüderlichkeit‹ der Aufklärung spielt metaphorisch mit der Verwandtschaft der Menschen einer Generation, die ihre Existenz allesamt nicht einer sozialen Konstruktion, sondern dem realen Geschlechtsverkehr ihrer Eltern verdanken. Durch den Genderismus werden im Namen einer vermeintlichen Freiheit die sozialen Bindungen zerschlagen und wird den Menschen der Rückhalt gegen den Zugriff von Macht und Ausbeutung entzogen.

Erneut Stegemann:

„Auch die Linken fallen noch immer auf den Zirkelschluss der postmodernen Freiheit herein: Das Kapital arbeitet an der Verflüssigung aller Verhältnisse, um möglichst ungehinderten Zugang zu Märkten und Ressourcen zu haben, und zugleich entsteht die Globalisierung als ein Projekt des grenzenlosen Kapitals. Nun kommt eine Theorie aus den Geisteswissenschaften dazu und beschreibt die Globalisierung nicht als ökonomisches Projekt, sondern als willkommene Dekonstruktion aller Bindungen – wie Identität, Nation, Geschlecht oder Ethnie – und verleiht damit der Deregulierung des Kapitals die höheren Weihen einer globalen Freiheitsbewegung.“

Zum einen wird das stärkende Moment einer menschheitlichen Verwandtschaft getilgt, zum anderen werden im Gegenzug unzählige Mikrokonflikte als Ersatzschauplätze zur Erringung von „Gerechtigkeit“ geschaffen. Welche politische Bedeutung hat zum Beispiel die folgende Meldung: Lesbische Frauen verdienen nach einer australischen Studie um 13 Prozent mehr als heterosexuelle Frauen?

Statt die Prozentzahlen des Einkommens der Gendertypen zu registrieren, zu vergleichen und ggf. zu korrigieren, stünde doch eigentlich die Frage auf der Tagesordnung, welche verheerenden Folgen der Neoliberalismus global und lokal anrichtet, und wie ungerecht sich Macht und Wohlstand auf einen geringen Prozentsatz der Weltbevölkerung konzentrieren.

Je stärker die wenigen Mächtigen die Vielen aber in Mikrokonflikte verstricken und gegeneinander ausspielen, durch Sprachpolitik in der Artikulation steuern und in jeder nur denkbaren Hinsicht „Unterschiede“ zwischen den Unterworfenen hervorbringen, umso mehr verschwindet das Solidaritäts- und Gerechtigkeitsmotiv des Gemeinsamen.

Der Genderismus bewirkt eine nachhaltige Irritation der politischen Gemeinschaft in Denken, Handeln und Sprechen. Die beziehungsstiftende und stärkende Kraft der geschlechtlichen Existenz wird durch Verunsicherung und Misstrauen vergiftet, die Bindung an Gemeinsames aufgelöst und die Menschen werden zu orientierungslosen Genderpartikeln isolisiert.

Welche Folgerungen sind aus diesen Abwägungen zu ziehen? Es ist deutlich, dass an beiden Seiten der Achse von Identität und Differenz politische Gefährdungen lauern. Das demokratische Gemeinwesen und seine Bürger leben von der produktiven Dialektik zwischen Gemeinschaft und Individuum, von Identität und Differenz. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Andreas Nölke hat seiner Analyse ›Grundlinien einer linkspopulären Position‹ eine ›Repräsentationslücke‹ im deutschen Parteiensystem ausgemacht und sieht die ›Notwendigkeit einer linkspopulären Gruppierung‹. Der mehrfach zitierte Bernd Stegemann möchte diesen blinden Fleck der Linken durch eine Wiedergewinnung des Klassenkonzeptes füllen.

In welcher Form auch immer: Es sollte dringend nach einer vertretbaren Form des altbekannten Brüderlichkeitsmotivs als Horizont und Bedingung von Gerechtigkeit gesucht werden, damit weder der Terror der Identität noch derjenige der Differenz die Herrschaft der Wenigen über die Vielen zementiert.

Wir brauchen keinen Kampf der tausend Partikularinteressen gegeneinander. Wir brauchen eine Auseinandersetzung um das Oben und Unten in der Gesellschaft, um Arm und Reich und die Herrschaft der Wenigen über die Vielen, die dringend auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt gehört.


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