Tilo Gräser: Kritiker wie der Rechtsanwalt Rolf Gössner warnen davor, dass durch die Ermächtigungen im geänderten Infektionsschutzgesetz die verfassungsmäßige Grundstruktur der Bundesrepublik mit der Gewaltenteilung und dem Föderalismus untergraben wird. Der ehemalige Polizist und Bundestagsabgeordnete Manfred Such sieht einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung und beruft sich auf Absatz 4 des Artikels 20 des Grundgesetzes, der in dem Fall Widerstand erlaubt. Wie schätzen Sie das ein?
Prof. Dr. David Jungbluth: Ich teile die Auffassung, dass die Ermächtigungen im geänderten Infektionsschutzgesetz die Grundstruktur des Grundgesetzes untergraben, und zwar genau aus den vom Kollegen Gössner genannten Gründen, also im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung:
Zum einen in horizontaler Ebene, da jetzt wesentliche Befugnisse auf die Regierungsebene verlagert worden sind. Es hat sich in meinen Augen schon vor der Gesetzesänderung die Frage gestellt, inwieweit die Übertragung auf Landesregierungen von so einschneidenden und umfassenden Befugnissen, wie sie das Infektionsschutzgesetz enthält, dem Grundsatz des „Vorbehalt des Gesetzes“ entspricht.
Dieser beinhaltet nach der sogenannten Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts, dass Maßnahmen, die in besonders intensiver bzw. wesentlicher Weise in Grundrechte eingreifen, immer einer unmittelbaren parlamentarischen Gesetzesgrundlage bedürfen. Diese Wesentlichkeitsgrenze ist nach meinem Dafürhalten spätestens nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes überschritten, da nun in dessen § 5 Absatz 2 IfSG das Bundesministerium für Gesundheit für den Fall der Feststellung einer epidemischen Lage quasi eine Blankoermächtigung ausgestellt bekommt, was sich meiner Ansicht nach insbesondere in § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG manifestiert.
„Alle Grundrechte betroffen“
Der andere Aspekt, den Kollege Gössner angesprochen hat, ist der des Föderalismusprinzips, ausdrücklich verankert in Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Dieses zählt damit zu den sogenannten Staatsstrukturprinzipien der Bundesrepublik Deutschland, die unabänderbar sind, also noch nicht einmal durch eine das Grundgesetz ändernde Mehrheit des Bundestages aufgehoben werden können (siehe Art. 79 Abs. 3 GG).
Da durch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu solch umfassenden Befugnissen ermächtigt worden ist, hat dies zur Konsequenz, dass das föderalistische Prinzip infrage gestellt, beziehungsweise in diesem Fall sogar weitestgehend obsolet gemacht wird, wenn das Bundesgesundheitsministerium von dieser neu geschaffenen Befugnis Gebrauch macht. Und zwar deshalb, weil Gesetze, auch wenn es Bundesgesetze sind, prinzipiell von den Ländern auszuführen sind (vgl. Art: 83 ff. GG). Somit ist dem Kollegen Gössner auch unter diesem Aspekt zuzustimmen, dass das föderalistische Prinzip hier mehr oder weniger außer Kraft gesetzt wird, was insbesondere deswegen so fundamental erscheint, weil bei Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz eben eine umfassende Zahl von Grundrechten intensiv tangiert werden kann — wie wir aktuell am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, ob hier also ein Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung vorliegt, kann ich auch diese Einschätzung teilen. Dies vor allem in Anbetracht dessen, dass hier nicht nur in eine Vielzahl von Grundrechten in erheblicher Weise eingegriffen wird — wenn man den Grundrechtskatalog durchgeht, kann man bei einem groben Überschlag wohl davon ausgehen, dass nahezu alle Grundrechte durch die Maßnahmen im Corona-Kontext teilweise bis in ihren Kernbereich betroffen sind. Hierbei unter anderem meines Erachtens übrigens auch in die unverletzliche Garantie der Menschenwürde (Art. 1. Abs. 1 GG), so in den Fällen, in denen Menschen in Alters- und Pflegeheimen keinen Besuch mehr empfangen dürfen und vollständig isoliert, teilweise offensichtlich auch „verpackt“ in Schutzkleidung, aus dem Leben scheiden müssen.
„Gewaltenkontrolle außer Kraft“
Wir haben hier in meinen Augen darüber hinaus auch ein ganz eminentes staatsorganisationsrechtliches Problem: Denn, auch wenn jetzt erste „Lockerungen“ auftreten, alle drei Gewalten, also Legislative, Exekutive und Judikative, weitgehend unterschiedslos „an einem Strang ziehen“, ist nicht zu erkennen, dass eine Form der Gewaltenkontrolle im Sinne eines Ausgleichs, einer Check-and-Balance, stattfindet:
Die Legislative ist seit dem Beginn der „Coronakrise“ weitgehend abgetaucht: Sitzungen im Bundestag und in den Landtagen finden oder fanden bisher nur in Notbesetzungen statt, und eine Debatte über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Corona-Gegenmaßnahmen hat für eine lange Zeit — denn erst jetzt gibt es erste kritische Gegenstimmen, meist aus der FDP — kaum stattgefunden.
Ähnliches ist für die Gerichte zu verzeichnen, auch wenn diese allmählich gewisse Konzessionen machen, zuletzt insbesondere der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes. Diese erfolgen, aber auch nur schritt- bzw. häppchenweise, wobei man das Gefühl nicht loswird, dass die Entwicklung der Rechtsprechung der tatsächlichen Entwicklung noch mehr als ohnehin schon üblich hinterher hinkt.
Um es auf den Punkt zu bringen:
Wir haben es hier mit einem weitestgehenden Totalausfall aller drei staatlichen Gewalten, mindestens aber mit einem Ausfall der Abgrenzungs- und Balancefunktionen zwischen diesen drei Gewalten, zu tun, was aber nur diejenigen zu erstaunen vermag, die bisher von einer unbeschädigten Solidität der Rechtsstaatlichkeit in diesem Lande unerschütterlich überzeugt waren.
Man kann vor diesem Hintergrund konstatieren, dass sich eine Entwicklung abzeichnet, die darauf hinauslaufen könnte, dass ein Fall des Artikels 20 Abs. 4 GG vorliegt, der das Recht auf Widerstand beschreibt, da für den Fall, dass die drei Staatsgewalten — und übrigens auch in weiten Teilen die sogenannte vierte Gewalt, also die Presse/Medien, und hier insbesondere jene des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks — ausfallen, eine absolute Notstandssituation gegeben ist. Indes bleibt zu hoffen, dass die Staatsgewalten ihrer Verantwortung noch rechtzeitig gerecht werden und so das Eintreten der Notstandssituation des Art. 20 Abs. 4 GG noch abgewendet werden kann.
Handfeste politische Agenda im Hintergrund?
Der Bundestag erklärte bei seinen Entscheidungen zur Corona-Pandemie, der ausgerufene Epidemiefall gelte wie die entsprechenden rechtlichen Maßnahmen nur zeitweise. Welche Garantien gibt es dafür, dass das nicht dauerhaft bleibt?
Es ist selbstverständlich, dass der Bundestag bei seinen Entscheidungen zur Corona-Pandemie erklärt, dass der ausgerufene Epidemiefall nur vorübergehend gelte und dementsprechend auch die dazu geplanten und ergriffenen Maßnahmen nur vorübergehende Natur beanspruchen können. Hätte der Bundestag dies nicht getan, wären die Maßnahmen der Bevölkerung nicht zu vermitteln gewesen, und die rechtlichen Grenzen wären schon auf dem Papier gesprengt worden.
Die berechtigte Frage lautet aber, ob das Angekündigte auch entsprechende Umsetzung finden wird. Ich habe hier erhebliche Zweifel, da sich starke Indizien mehren, die auf die Gefahr eines subkutanen Fortbestands oder gar einer schleichenden Ausweitung der Maßnahmen hinweisen.
Das heißt: auch wenn die Maßnahmen derzeit zurückgefahren werden, wurde faktisch ein Rechtsregime errichtet, dessen Grundbestand als ausbaufähig einzustufen ist, sobald sich dafür einflussreiches Interesse regt.
Schon mehr oder weniger harmlose Gefahrensituationen könnten willkommenen Anlass bieten, das Land wieder in den Alarm- oder Notstandsmodus hoch- beziehungsweise runterzufahren.
Eindeutiges Zeichen dafür ist nach meiner Ansicht die sinngemäße Aussage der Kanzlerin, dass „wir alle wissen, dass diese Pandemie erst vorbei ist, wenn wir über einen Impfstoff verfügen.“ Ich frage mich, wo die Erkenntnisquelle für diese felsenfeste Überzeugung der Kanzlerin zu finden ist. Eine medizinische Untermauerung hat die politische Richtlinienbestimmerin jedenfalls nicht vorgenommen. Was wie Kaffeesatzleserei daherkommt, sollte aber dennoch zu denken geben, weil dahinter eine handfeste politische Agenda vorbereitet werden beziehungsweise bereits sogar stehen könnte, für deren Ausgestaltung es keines besonderen Phantasieaufwands bedarf.
Warum zaudert das Bundesverfassungsgericht?
Ein Blick auf die Historie zeigt jedenfalls, wie sich die Rechtslage in ähnlichen „Notstandssituationen“ entwickelt hat. Erinnert sei hier an die Gesetzgebungsmaßnahmen nach dem 11. September 2001, die sich auf ein latentes terroristisches Angriffsszenario berufen haben, das Anlass nicht nur für den bis heute andauernden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan war, sondern auch für Schilys „Otto-Katalog“, in den erhebliche grundrechtliche Einschränkungen Eingang gefunden haben. Auch wenn das Schreckensszenario eines alles überrollenden islamistisch-terroristischen Angriffs auf die westliche Welt bis heute realitätsfremd geblieben ist, haben die einmal beschlossenen Gesetze und die auf ihnen fußenden Maßnahmen weiterhin Bestand, wurden sie zuletzt doch bis 2021 umstandslos verlängert.
Warum entscheidet das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht grundsätzlich in dieser Frage, wo es doch um die Grundrechte geht, die im Grundgesetz festgeschrieben sind?
Ich finde es erstaunlich, dass diese Frage nicht viel öfter gestellt wird. Grundsätzlich hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) inzwischen ja einige Verfahren zur Entscheidung angenommen, wenngleich meist abschlägig beschieden. Einige kleinere Konzessionen betreffen Fragen der Versammlungs- und der Glaubensfreiheit. Unbeantwortet bleibt bislang aber die Frage, warum das — nach eigenem Selbstverständnis als Hüter der Verfassung agierende — Gericht angesichts dieser absoluten Grundrechtsnotsituation so gut wie gar nicht oder nur am Rande in Erscheinung getreten ist.
Maßgeblicher Grund dafür dürfte die Tatsache sein, dass sich das Bundesverfassungsgericht auf seine Ultima-Ratio-Stellung beruft, wenn es um die Überprüfung der Verletzung von Grundrechten geht. Diese Aufgabendefinition trifft grundsätzlich zu, weil zum Schutz von Rechten, zu denen auch die Grundrechte zählen, in erster Linie die Fachgerichte berufen sind, in diesem Fall also die Verwaltungsgerichte. Diese haben im Rahmen der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, also auch der „Corona-Rechtsverordnungen“, die Grundrechte zu beachten, sodass Rechtsschutz eigentlich bereits über die Fachgerichte zu erlangen wäre. Somit hat sich das Bundesverfassungsgericht nur dann zum Einschreiten berufen zu fühlen, wenn es zuständigkeitshalber angerufen wird, also nachdem der Instanzenweg über die Verwaltungsgerichte beschritten worden ist.
„Besonderer Skandal“
Ihre Frage enthält nun den wesentlichen Gedanken, dass man bei einer Sache von allgemeiner Bedeutung das Bundesverfassungsgericht gerade wegen dieser übergreifenden Bedeutung für zuständig halten könnte, über den Sachverhalt zu entscheiden. Dies ist insbesondere auch in der hiesigen Causa konsequent gedacht, da die politischen Entscheidungsträger ja ihrerseits bei einem epidemischen Notfall nun von einer Art umfassenden Ultima-Ratio Zuständigkeit des Bundes auszugehen scheinen, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten als Reaktion auf den Notfall geht. Zweifellos wäre dann aber konsequenterweise das passende Gegenstück zur rechtlichen Bewertung und Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieser einheitlichen Maßnahmen auch eine Art bundeseinheitliche Rechtsschutzmöglichkeit über das Bundesverfassungsgericht.
Das ist nun aber keine neue Idee, sondern vielmehr hatte der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, also der Prozessordnung für Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, solche Konstellationen auf dem Schirm. Dies ergibt sich aus § 90 Absatz 2 Satz 2 Variante 1 GG, nach welchem eine sogenannte Vorabzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts angenommen werden kann, für den Fall, dass „eine Rechtssache von allgemeiner Bedeutung“ vorliegt. In diesen Konstellationen kann das Bundesverfassungsgericht vorab entscheiden, also noch vor Befassung der Fachgerichte mit der Sache. Dieser Fall ist bei den sogenannten Coronabekämpfungsmaßnahmen meines Erachtens eindeutig anzunehmen, denn welche Rechtssache könnte sonst eine allgemeinere Bedeutung beanspruchen?
Vor diesem Hintergrund ist es meiner Auffassung nach auch als besonderer Skandal zu bezeichnen, dass sich das Bundesverfassungsgericht angesichts der aktuellen Grundrechtsgefährdung zu der Frage einer etwaigen Vorabzuständigkeit bisher in Schweigen gehüllt hat.
Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich bereits in einem der ersten Verfahren im Hinblick auf die „Coronamaßnahmen“ ein Beschwerdeführer beziehungsweise Antragsteller explizit auf diese Vorschrift im Bundesverfassungsgerichtsgesetz berufen hat, das Gericht diesen Vortrag aber nach dem Motto: „Kein Kommentar“ schlichtweg ignoriert hat. Eine Ignoranz, die vor dem gegenständlichen Hintergrund ernsthafte Fragen nach der Legitimation des BVerfG aufkommen lässt.
Halten Sie es für realistisch, dass das Bundesverfassungsgericht sich frontal gegen die Politik der Bundesregierung und von Landesregierungen stellen wird?
Wie ich schon vorhin deutlich gemacht habe, ist das Handeln des Bundesverfassungsgericht gegenüber den aktuellen Grundrechtseinschränkungen vor allem durch ein anhaltendes Sich-Winden gekennzeichnet, das als Ergebnis lediglich einige kleinere Konzessionsentscheidungen zeitigt und damit den Eindruck vollkommener Positionslosigkeit zu verschleiern versucht. Immerhin hatten ja einige Fachgerichte zumindest teilweise Versammlungen unter erheblichen Einschränkungen zugelassen, die das Bundesverfassungsgericht dann quasi im Nachgang lediglich nachvollzogen hat — auf dem Weg vom Flagge zeigenden Hüter der Verfassung zum hinterhertrottenden Nachzügler, stets bemüht, sich um keinen Preis frontal gegen die politischen Entscheidungen der Bundes- und Länderpolitik zu stellen.
Prof. Dr. David Jungbluth studierte Rechtswissenschaften und promovierte im Wirtschaftsverfassungsrecht. Er arbeitete als Richter auf Probe sowie als Staatsanwalt und Zivilrichter. Derzeit lehrt er als Inhaber einer Vertretungsprofessur an der Frankfurt University of Applied Sciences und ist als Rechtsanwalt in Frankfurt am Main mit den Schwerpunkten Verfassungs- sowie Ausländer- und Migrationsrecht tätig. Gemeinsam mit der Rechtsanwältin Jessica Hamed vertritt er die Klage des Journalisten Jens Wernicke gegen die Anti-Corona-Maßnahmen in Rheinland-Pfalz.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst auf SputnikNews.
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