Im Oktober 2022 traf ich am Viktoriasee auf einen Australier – nennen wir ihn Andrew. Er war in den letzten Jahren auf der Suche nach ergiebigen Minen für Industriemineralien viel in Ostafrika herumgekommen und hatte dementsprechend einiges zu erzählen. Den Weg zum Viktoriasee hatte er aber aus dem Grund auf sich genommen, um ein seltenes Auto, das auf der Welt nur in stark limitierter Auflage vorhanden war, zu erwerben. Wir unterhielten uns über allerlei verschiedene Themen — vorwiegend jedoch über Afrika. Was er hier am meisten vermisse, sagte er, seien Zivilisation und Kultur. Dies sei auch Afrikas größtes Problem und der Grund, warum sich viele Länder auf dem Kontinent bis heute kaum entwickelt hätten und sich aufgrund ständiger Konflikte permanent bekriegten.
Ich teilte diese Sicht über Afrika nicht und hielt dagegen. Insbesondere die Aussage, dass Zivilisation dafür sorgen würde, dass sich die Menschen gegenseitig nicht mehr umbringen würden, sei doch nur eine Illusion, so meine Antwort. Schließlich sind die „zivilisierten“ Länder für weitaus mehr Morde verantwortlich als die „nicht zivilisierten“. Die jüngsten Beispiele wären doch unter anderem die westlichen Militärinterventionen in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien, im Jemen, in der Ukraine und nicht zu vergessen in Palästina. Bezüglich der Kriege und des Bluts, das den entwickelten Ländern an den Händen klebt, stimmte er mir zwar zu, nichtsdestotrotz wollte er nichts auf seine „heilige“ Zivilisation kommen lassen.
Die Legende der Prinzessin Kaguya
Nachdem ich den Viktoriasee verlassen hatte und im Bus zu meinem nächsten Ziel saß, tauchte in mir die Frage auf, warum die Zivilisation zu den größten Errungenschaften der Menschenheitsgeschichte gezählt wird. Der Begriff ist durchweg positiv konnotiert. Gibt es nicht aber einen Preis, den die Menschen für ihr zivilisiertes Leben zu zahlen haben? Wie sieht dieser konkret aus? Und während der Bus die staubige Landstraße entlangbrauste, ließ ich meine Gedanken schweifen, bis mir ein wunderbarer, sehr ästhetischer japanischer Animationsfilm in den Sinn kam, der unter anderem genau dieses Thema verhandelt: „Die Legende der Prinzessin Kaguya“.
Ein alter Bambussammler in den Bergen Japans findet während seiner täglichen Arbeit ein kleines Mondwesen in einem Bambushalm. Er hält es für eine Prinzessin, die ihm vom Himmel gesandt wurde und nimmt es mit nach Hause. Als er das Wesen seiner Frau zeigt, verwandelt es sich in ein neugeborenes Kind; der Bambussammler und seine Frau beschließen daraufhin, es aufzuziehen.
Das Mädchen wächst unverhältnismäßig schnell heran, sodass es nach kurzer Zeit das Alter und die Größe der Nachbarskinder erreicht. Von ihnen erhält es auch den Spitznamen „Kleiner Bambus“, da es so rasant wächst wie junger Bambus. Rasch freundet es sich mit den anderen Kindern — besonders mit einem Jungen namens Sutemaru — an und verbringt mit ihnen die Tage in den Wäldern der Umgebung. Was bei ihr von Anfang an unübersehbar ist, ist ihr Lachen, ihre Lebensfreude, ihre schier grenzenlose Energie sowie ihre Naturverbundenheit und die Liebe zum einfachen Leben. Sie läuft wie ein Wirbelwind herum und erfreut sich an ihrer Lebenskraft. Sie ist auf natürliche Weise glücklich und zeigt dies, indem sie ständig lacht, ohne dass es einen besonderen Grund erfordert. Sie befindet sich in Beziehung zu ihren Eltern und ihren Freunden und darf genau so sein, wie sie ist.
Einige Zeit später findet der alte Bambussammler eine Menge Gold und kurz darauf verschiedene edle Tücher — wie schon bei dem Mondwesen ebenfalls in einem Bambushalm. Dies deutet er als Zeichen des Himmels, dass die Prinzessin kein einfaches Bauernleben führen solle, sondern eines in Wohlstand und Ansehen. Infolgedessen beschließt er, in die Hauptstadt zu ziehen und ihr dort von dem Gold ein prächtiges Haus zu bauen.
Zivilisation und Kultur
Offizielle Definitionen zum Zivilisationsbegriff finden sich reichlich. Abgeleitet ist dieser von „zivil“ (bürgerlich) und stammt ursprünglich von dem lateinischen Wort „civis“ (der Bürger), so das Onlinelexikon „Juraforum“ (1). Nach „Meyers großem Konversationslexikon“, inzwischen mehr als 100 Jahre alt, ist Zivilisation „die Stufe, durch die ein barbarisches Volk hindurchgehen muss, um zur höheren Kultur in Industrie, Kunst, Wissenschaft und Gesinnung zu gelangen“. Diese alte Definition offenbart zum einen, wie tief unser Verständnis von Zivilisation mit dem modernen Bürgertum verknüpft ist, und zum anderen zeigt sie große Parallelen zu Andrews Ansicht von Zivilisiertheit beziehungsweise von Unzivilisiertheit:
Ein „Barbar“ ist gewalttätig, brutal, erbarmungslos — nicht zu einem geordneten und friedlichen Zusammenleben in der Lage. Ein zivilisierter Mensch dagegen hat sich unter Kontrolle, ist friedfertig, pflegt ein anständiges Benehmen sowie höfliche Umgangsformen und besitzt einen hohen Bildungsstand.
Bei diesem Verständnis wird jedoch häufig „zivilisiert“ mit „kultiviert“ vermischt. Gerade das Bildungsniveau ist Letzterem zuzuordnen; ebenso gilt als „kultiviert“ eine bestimmte gesellschaftliche und politische Haltung. Zusätzlich lässt sich wohl auch nicht leugnen, dass die Titulierung „kultivierter Bürger“ ein gewisses Statusgefühl hervorruft und dadurch ebenso wie der „zivilisierte Mensch“ Teil eines Gesellschaftsideals ist. Wie lässt sich nun aber Kultur von Zivilisation unterscheiden? Beide Wörter werden mitunter fast sinngleich verwendet. Darüber hinaus kann dem Begriff „Kultur“ nahezu alles zugeordnet werden: von Kieler Woche, Hamburger Dom und Münchner Oktoberfest über Brathering, Spätzle und Weißwurst bis hin zu Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“, Goethes „Faust“ und Beethovens „9. Sinfonie“.
Prinzipiell ist Kultur die Grundlage von Zivilisation und damit vom menschlichen Dasein nicht zu trennen, unabhängig wie „primitiv“ oder „unzivilisiert“ es auch sein mag.
Kultur sind die Bräuche, Riten, Sitten sowie die Werte und Moral, die sich lokal durch den jeweiligen Lebensraum sowie die Lebensumstände entwickelt haben. Immanuel Kant bezeichnete Kultur als innere Moralität des Menschen. Darauf aufbauend ist Kultur „dann auch die ursprüngliche, in religiöse Vorstellungen eingebettete innere Moralität des Menschen, die sein Schuld- und Schamgefühl festlegt, sein Verhältnis zum anderen und zur Gemeinschaft, die die Riten und Rituale einer vom Individuum verinnerlichten Gemeinschaft ausmachen und die von seiner Beziehung zur Existenz des Menschen in seinem Kosmos und zum Göttlichen spricht“, so der in Kabul geborene Psychoanalytiker Josef Ludin (2). Laut ihm ist Kultur von Religion nicht zu trennen, da man „aus seiner Herkunft nicht austreten kann“. „Der Mensch ist per se ein Kulturmensch. Er lebt nicht von Brot allein, er ist in Kultur eingebettet.“
Die Zivilisation dagegen, so Ludin, „betrifft nicht die innere Moralität des Einzelnen und seiner Gemeinschaft“, sondern beziehe sich auf die äußere gesellschaftliche Ordnung, die daraus entstanden ist. Dazu zählen dann zum Beispiel moderne Staatsaufbauten, Rechtssysteme, Infrastruktur, öffentliche Verkehrsformen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung, Technologie und Wissenschaft sowie innere und äußere Sicherheit durch Polizei und Militär. Auch die Kunst, auf der Ebene, wo sie regionale Volkstümlichkeit verlassen und Universalität erlangt hat, zählt er zum „Ausdruck zivilisatorischer Ordnung“.
Eine edle Dame ist also kein Mensch!
Nachdem die Prinzessin ihr neues Zuhause in der Hauptstadt erreicht hat, wird der kleine Palast neugierig und aufgeregt erkundet. Enthusiastisch rennt sie durch die Gänge, klettert herum und erfreut sich an all den neuen Dingen, die es kennenzulernen gibt. So wirft sie zum Beispiel begeistert ihre neuen bunten Kleider in die Luft, sodass diese für sie einen leuchtenden Regenbogen erzeugen. Trotz der neuen Umgebung und des Verlusts ihrer Freunde ist ihr positives Wesen sowie ihr Lachen nach wie vor ungebrochen.
Am selben Tag wird ihr die Dame Sagami vorgestellt, die extra vom Kaiserhof engagiert wurde, um sie fortan zu einer edlen und vornehmen Dame auszubilden. Die täglichen Übungen werden von der Prinzessin zunächst nicht besonders ernst genommen. So schleicht sie sich bei der Übung, unauffällig und geräuschlos aufzustehen, davon, malt bei ihren Schriftübungen lustige Bilder und erzeugt auf der Koto eigene Klänge, anstatt die vorgegebene Melodie zu üben. Sie lässt sich ihren Spaß an allem, was sie tut, nicht nehmen und macht Quatsch — sehr zum Ärger ihrer Lehrerin.
Aufgrund des dauerhaften, konsequenten Umerziehungsprogramms kommt es dann jedoch zu einem Disput zwischen der Prinzessin und der Dame Sagami: Da die junge „edle Dame“ nicht nur wissen soll, wie sich eine solche zu benehmen hat, sondern auch wie eine aussehen soll, sollen ihr das Gesicht weiß geschminkt, die Augenbrauen ausgezupft sowie die Zähne schwarz gefärbt werden. Sie weigert sich und sagt, dass ihr ohne Augenbrauen der Schweiß in die Augen laufe und dass sie mit schwarzen Zähnen gar nicht mehr lachen könne. Die Antwort ihrer Lehrerin lautet, dass eine edle Dame es vermeide, zu schwitzen und zu lachen, und generell niemals Emotionen zeige. Daraufhin schreit die Prinzessin: „Eine edle Dame ist also kein Mensch!“ und flieht aus dem Zimmer.
Bald darauf soll zur Feier ihrer Volljährigkeit ein großes Bankett veranstaltet werden, wofür ihr von einem alten Mann aus den höheren Kreisen ihr endgültiger Name ausgesucht wird. Von ihrer Schönheit und Anmut überwältigt, gibt er ihr den Namen Prinzessin Kaguya, was „hell strahlend“ bedeutend. Für das Bankett hoch festlich gekleidet, verbringt sie dieses jedoch allein und einsam, getrennt von der Festtagsgesellschaft. Ihr Lachen ist mittlerweile weniger und ihr Gesicht ernster und trauriger geworden.
Der Preis der Zivilisiertheit
Zu den bekanntesten Zivilisationsforschern zählt der Soziologe Norbert Elias (1897 bis 1990), der den Zivilisationsprozess als „Zivilisierung“ bezeichnete. Diese sei eine „Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz bestimmte Richtung“ (3), eine stets unvollendete Ausbildung von Verhaltensnormen mit dem Ziel: Kontrolle von Aggression, zivilere Verkehrsformen und innergesellschaftliche Pazifizierung in Verbindung mit Entwicklungen von materieller Kultur, gesellschaftlichen Institutionen sowie technisch-wissenschaftlichem Fortschritt.
Nach ihm ist dieser Prozess niemals abgeschlossen und passt sich stets den Gegebenheiten der jeweiligen Zeit an; insbesondere die Verhaltensregeln innerhalb eines Systems, da unsere heutige Gesellschaft eine andere „Modellierung des psychischen Apparats“ benötige. So ist eine große Selbstkontrolle des Individuums vonnöten, die gesellschaftlichen Normen einzuhalten, damit das System stabil bleibt. Elias nennt dies „Selbstzwangapparatur“.
Um sicherzustellen, dass die Normen befolgt werden, befindet sich eine Gesellschaft im Besitz verschiedener Werkzeuge; eines davon ist der Staat als Gewaltmonopol.
Aufgrund der größeren Verflechtung ist es in Gesellschaften, in denen eine solche Monopolinstitution vorhanden ist, dem Einzelnen besser möglich, seine Triebe und Affekte zu unterdrücken. Laut Elias führe das zu einer „leidenschaftsloseren Selbstbeherrschung“; demgegenüber steht dafür eine größere Sicherheit. Jedoch zwingt dieses gesellschaftliche Umfeld die Menschen automatisch zu einer starken Selbstbeherrschung. Das Individuum befindet sich in einem Modus, seine Außenwelt permanent zu scannen, um das gesellschaftlich korrekte Verhalten einzuhalten.
Elias gelangte zu der Schlussfolgerung, dass eine „zivilisiertere“ Gesellschaft ohne eine gewisse Selbstkontrolle nicht entstehen kann. Dies würde auch stets zu „Zwangshandlungen und anderen Störungserscheinungen“ führen, was seiner Ansicht nach eine Erklärung für das Entstehen psychischer Störungen ist. Erwähnt sei hier noch, dass die „zivilisiertere“ Welt deutlich stärker mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat als die „weniger zivilisierte“ Welt — wobei der Mangel an entsprechenden Diagnose- und Therapiemöglichkeiten eine erhebliche Dunkelziffer verursachen dürfte.
Ich bin eine Fälschung!
„Von nun an verbrachte Prinzessin Kaguya, fast so, als wäre sie ein anderer Mensch geworden, ihre Tage in aller Stille mit Schreibübungen und gab das Herumturnen auf.“ Der beständige Druck führt schließlich dazu, dass die Prinzessin nachgibt: Unter Tränen lässt sie sich die Augenbrauen auszupfen sowie die Zähne schwarz färben.
Die Zahl ihrer Verehrer steigt täglich, bis auch die höchste Gesellschaft beginnt, sich für sie zu interessieren. So reisen fünf Männer höchsten Ranges, Prinzen und Minister, zu ihrem Haus, um ihr einen Heiratsantrag zu unterbreiten, ohne sie jedoch zuvor ein einziges Mal gesehen zu haben. Beim Empfang der Verehrer, bei dem sich die Prinzessin hinter einer Wand verbirgt, vergleichen alle Männer sie mit einem edlen Schmuckstück oder einem wertvollen Schatz. Jeder von ihnen benutzt als Zeichen ihrer Kostbarkeit die denkbar größtmögliche Metapher — allesamt Schätze, die in Wirklichkeit nicht existieren. Zum Beispiel bezeichnet einer sie als so wertvoll wie der mit Juwelen behängte Zweig vom Berg Horai.
Sie versteht, dass es den Edelmännern nicht um sie persönlich geht, sondern nur um sie als Besitz sowie als Status; daher auch die Vergleiche mit Schmuckstücken. Aus diesem Grund trägt sie allen auf, ihr die besagten Schätze zu bringen, da sie dann sehen würde, wie ernst sie es meinten. Vier von ihnen versuchen sie durch ein Imitat zu täuschen, einer stirbt während der Suche nach seinem Schatz. Von den Lügen ihrer Verehrer tief verletzt sowie von der „falschen“ Welt, in der sie nun lebt, abgestoßen, zerstört sie voller Wut und Trauer ihren sorgsam angelegten Garten, der eine Miniaturabbildung ihrer Heimat in den Bergen darstellte. Ihrer fragenden Mutter antwortet sie verzweifelt: „Dieser Garten ist eine Fälschung! Alle sind eine Fälschung, ich auch! Ich bin eine Fälschung!“
Dadurch, dass sie die fünf Edelleute so geschickt vorgeführt hat und diese gekränkt und ruiniert wieder gehen mussten, steigt ihr Ansehen noch weiter, bis schließlich der Kaiser Interesse an ihr zeigt. Er befiehlt, sie in seinen Palast zu bringen; zudem soll ihr Vater, vor nicht allzu langer Zeit noch ein alter Bambussammler, ein Amt bei Hofe erhalten. Jedoch trägt sie ihrem Vater auf, dem Kaiser ihre Ablehnung mitzuteilen. Der Vater, mehr auf sein eigenes Glück bedacht als auf das seiner Tochter, wird wütend und akzeptiert ihre Entscheidung nicht. Auf ihre Antwort allerdings verstummt er: „Vater, wenn Ihr tatsächlich glaubt, dass das, was ich sage, dem Willen des Kaisers widerspricht, bitte ich Euch, mich zu töten. Doch, verehrter Vater, wenn es Euch glücklich macht, ein Amt am Hofe des Kaisers zu erhalten, dann bin ich bereit, mich zum Kaiserhof zu begeben, mich dort Eures neuen Ranges zu versichern und dann erst zu sterben.“
Die Ablehnung der Prinzessin irritiert den Kaiser. Immerhin ist eine Zurückweisung von ihm rechtlich nicht vorgesehen. Dadurch aber nimmt sein Interesse nur noch weiter zu, sodass er beschließt, ihr einen unangemeldeten Besuch abzustatten. Seinem aufdringlichen Versuch, sie mit sich in seinen Palast zu nehmen, entflieht sie durch ihre magischen Kräfte als Mondwesen, welche sich in diesem Moment zum ersten Mal zeigen. Er versteht die Situation, gibt auf und verlässt ihr Haus.
Nach seinem Besuch sitzt sie jeden Abend allein auf der Veranda des Pavillons am See ihres Hofes und starrt den Mond an. Während der ungefragten Umarmung des Kaisers rief sie verzweifelt ihren Heimatplaneten um Hilfe und bat ihre Brüder und Schwestern, sie zurückzuholen. Im Nachhinein bereut sie ihre Entscheidung, kann den Beschluss aber nicht mehr umkehren. Verzweifelt erzählt sie schließlich ihren Eltern, dass sie schon bald abgeholt werden wird. Diese wollen das jedoch nicht akzeptieren, insbesondere ihr tieftrauriger Vater nicht. Er veranlasst, dass sich der gesamte Hofstab bewaffnet, um die Abholung seiner Tochter aufzuhalten.
Die Freiheit der Unzivilisiertheit
Wie Elias in seiner Forschung aufgezeigt hat, ist der Preis für Hochkultur und zivilisatorischen Fortschritt häufig die Reduzierung der persönlichen Freiheit des Einzelnen. Es scheint, je moderner und entwickelter eine Zivilisation ist, desto einschränkender prägen sich die gesellschaftlichen Konventionen aus, woraus eine immer stärkere Selbstbeherrschung und -beschneidung des Individuums resultieren. Freilich können solche begrenzenden Verhaltensnormen auch in Religion begründet liegen — in diesem Sinn lassen sich womöglich Kultur und Zivilisation auch nicht so klar trennen, wie es die deutsche Geisteswissenschaft betreibt. Kultur und Zivilisation sind zwar unterschiedliche Aspekte des Menschseins, sie vermischen sich aber auch gleichzeitig und stehen in symbiotischer Beziehung zueinander.
Die ausschließlich positive Konnotation von Zivilisation sollte endlich infrage gestellt und kritisch diskutiert werden, denn: Zivilisation ist nicht per se positiv.
Selbstverständlich bietet sie eine Vielzahl an Errungenschaften, wie den technischen Fortschritt, der unseren Alltag deutlich einfacher und komfortabler gestaltet; wie die Kunst, die uns, wie manchmal nichts anderes, in unseren Herzen berühren kann sowie die Erkenntnisse aus Gesundheit und Medizin, die uns zu einer unglaublichen Verbesserung unserer Lebensumstände verholfen haben. Nichtsdestotrotz scheint unsere heutige Ausprägung der Zivilisation verschiedene Effekte hervorzubringen, die uns in unserer persönlichen Entwicklung sowie in unserem natürlichen Vermögen, glücklich zu sein, stark beschneiden. In Deutschland, einem der zivilisiertesten Länder der Welt, starben im Jahr 2021 laut offiziellen Angaben 9.215 Personen durch Suizid (4). Dies bedeutet, dass sich mehr als ein Mensch pro Stunde das Leben nimmt. Unter Umständen schlummert auch hier noch eine erhebliche Dunkelziffer.
Woher kommt unser Hochmut auf die „unziviliserten“ Gesellschaften, den ich bei Andrew so deutlich gespürt habe? Ist es ein Überlegenheitsgefühl militärischer Übermacht? Halten wir uns aufgrund unserer scheinbar höheren Entwicklung in Gesellschaft und Technik für etwas Besseres? Oder ist es vielleicht Neid — Neid auf die noch vorhandene Freiheit sowie die Nähe zum Leben, die wir inzwischen weitgehend verloren haben? Schließlich kann „unzivilisiert“ auch mit „naturnah“ übersetzt werden und nicht mit „primitiv“. Gemäß dieser Lesart wären wir als „zivilisierte“ Gesellschaft dann von der Natur entfremdet, was wir de facto sind. Damit wäre dann unser Fortschritt auf dieser Ebene zu einem Rückschritt geworden.
Dreht euch, ihr Wasserräder
Den Eltern der Prinzessin gelingt es nicht, die Abholung ihrer Tochter zu verhindern. Sämtliche Waffen verwandeln die Mondwesen in bunte Blumen und lassen alle Angreifer in einen tiefen Schlaf fallen.
Kurz zuvor hatte die Prinzessin mit ihrer Mutter einen Ausflug in die Berge unternommen, um den Frühling zu genießen. Dort gab es zufällig ein Wiedersehen mit ihrem alten Kindheitsfreund Sutemaru, der mit seiner Familie stetig durch die Lande zieht und just an diesem Tag wieder in seiner alten Heimat angekommen war. Ein letztes Mal durfte sie sich noch einmal so glücklich und unbeschwert fühlen wie zu Zeiten ihrer Kindheit. Woraufhin sie erkennt, dass sie mit ihm und seinem einfachen Leben vielleicht wirklich glücklich geworden wäre.
Ebenso wird ihr der wahre Grund klar, warum sie auf die Erde kam. Auf dem Mond existieren keine Emotionen wie auf der Erde — keine tiefe Trauer, keine brennende Wut, keine ausgelassene Freude, keine heißblütige Liebe, ausschließlich eine Art unemotionaler Seligkeit. Sie wollte Freiheit und Lebendigkeit spüren, die nur durch die großen und verschiedenen Emotionen auf der Erde erfahrbar sind. Ein Jammer, so gesteht sie sich ein, dass das Glück, das sich ihre Eltern für sie gewünscht haben, für sie eine einzige Qual war.
In einem der letzten Gespräche erzählt sie ihrer Mutter von einem ihrer Mitbürger, den sie einst häufig in der Mondstadt beobachtet hatte. Auch er, so schien es, reiste einst auf die Erde und konnte diese offensichtlich nicht vergessen. Dies war erstaunlich. Schließlich verlieren die Reisenden nach ihrer Zeit auf der Erde sämtliche Erinnerungen an diesen Ort, sobald ihnen das Mondgewand wieder angelegt wird. Die Beobachtungen ihres Mitbürgers faszinierten sie. Regelmäßig kam er an denselben Ort, um hinunter auf die Erde zu schauen. Dabei sang er traurig und sehnsüchtig eine besondere Version eines alten Kinderlieds von der Erde, welches sich in verschiedener Form durch den ganzen Film zieht (5). Jedes Mal schossen ihm Tränen in die Augen, so erzählt sie ihrer Mutter, und sie versteht nun auch, warum. Es ist die Sehnsucht nach der Lebendigkeit und der Schönheit dieses fernen Ortes, den sie nun ebenso ihrem ursprünglichen Zuhause, trotz ihres geordneten und sicheren Lebens, vorziehen würde. Ihre Wahl fällt somit auf die unzivilisierte Lebendigkeit auf der Erde statt auf die zivilisatorische Hochkultur auf dem Mond.
„Dreht euch, oh, dreht euch, ihr Wasserräder,
dreht euch stetig im Lauf der Zeit.
Bin ich auch fern, weist ihr doch meinem Herz den Weg.
Bin ich auch fern, weist ihr doch meinem Herz den Weg.
Tiere und Pflanzen begrüßen mich,
das weiß ich gewiss.
Ihr lehrt mich Herzensgüte und seid für mich da.
Falls ihr mich vermisst, ruft,
dann kehre ich zu euch zurück.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Die Legende der Prinzessin Zivilisation“ auf apolut.net.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.juraforum.de/lexikon/zivilisation
(2) https://www.globkult.de/kultur/fluchten/679-von-der-notwendigkeit-kultur-und-zivilisation-zu-unterscheiden
(3) https://www.grin.com/document/210697
(4) https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html
(5) https://www.youtube.com/watch?v=gJxBl_qXXW8
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