Ein eigenständiges Werk
Wilhelm Reich (1897 bis 1957), „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Sigmund Freuds, hatte 1933 das erklärte Ziel, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte. Da er seit 1930 in Berlin lebte, war er unmittelbar konfrontiert mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“, als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und Sexualreformer zugleich in dessen Abwehr involviert. Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die Massenpsychologie.
Dieses Buch ist also zugleich ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus. Darüber hinaus deckte Reich psychosoziale Grundzüge des internationalen Faschismus auf. Fertigstellen konnte er sein Werk erst, nachdem er im Mai 1933 in Dänemark, seinem ersten Exilland, angekommen war.
Noch im selben Jahr wurde er aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil er Letzteren in der Massenpsychologie zu psychoanalytisch argumentierte und Grundthesen von Marx in Zweifel zog. Nahezu zeitgleich wurde ihm die Mitgliedschaft in den psychoanalytischen Vereinigungen entzogen: vor allem weil sein offen antifaschistisches Auftreten deren Anpassungskurs an das NS-System behinderte.
1946 publizierte Reich dann eine sich in vielem gravierend vom Original unterscheidende (1) englischsprachige Ausgabe der Massenpsychologie. Diese 1971 auch auf Deutsch erschienene Schrift stellt zweifellos eine bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie jedoch nicht.
Verdrängt statt verwendet
Ab 1933 entzogen vor allem die Unterwerfung unter die Normen des „Dritten Reiches“ und die zeitgleich in den USA erfolgende Medizinalisierung der Freud’schen Lehre den auf Gesellschaftskritik und -veränderung ausgerichteten analytischen Strömungen dauerhaft ihre Basis. Ein psychoanalytisches Buch, das eine auch nur annähernd so gründliche Aufarbeitung psychosozialer Wurzeln faschistischer Strömungen und „rechter Bewegungen“ bietet wie Reichs Massenpsychologie — und wie Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität von 1973 — ist bis zum heutigen Tag nicht erschienen.
Trotzdem wird Reich im Hauptstrom der Psychoanalyse nach wie vor meist totgeschwiegen, diffamiert oder bestenfalls marginalisiert. Auch in aktuellen Publikationen zu Autoritarismus, Faschismus, Holocaust, zur NS-Täterforschung und zum Rechtsextremismus findet diese Schrift nur in Ausnahmen Erwähnung.
Das ist erstaunlich, weil sich Reichs Auffassung des Faschistischen als autoritär, nationalistisch, rassistisch — insbesondere antisemitisch —, militant und (Männer-)Gewalt verherrlichend, hochgradig deckt mit als gültig erachteten Definitionen von „rechtsextrem“. Und es ist bedauerlich, weil Reich zusätzlich ausschlaggebende Punkte einbrachte wie die gegenseitige Abhängigkeit von Führern und Geführten und die Mitverursachung „rechter“ Tendenzen durch lust- und körperfeindliche Religionen, durch Unterdrückung von Kindern, Frauen und Sexualität, kurz: durch das Patriarchat.
Erst diese „ganz normale“ autoritäre, gefühls- und sexualitätsunterdrückende Sozialisation machte aus psychisch noch recht gesunden Säuglingen zahme Untertanen, Rassisten und zerstörungswillige Fanatiker — und damit: potentielle Faschisten.
Von der Auseinandersetzung mit Reich könnten deshalb zahlreiche Forschungsarbeiten zum Faschismus profitieren, bieten sie doch in aller Regel keine befriedigenden Antworten auf zwei entscheidende Fragen: Welcher psychische Zustand versetzte Menschen in die Lage, sich aktiv an so destruktiven Bewegungen wie der nationalsozialistischen oder gar am Holocaust zu beteiligen — und wie wurde dieser Zustand herbeigeführt?
Beispielsweise weist der Soziologe Stefan Kühl (2) zwar zu Recht darauf hin, dass Indoktrination, Sadismus, Judenhass, Fanatismus nicht genügen, um Holocaustverbrechen zu begründen. Bei Reich hätte er jedoch lesen können, dass hinter diesen Symptomen Persönlichkeitsstrukturen stehen, die in der Tat einen hohen Erklärungswert besitzen. Da Kühl dies ausblendet, ist seine Vorstellung, wie Organisationen Mordimpulse provozieren — nämlich unter anderem durch „Zwang“, „Kameradschaft“ und „Geld“ —, nicht überzeugend.
Wie Kühl selbst (3) belegt, war niemand gezwungen, sich an diesen Gemetzeln zu beteiligen. Er bleibt auch die Antwort schuldig, wie gemeinsames Morden zu „Kameradschaft“ verdreht und die Bedeutung von Geld so überhöht werden konnte, dass sich damit das zehntausendfache Abschlachten hilfloser Frauen, Kinder und Greise motivieren ließ.
Aktuelle Brisanz
„Überholt“ war Reichs Massenpsychologie zu keinem Zeitpunkt. Mittlerweile hat sie erneute Aktualität erhalten: durch den nicht nur in Europa zu beobachtenden politischen „Rechtsruck“. Auch wenn das Ende der Weimarer Republik der aktuellen Situation in Deutschland ebenso wenig einfach gleichgesetzt werden kann wie die NSDAP der AfD, gibt es doch frappierende, zum Teil auch erschreckende Parallelen.
Reichs nun redigiertes, mit einem umfangreichen Anhang versehenes Buch kann helfen, aus den damaligen Fehlern zu lernen, kann dazu beitragen, die galoppierende Entdemokratisierung hierzulande besser zu durchschauen — und sie so vielleicht einzudämmen.
Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus (1933/2020), Auszüge (4)
„Der Faschismus hat gesiegt …“
Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitszielen der arbeitenden Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus. Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeutung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer betroffenen Menschen, für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen.
Die Formen, unter denen sich die Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzog, erteilten dem internationalen Sozialismus eine unauslöschliche Lehre: dass die politische Reaktion sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirklichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern nur durch Weckung echter revolutionärer Begeisterung, nicht mit bürokratisierten Parteiapparaten, sondern nur mit innerlich demokratischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbeiterorganisationen und überzeugten Kampftruppen schlagen lassen wird. Sie belehrten uns, dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Entmutigung der Massen führt, wenn die eiserne Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirklichkeit enthüllt.
Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft.
„Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger …“
Man behindert die Entfaltung dieser geschichtlichen Kraft, wenn man die nationalsozialistische Bewegung als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Grosskapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und mit grossem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert.
Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen.
Wer die Überzeugung von der wirklichen sozialistischen Schlagkraft der werktätigen Massen nicht hat und wer die positiv revolutionären Kräfte, die im Nationalsozialismus gebunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird auch keine neue Praxis der Revolution entwickeln können.
Warum die „Linke“ versagte
Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenannten „subjektiven Faktor“ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte, noch erfasste; sie unterliess es vor allem, die Methode des dialektischen Materialismus immer neu anzuwenden, immer lebendig zu erhalten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung mit dieser Methode neu zu erfassen.
Radikal sein, heisst „die Dinge an der Wurzel fassen“, sagte Karl Marx; fasst man die Dinge an der Wurzel, begreift man ihren widerspruchsvollen Prozess, dann ist die revolutionäre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so landet man, ob man will oder nicht, ob man sich dialektischer Materialist nennt oder nicht, im Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise eine falsche Praxis. Wenn die Arbeiterbewegung versagte, so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärtsentwicklung aufhalten, nicht restlos, wahrscheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht erkannt sein.
Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlichstes Kennzeichen ist, die dialektisch-materialistische Methode praktisch durch Nichtanwendung zu negieren, musste daher zur Auffassung gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen Ausmasses wie die 1929 bis 1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse. Während sogar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von einem „revolutionären Aufschwung“ in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu einer extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten und derjenigen, die in tieferes Elend als bisher versanken, geführt hatte. Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte.
Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage nicht gestellt werden, wie ein Nationalistischwerden der breiten Masse in der Pauperisierung möglich ist. Mit Worten wie „Chauvinismus“, „Psychose“, „Folgen von Versailles“, lässt sich etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Verelendung rechtsradikal zu werden nicht praktisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten.
Vulgärmarxismus ist Psychologiefeindlichkeit
In die Zeit des rapiden Niedergangs der deutschen Wirtschaft 1929 bis 1932 fällt der grosse Sprung der NSDAP von 800.000 Stimmen im Jahre 1928 auf 6,4 Millionen im Herbst 1930, 13 Millionen im Sommer 1932 und 17 Millionen im Januar 1933. Nach einer Berechnung, die ich auf ihre Genauigkeit nicht überprüfen konnte, enthielten bereits die 6,4 Millionen nationalsozialistischen Stimmen etwa drei Millionen ökonomisch-proletarische, und zwar 60 bis 70 Prozent Angestellte und 30 bis 40 Prozent Arbeiter.
Um dies zu begreifen, müssen wir uns zunächst von einigen vulgärmarxistischen Auffassungen befreien, die den Weg zum Verständnis des Faschismus versperren. Es sind im wesentlichen folgende:
Der Vulgärmarxismus trennt schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, dass die Ideologie und das „Bewusstsein“ der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden. So gelangt er zu einer mechanischen Gegenüberstellung von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und Ueberbau; er macht die Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft und übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem Grunde ist ihm das Problem der sogenannten „Rückwirkung der Ideologie“ verschlossen.
In der Tat sträubt er sich gegen die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, indem er sie als „Psychologie“, die unmarxistisch sei, abtut, und überlässt die Handhabung des subjektiven Faktors, des sogenannten „Seelenlebens“ in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion.
Dem Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein von vornherein metaphysisches System und er denkt nicht daran, den metaphysischen Charakter der bürgerlichen Psychologie von ihren materialistischen Grundelementen, die die bürgerliche psychologische Forschung erbringt und die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen. Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsachen wie „Trieb“, „Bedürfnis“ oder „seelischer Prozess“ als „idealistisch“ verwirft.
Er gerät dadurch in grösste Schwierigkeiten und erntet nur Misserfolge, weil er gezwungen ist, in der politischen Praxis unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen et cetera zu sprechen. Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus und schlimmeres, etwa indem er eine historische Situation aus der „Hitlerpsychose“ erklärt oder die Massen tröstet, sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen und so fort.
Über Marx hinaus
Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens, wie das geschieht, was dabei „im Menschenkopfe“ vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.
Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klassengesellschaft oder die kapitalistische Produktionsweise erklären (sofern sie solches versucht, kommt regelmässig reaktionärer Unsinn heraus, zum Beispiel der Kapitalismus sei eine Erscheinung der Habgier der Menschen), wohl aber ist allein sie befähigt — und nicht die Sozialökonomie — zu erforschen, wie der Mensch einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit diesem Dasein fertig zu werden versucht etc. Sie untersucht zwar nur den einzelnen Menschen, wenn sie sich aber zur Erforschung der einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe et cetera gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse spezialisiert und das Unterschiedliche ausschaltet, wird sie zur Massenpsychologie.
Sie knüpft dabei an Marx selbst an:
„Der Mensch ist selbst die Basis seiner materiellen Produktion wie jeder anderen, die er verrichtet. Alle Umstände also, die den Menschen, das Subjekt der Produktion affizieren, modifizieren mehr oder weniger alle seine Funktionen und Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, dass alle menschlichen Verhältnisse und Funktionen, wie und wann sie sich immer darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie einwirken.“
Wir sagen also keine Neuigkeiten und revidieren nicht Marx, wie wir sicher zu hören bekommen werden: „Alle menschlichen Verhältnisse“ — dazu gehören die Verhältnisse des Arbeitsprozesses ebenso wie die persönlichsten und privatesten und die höchsten Sublimierungen des menschlichen Trieblebens und Denkens, also auch etwa das Geschlechtsleben der Frauen und Jugendlichen und Kinder ebenso wie der Stand der marxistischen Forschung über diese Verhältnisse und ihre Anwendung auf neue gesellschaftliche Fragen.
Wenn eine Ideologie auf den wirtschaftlichen Prozess rückwirkt, muss sie zu einer materiellen Kraft geworden sein. Wenn eine Ideologie zur materiellen Kraft wird, sobald sie Massen ergreift, so müssen wir weiter fragen: Auf welchem Wege geschieht das? Wie wird die materielle Auswirkung eines ideologischen Tatbestandes möglich, also etwa einer Theorie, die geschichtsumwälzend wirkt? Die Antwort auf diese Frage muss gleichzeitig die Antwort auf die Frage nach der Praxis der Massenpsychologie sein.
Wie wird Ideologie zur „materiellen Gewalt“?
Die Menschen unterliegen ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: direkt der unmittelbaren Einwirkung ihrer ökonomischen und sozialen Lage, und indirekt vermittels der ideologischen Struktur der Gesellschaft; sie müssen also immer einen Widerspruch in ihrer psychischen Struktur entwickeln, der dem Widerspruch zwischen der Einwirkung durch ihre materielle Lage und der Einwirkung durch die ideologische Struktur der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa ist sowohl seiner Klassensituation wie der allgemeinen Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt. Indem die Menschen der verschiedenen Schichten aber nicht nur Objekte dieser Einwirkungen sind, sondern sie auch als tätige Subjekte reproduzieren, muss ihr Denken und Handeln ebenso widerspruchsvoll sein, wie die Gesellschaft, der es entspringt.
Indem aber eine Ideologie die psychische Struktur der Menschen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen Menschen reproduziert, sondern — was bedeutsamer ist —, sie ist in Gestalt des derart konkret veränderten und infolgedessen verändert und widerspruchsvoll handelnden Menschen zur aktiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden. Auf diese Weise wird die Rückwirkung der Ideologie einer Gesellschaft auf die ökonomische Basis, der sie entsprang, möglich, und nur auf diese Weise. Die „Rückwirkung“ verliert ihren anscheinend metaphysischen oder psychologistischen Charakter, wenn sie in ihrer materiellen Gegebenheit als psychische Struktur des handelnden Menschen erfasst werden kann. Als solche ist sie dann Objekt der naturwissenschaftlichen, das heißt marxistischen Psychologie.
Warum leisten die Unterdrückten so wenig Widerstand?
Wir haben bisher gesehen, dass die wirtschaftliche und ideologische Situation der Massen sich nicht decken müssen und sogar beträchtlich auseinanderfallen können. Wir müssen nun weiter feststellen, dass die ökonomische Lage sich nicht unmittelbar und direkt in politisches Bewusstsein umsetzt. Wäre das der Fall, die soziale Revolution wäre längst da.
Entsprechend diesem Auseinanderfallen von ökonomischer Lage und Ideologie oder politischem Bewusstsein muss die Untersuchung der Wirklichkeit eine doppelte sein: Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Ideologie grob gefasst aus dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss die wirtschaftliche Situation mit anderer Fragestellung erfasst werden als die ideologische Struktur: jene sozialökonomisch, diese psychologisch.
Wir wollen das Gesagte an einem einfachen Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die infolge Lohndrucks hungern, streiken, so ergibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirtschaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hungernden, der stiehlt. Zur Erklärung des Diebstahls aus Hunger oder des Streiks aus der Ausbeutung bedarf es keiner weiteren psychologischen Erklärung. In diesem Falle entsprechen Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichen Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken sich. Die bürgerliche Psychologie pflegt in diesem Falle psychologisch erklären zu wollen, aus welchen angeblich irrationalen Motiven gestohlen oder gestreikt wird, was immer zu reaktionären Erklärungen führt. Für die dialektisch-materialistische Psychologie steht die Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt.
Die Sozialökonomie erklärt also einen gesellschaftlichen Tatbestand restlos dann, wenn das Handeln und Denken rational-zweckmässig ist, das heisst der Bedürfnisbefriedigung dient und die ökonomische Situation unmittelbar wiedergibt und fortsetzt. Sie versagt, wenn das Denken und Handeln der Menschen der ökonomischen Situation widerspricht, also irrational ist.
Die Fragestellung der marxistischen Massenpsychologie setzt also gerade dort an, wo die unmittelbare sozialökonomische Erklärung versagt. Der Ökonomismus hat bisher übersehen, dass die wesentlichste Frage nicht die ist, dass und wie Klassenbewusstsein beim Werktätigen vorhanden ist (das ist selbstverständlich!), sondern was die Entwicklung des Klassenbewusstseins hemmt.
Die Ablehnung der psychologischen Beobachtung und Praxis in der proletarischen Politik ergab bisher in den Diskussionen eine unproduktive politische Fragestellung. Die Kommunisten erklärten z. B. die Machtergreifung durch den Faschismus aus der illusionären, irreführenden Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung führt im Grunde in eine Sackgasse, denn es ist ja eben die Funktion der Sozialdemokratie, als objektive Stütze des Kapitalismus, Illusionen zu verbreiten. Das wird sie immer tun, solange sie besteht.
Diese Erklärung ergibt keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen „vernebelt“, „verführt“ und „hypnotisiert“. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. Es ist unproduktiv, weil es keinen Ausweg zeigt, die Politik nur auf die objektive Funktion einer kapitalistischen Partei, nämlich Stütze der kapitalistischen Herrschaft zu sein, zu begründen.
„Liegt nicht nahe zu fragen, was in den Massen vorgeht?“
Man muss natürlich die objektive Funktion der Sozialdemokratie und des Faschismus enthüllen. Die Erfahrung lehrt aber, dass die tausendfältige Enthüllung dieser Rolle die Massen nicht überzeugte, dass also die sozialökonomische Fragestellung allein nicht genügt. Liegt nicht nahe zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass sie diese Rolle nicht erkennen konnten und wollten? Mit der typischen Auskunft „Die Arbeiter müssen nun erkennen ...“ oder „Wir haben es nicht verstanden ...“ ist nicht gedient. Warum erkennen die Arbeiter nicht und warum haben wir nicht verstanden?
Der Wirklichkeit hätte entsprochen festzustellen, dass der durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch, gleichzeitig die Gegensätze von revolutionärer Einstellung und bürgerlicher Hemmung in sich trägt, dass er also weder eindeutig revolutionär, noch eindeutig bürgerlich ist, sondern in einem Konflikt steht: Seine psychische Struktur leitet sich einerseits aus seiner Klassenlage ab, die revolutionäre Einstellungen anbahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre der bürgerlichen Gesellschaft, was einander widerspricht.
Es ist nicht nur entscheidend, einen solchen Widerspruch zu sehen, sondern auch zu erfahren, worin sich konkret das Bürgerliche und das Klassenmässige im Arbeiter darstellt. Die gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für den Mittelständler. Dass er in der Krise gegen das „System“ rebelliert, verstehen wir unmittelbar. Dass er aber, obwohl bereits ökonomisch proletarisiert, trotzdem das Absinken ins Proletariat fürchtet und extrem reaktionär wird, ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu verstehen. Auch er hat also einen Widerspruch in sich zwischen rebellierendem Fühlen und reaktionären Zielen und Inhalten.
Wir erklären zum Beispiel einen Krieg soziologisch nicht vollständig, wenn wir die besonderen ökonomischen und politischen Gesetze aufdecken, die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die deutschen Annexionstendenzen, die sich vor 1914 auf die Erzbecken von Briey und Longwy, auf das belgische Industriegebiet, auf die Erweiterung des Kolonialbesitzes in Vorderasien etc. richteten. Die ökonomischen Widersprüche des deutschen Imperialismus waren zwar der entscheidende aktuelle Faktor, aber wir müssen auch die massenpsychologische Basis des Weltkrieges einordnen, wir müssen fragen, warum der massenpsychologische Boden fähig war, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen.
Die Angst vor den Folgen der Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei einer Minderzahl in Betracht. Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiss, dass sich in den proletarischen Massen verschiedenartige Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit hinein in proletarische Kreise.
Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges. Diese massenpsychologische Fundierung des Weltkrieges muss unter dem Gesichtspunkt entlarvt werden, dass die imperialistische Ideologie der Hochfinanz zu einer materiellen Kraft nur dadurch werden konnte, dass sie die Strukturen der werktätigen Massen konkret im Sinne des Imperialismus veränderte, dass es allgemeine Prinzipien der Klassengesellschaft waren, die den Krieg ermöglichten, Prinzipien, die man mit der Auskunft, dass es sich um eine „Kriegspsychose“ oder eine „Massenvernebelung“ handelte, nicht abtun kann.
Kein Krieg und kein Faschismus ohne Massenbasis
Es handelt sich offenbar um die grosse Frage, dass jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht. Ohne diese massenpsychologisch zu erforschenden Strukturen wäre der Krieg nicht möglich gewesen. Es muss eine wichtige Korrelation bestehen zwischen der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft und der massenpsychologischen Struktur ihrer Mitglieder; nicht nur in dem Sinne, dass die herrschenden Ideologien die Ideologien der herrschenden Klasse sind, sondern, was für die Lösung von praktischen Fragen der Politik bedeutsamer ist: Auch die Widersprüche der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft müssen in den massenpsychologischen Strukturen der Unterdrückten repräsentiert sein. Anders wäre nicht denkbar, dass die ökonomischen Gesetze einer Gesellschaft nur durch die „Aktion“, das heisst die psychischen Strukturen der ihnen unterworfenen Massen zur konkreten Auswirkung gelangen können.
Die proletarische Bewegung wusste zwar von der Wichtigkeit des sogenannten „subjektiven Faktors der Geschichte“; woran es mangelte, war die Erfassung des irrationalen, unzweckmässigen Handelns, anders ausgedrückt, des Auseinanderfallens von Ökonomie und Ideologie. Wenn der Werktätige weder eindeutig bürgerlich noch eindeutig revolutionär ist, sondern in einem Widerspruch zwischen reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muss sich, wenn wir diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die revolutionären entgegensetzt.
Quellen und Anmerkungen:
Die redigierte Neuausgabe ist hier zu bestellen. Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Psychosozial Verlag Gießen 2020
(1) Nicht nur hatte sich nach seiner 1939 erfolgten Flucht in die USA seine Lebenssituation gründlich gewandelt, sondern auch sein wissenschaftliches und politisches Selbstverständnis. Er hatte sich von Freud und Marx, erst recht von jeder Art Parteipolitik distanziert. Den Stalinismus ordnete er jetzt als „rote“ Spielart des Faschismus ein. Von Dezember 1941 bis Januar 1942 war er vom FBI mehrere Wochen als „gefährlicher feindlicher Ausländer“ arretiert worden — wobei ihm nicht zuletzt sein kommunistisches Engagement in Europa zur Last gelegt wurde. Und er hatte seiner Tätigkeit einen neuen Schwerpunkt gegeben: die Erforschung der von ihm „Orgon“ genannten Lebensenergie.
All das schlug sich nicht nur in Inhalt und Vokabular der dritten Ausgabe deutlich nieder, sondern auch in deren Umfang. Dieser wuchs durch das Einfügen von sechs zwischen 1935 und 1945 verfassten Texten auf mehr als das Doppelte. So wertvoll diese Ergänzungen auch waren, da sie bedeutsame Weiterentwicklungen enthielten: Von einem kohärenten Buch konnte nicht mehr die Rede sein.
Damit verschwand nicht nur das Unmittelbare der Erstausgabe. Reichs verständliches Bestreben, nun, dreizehn Jahre später, allgemeingültigere Aussagen zu treffen, ging teilweise zu Lasten der bisherigen Genauigkeit. Er suchte jetzt nach Formulierungen, die sich auf alle autoritär-despotischen, patriarchalischen Systeme — insbesondere auch auf den Stalinismus — anwenden lassen sollten. Doch viele dieser Formulierungen waren nicht geeignet, Kapitalismus, Weimarer Republik und nationalsozialistische Bewegung mit derselben Exaktheit abzubilden, wie es in der 1933er Ausgabe der Fall gewesen war.
(2) Kühl, Stefan (2018) [2014]: Ganz normale Organisationen: Zur Soziologie des Holocaust, Berlin: Suhrkamp, hier Seite 54 bis 73.
(3) Ebenda, Seite 121 bis 123, 143, 147.
(4) Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlages Gießen. Die hier wiedergegebenen gekürzten Auszüge befinden sich in der Neuausgabe auf den Seiten 11 bis 32. Auslassungen sind nicht gekennzeichnet. Die Rechtschreibung wurde unverändert aus der Neuausgabe übernommen. Die Zwischenüberschriften für die Rubikon-Veröffentlichung wurden von mir eingefügt: A.P.
Ein Viertel des Buchtextes steht zudem, eingesprochen von Sabine Falkenberg und Thomas Nicolai, zum kostenlosen Download zur Verfügung.
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