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Am Nullpunkt des Geistes

Am Nullpunkt des Geistes

Wer nach dem Ursprung des Irrsinns fragt, der unsere Epoche schüttelt, findet die Antwort im Digitalismus.

Das, „wie es mit uns, mit dieser westlichen Zivilisation gekommen“ ist, hat eine Geschichte und jede Geschichte hat einen Endpunkt. Carlos Gebauer — das war der Ausgangspunkt meiner drei Lektüren in Byung-Chul Hans „Psychopolitik“ — fragt in einem Gespräch, den kolossalen Zusammenbruch rechtsstaatlicher Strukturen und darüber hinaus aber überhaupt des Denkvermögens konstatierend, nach den Bedingungen hierfür(1). Zerfall und Rausch gingen immer Hand in Hand. Der geplante Kanzlerprunkpalast als Figur des Irrsinns — nicht der Idiotie! — passt zum letzten Akt. Und niemals zuvor musste ein solcher Prunkbau — wie war doch die deutsche Presse vor wenigen Jahren über Erdoğans neuen Palast in Ankara hergefallen — seine Entlarvung als Monument des Wahns so wenig fürchten. Weil es eben so gekommen ist, wie es gekommen ist.

Herrschaftstechniken

Jede Zivilisation hat ihre Herrschaftstechnik. Für die europäisch-westliche zeichnet Han den Ablauf folgendermaßen: Aus der feudalen Souveränitätsmacht, welche den Körper der Untergebenen malträtiert, entwickelt sich beim Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise die Disziplinarmacht.

„Die Disziplinarmacht spannt den Körper, statt ihn zu martern, in ein System von Normen ein. Ein kalkulierter Zwang durchzieht jeden Körperteil und schreibt sich bis in die Automatik der Gewohnheiten ein. Sie richtet den Körper zu einer Produktionsmaschine zu. (...) Die Disziplinarmacht ist eine Normierungsmacht. Sie unterwirft das Subjekt einem Regelwerk von Normen, Geboten und Verboten und beseitigt Abweichungen und Anomalien. Diese Negativität der Abrichtung ist konstitutiv für die Disziplinarmacht. (...) Sowohl Souveränitätsmacht wie auch Disziplinarmacht betreiben eine Fremdausbeutung. Sie bringen das Gehorsamsobjekt hervor.“

Bevor ich die Lektüre Hans auf die neoliberale Kontrollgesellschaft wende, gilt es zwei Seitenaspekte herauszustellen. Zum einen, dass Han — allein, indem er diesen Ablauf herausstellt — den dem neoliberalen System der Selbstausbeutung inhärenten Mythos streicht. Es gilt nämlich, so sagt es der Begriff der Herrschaftstechnik allein: Macht gibt es. Und es gilt nicht die woke Glättung: Macht ist eine Verschwörungstheorie und der Protest gegen sie Naziverhalten. Zum anderen: Im Kommenden ist das Vergangene nicht gestrichen, sondern in optimierter Form aufgehoben. Merkmale der Souveränitäts- und Disziplinarmacht schwinden also nicht, werden vielmehr ausgeweitet und bewusstseinsmäßig auf „irreversibel“ gestellt. Bei Bedarf — die Einsätze der Berliner Polizei während Corona sind Beispiel hierfür, die Übergriffe der Justiz auf Bürger ebenso — wird sodann durchaus auf Disziplinierung und Malträtierung in archaischer Form zurückgegriffen. Die Techniken lösen einander also nicht einfach ab, sie vervollkommnen sich. Dieser Aspekt geht bei Han vergessen.

Von der Fremd- zur Selbstausbeutung

Die an die Disziplinargesellschaft anschließende Selbstausbeutung, die im Zentrum meiner zweiten Lektüre im Han-Büchlein steht und technologisch über die Digitalisierung beziehungsweise die „Smartisierung“ der Welt läuft, unterscheidet sich sodann von der Disziplinarmacht im Wesentlichen dadurch: Sie geht über den Gehorsam hinaus. So sind es in der digitalen Rundum-Kontrollgesellschaft, in die wir eingetreten, nicht lauter parierende Gehorsamssubjekte, die an der Straße stehen und salutieren, wenn die Polizei dissidente Demonstranten zusammenprügelt. Mit Gehorsam — oft von coronaskeptischen Kreisen als Erklärung bemüht — kann deshalb der gesellschaftliche Zustand, in dem wir uns befinden, gerade nicht ausreichend erklärt werden. Und damit auch die Frage „Wie konnte es so kommen?“ nicht beantwortet, selbst wenn der Gehorsam weiterhin eine wichtige Rolle spielt.

Die Differenzierung, die sich in der neoliberal-digitalen (Selbst-)Kontrollgesellschaft gegenüber der reinen Disziplinartechnik ergibt, ist entscheidend für das Verständnis dessen, was in diesen Corona- und generell in diesen Einheitshaltungstagen geschieht. Die beiden Herrschaftstechniken voneinander abgrenzend, schreibt Han:

„Die Disziplinarmacht entdeckt die ‚Bevölkerung‘ als Produktions- und Reproduktionsmasse, die es sorgfältig zu verwalten gilt. Ihr widmet sich die Biopolitik. Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer werden zum Gegenstand regulierender Kontrollen. (...) Die Biopolitik ist die Regierungstechnik der Disziplinargesellschaft. Die ist aber ganz ungeeignet für das neoliberale Regime, das vor allem die Psyche ausbeutet. Die Biopolitik, die sich der Bevölkerungsstatistik bedient, hat keinen Zugang zum Psychischen. (...) Darin unterscheidet sich die Statistik von Big Data. Aus Big Data lässt sich nicht nur das individuelle, sondern auch das kollektive Psychogramm, womöglich das Psychogramm des Unbewussten herstellen. Dadurch wäre es möglich, die Psyche bis ins Unbewusste auszuleuchten und auszubeuten.“

Optimierung und das Ende der Kritik aller Vernunft

Die neoliberale Selbstausbeutung kennzeichnend, schreibt er weiter:

„Zur Steigerung der Produktivität werden nicht körperliche Widerstände überwunden, sondern psychische oder mentale Prozesse optimiert. Die körperliche Disziplinierung weicht der mentalen Optimierung. (...) Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, (...) dass es (das Individuum, DS) den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fallen hier in eins.“

Die Auseinandersetzung mit Big Data — dem Kern des zivilisatorischen beziehungsweise erkenntnistheoretischen Super-GAUs — an dieser Stelle noch ausklammernd, gilt es festzuhalten, dass Han mit diesen Aussagen eine wesentliche Grundlage für den Verlust der Kritikfähigkeit kennzeichnet, einen Verlust, den die Menschen der Geburtsjahre 1950 bis 1975 konkret und anschaulich erleben konnten beziehungsweise mussten. Etwa bei der Verwandlung zumindest scheinbar offener — und partiell auch echt subversiver — Bildungsanstalten in „uniforme“ Repressionskörper im Sinne einer Freiheit, welche Nazis braucht, um sich von ihnen reinzuwaschen. Wenn Freiheit und Ausbeutung im Bewusstsein zusammenfallen, fehlt die Grundlage für Machtkritik beziehungsweise dafür, Herrschaftstechniken überhaupt erst als solche zu erkennen. Was als Herrschaft beziehungsweise Zwang erlebt wird, ist das Eigene und/oder aber das grundsätzlich Gegebene (die Natur). Und bei Irritation oder Schmerz und Leid setzt statt politischem Widerstand Therapie ein, „die jede funktionelle Schwäche, jede mentale Blockade im Namen der Effizienz und Leistung weg zu therapieren hat. Die permanente Selbstoptimierung, die gänzlich mit der Optimierung des Systems zusammenfällt, ist destruktiv. Sie führt zu einem Mentalkollaps.“

Kollaps, Fanatismus und Haltungsdiktatur

Das ist der Zustand, den wir heute konstatieren. Im Zustand des Kollapses kann die Zivilgesellschaft einer Herrschaft und ihrer Inszenierung — sei diese noch so stumpfsinnig, kindisch oder ätzend plump propagandistisch — im Grunde nichts entgegensetzen, sie kann nur „alternativlos“ teilnehmen im Glauben, die Teilnahme sei Freiheit. Der Fundamentalismus und Totalitarismus, den die westliche Welt seit jeher und besonders in diesen Tagen stets bei „den Anderen“ verortet, ist damit systemisch gesetzt. Han schreibt:

„Die neoliberale Ideologie der Selbstoptimierung entwickelt religiöse, ja fanatische Züge. (...) Statt nach Sünden wird nun nach negativen Gedanken gefahndet.“

Damit ist die über Instrumente wie Genderismus und Wokeness implementierte Haltungsdiktatur als systemimmanent im Grunde erklärt. Negative Gedanken sind solche, welche der Optimierung des Systems entgegenstehen. Sie sind — und nichts scheint selbstverständlicher und „natürlicher“, weil präreflexiv in den „Subjekten“ verankert — auszumerzen, angeschrieben als „umstritten“, „rechts“ oder — in Form von Nomen — als Querdenker, Putinversteher, Verschwörungstheoretiker, Covidioten, Nazis et cetera.

Es ist wesentlich zu erkennen, dass und weshalb es so einfach ist, diese Kategorien zu setzen. Sie setzen sich nämlich aus dem Optimierungsansatz selbst.

Das Störende, „Entschleunigende“ — jede vertiefte Reflexion, jede von einem Geschichtsbewusstsein geprägte Analyse wie über das Geschehen in der Ukraine — verhindert die gewünschte Optimierung. Wohingegen ein gleichgeschalteter Universitätskörper, wie der der Universität Zürich, der eine Propagandarede des ukrainischen Präsidenten mit Standing Ovation goutiert, beschleunigt und jede Reflexion bereits prophylaktisch glättet.

Ich würde das auch als Beispiel anfügen, hätte da der russische Präsident vorgesprochen, gesprochen aber hat Selenskyj, für einmal ohne Nazi-Abzeichen auf seiner Kleidung.

Indes, nicht weil das „böse Menschen“ wären, die gleichgeschaltet den zugeschalteten Präsidenten beklatschen, sondern weil sie systemisch ausgehöhlt und „entinnerlicht“ sind — zur Entinnerlichung vergleiche Lektüre 2 — beziehungsweise ihnen die Basis für Kritik durch die Verlegung der Herrschaft ins Subjekt hinein — ein Subjekt, das in der Tat aber eine Außenstelle ist — genommen ist. Ein Saal voller Hohlräume, als Akademiker angeschrieben: Das ist das Bild der Zivilisation, in der wir leben.

Beschleunigung

Zwischenbemerkung: Der Vorgang der Beschleunigung bedeutet nichts anderes als eine Optimierung der einen und einzigen Richtung, in die alles geht, und damit eine Beschleunigung der Beschleunigung selbst — zur Beschleunigung vergleiche auch hier die erste Lektüre. Talkshows mit Lanz oder Maischberger sind eindrücklich Manifestationen solcher Beschleunigungsprozesse auf ganzer Breite. Im Sinne eines kurzen Seitenverweises sei festgehalten: Ein Leben in der Beschleunigung ist ein Leben auf ständiger Flucht. Attribute dieser Flucht sind Zahlen und Formeln, ja oder nein. Diese fungieren als Totalausweichmanöver vor der Wirklichkeit. Sie bannen das Wirkliche, entschärfen, domestizieren es, dienen der Kontrolle. Dass eigenständiges, emanzipatives Bewusstsein dieses ganze Manöver nur stören kann, ist evident.

Verschiebung des Totalitären

Gesellschaften, die gegen das bewusst außen verortete Totalitäre vorzugehen hatten, gegen einen Feudalherren, einen Diktator, hatten eine bessere Ausgangslage als Gesellschaften, bei denen das Totalitäre als Freiheitsidee in die Subjekte geschlüpft ist und dort das Innere verdrängt hat — ein von allem Innern bereinigtes Innere ist kein Inneres mehr —, wobei die „Subjekte“ dabei naturgemäß den Status als autonome Subjekte verloren haben und Teil einer konformen äußeren Masse geworden sind, eben beispielsweise eines universitären Körpers, der eine Propagandarede beklatscht.

Wenn das totale Chaos rechtzeitig noch ausbricht, bevor die Subjekte technologisch gänzlich in digitale Apparate überführt worden sind und der nicht apparatetaugliche Restbestand der Menschheit wieder gänzlich mittels Malträtierung erledigt werden kann, wie das im Ansatz schon geschieht — beispielhaft sei ein Justin Trudeau als Vollstrecker genannt, als Opfer Julien Assange, aber auch ein Michael Ballweg —, dann könnte sich eine (trotz Smartphones, trotz Digitalisierung) verbliebene Restautonomie, indem sie die „Chance“ noch bekäme, sich konkret an Macht zu reiben, die dann nicht mehr zu verschleiern und durch Eliten in den Bereich von Mythen und Märchen zu verschieben wäre, über diese Reibung in einer Art politischen Wiedererweckungsorgasmus wieder „zu sich zu kommen“. Wie realistisch eine solche Option ist, sei dahingestellt.

Die Verschiebung des Totalitären ist wesentlich für das, „wie es so kommen konnte“. Für das woke Publikum existiert das Totalitäre in der Tat nicht, mag es noch so drastisch sein. Han schreibt: „Dem digitalen Panoptikum fehlt jener Big Brother, der uns Informationen gegen unseren Willen entreißt. Vielmehr enthüllen, ja entblößen wir uns aus freien Stücken.“ Schauen Sie sich auf einem grünen Parteitag um: Big Brother ist da nirgendwo, weil überall.

Apple-Werbespot 1984

Die im Kern angelegte strategisch raffinierte Perversion dieser Herrschaftstechnik sieht Han mit dem im Sinne einer Ur- oder Schöpfungsszene vorgebrachten legendären Werbespot von Apple aus dem Jahre 1984 metaphorisch herausgestellt. Er schreibt:

„In ihm (Werbespot, DS) inszeniert sich Apple als Befreier gegen Orwells Überwachungsstaat. Im Gleichschritt betreten willenlos und apathisch wirkende Arbeiter eine große Halle und lauschen der fanatischen Rede des Großen Bruders auf dem Teleschirm. Da stürmt eine Läuferin in die Halle, verfolgt von der Gedankenpolizei. Sie läuft unbeirrt nach vorne, vor ihrem wogenden Busen trägt sie einen großen Vorschlaghammer. Entschlossen rennt sie auf den Großen Bruder zu und schleudert den Hammer mit voller Wucht in den Teleschirm, der daraufhin lichterloh explodiert. Die Menschen erwachen aus ihrer Apathie. Eine Stimme verkündet: ‚On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like «1984».‘ Entgegen Apples Botschaft markiert das Jahr 1984 nicht das Ende des Überwachungsstaats, sondern den Beginn einer neuartigen Kontrollgesellschaft, die in ihrer Effizienz den Überwachungsstaat von Orwell um ein Vielfaches übertrifft. Kommunikation fällt restlos mit Kontrolle zusammen. Jeder ist das Panoptikum seiner selbst.“

Nicht nur, dass angesichts von Netzüberwachungsgesetzen und dem fortwährenden Abgreifen sämtlicher Daten durch Facebook, Google und Co dieser Werbespot zum vollkommenen Hohn oder allerbesten Sarkasmus gerät, vielmehr gilt sich bewusst zu machen, dass dieses von Han herausgestellte Panoptikum von Anfang an gemeint war und nichts anderes. Unwissende Marionetten und Nerds, an der Apple-Show beteiligt, ändern daran nichts.

Emotion als Schmiermittel und Abschied von der Vernunft

Um den Prozess zu diesem selbstoptimierten Panoptikum gänzlich zu begreifen, ist hierbei die Funktion von Emotionen noch genauer herauszustellen, gerade auch in Abtrennung von der Disziplinarherrschaft. Han schreibt:

„Die heutige Konjunktur der Emotion wird nicht zuletzt durch die neue immaterielle Produktionsweise (der Begriff ist meines Erachtens irritierend, geht es doch um digital-algorithmisch gesteuerte Prozesse, aber nicht um Immaterielles, DS) bedingt, in der der kommunikativen Interaktion immer mehr Bedeutung zukommt. (...) Aufgrund dieser Entwicklung wird die ganze Person in den Produktionsprozess verbaut. (...) Nun wird das Soziale, die Kommunikation, ja das Verhalten selbst ausgebeutet. Emotionen werden als Rohstoffe eingesetzt, um die Kommunikation zu optimieren.“

Das wirkt sich auch auf der Ebene der Steuerung aus:

„Der heutige Manager verabschiedet sich vom Prinzip des rationalen Handelns. Er gleicht immer mehr einem Motivationstrainer. Motivation ist an Emotion gebunden.“

In diesen wenigen Zeilen ist Bedeutendes über die Bedingungen dessen, „wie es so kommen konnte“, ausgesagt. Selbst Steuerungsinstanzen haben sich von Logik abgetrennt, der Wahnsinn ist demnach nicht (mehr) zynisch als Programm angelegt, sondern er hat systembedingt eben auch die Steuerung selbst erfasst. Dass es bei einer solchen Ausgangslage schwierig ist, irgendeine Korrektur vorzunehmen, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gezeigt und zeigt sich, mit Blick auf die Regierung in Berlin, weiterhin mit aller Drastik. Wobei es sich am Ende nicht mehr schlüssig sagen lässt, ist die Gesamtanlage (konkret also diese westliche Zivilisation) naturgemäß zwar imperialistisch, in diesem Rahmen jedoch durchaus noch rational konzipiert worden, oder hat sich der Wahn sozusagen noch vor der Erfassung der Massen, die in Produktionsketten verbaut werden, in Kreisen breitgemacht, deren Entscheidungen — auf Kapital und also Macht basierend — Auswirkungen auf die ganze Zivilisation haben. Zu denken wäre hierbei an erste Strategien des US-Imperialismus, generell an Allmachts-, Exzeptionalismus- und Eugenikkonzepte im anglikanischen Bereich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Fundamental denkt der Philosoph Jochen Kirchhoff die Frage weiter, wenn er die ontologischen Prämissen der abstrakten Naturwissenschaft und ihren säkularisierten messianischen Drang zur Weltenformel im Sinne einer Erlösung oder Endglättung oder Totalentschärfung der Wirklichkeit de-konstruiert. Er erkennt darin einen Ausdruck eines neurotischen Sicherheitsdenkens, eines grundsätzlichen Versagens angesichts von Leben als Vielheit und Singulärem, das sich nicht mit Zahlen und Daten kontrollieren lässt, erkennt darin einen Ausdruck von Faschismus. Für diese nahrhafte Ausweitung der Reflexion Hans ist Jochen Kirchhoffs Buch „Räume, Dimensionen, Weltmodelle“ sehr zu empfehlen (2).

Präreflexive Steuerung

Han schließt seinen Essay „Der Kapitalismus der Emotionen“ mit der Feststellung:

„Die neoliberale Psychopolitik bemächtigt sich der Emotion, um Handlungen auf dieser präreflexiven Ebene zu beeinflussen. Über Emotion greift er tief in die Person ein. So stellt sie ein sehr effizientes Medium der psychopolitischen Steuerung der Person dar.“

Derart gesteuerten Menschen wird erkenntnistheoretisch durch einen, wie Han treffend sagt, „präreflexiven“ Mechanismus der Boden für Reflexion genommen, die nur auf der Grundlage von Abgleich, Abwägung und der Fähigkeit zum Einnehmen von Perspektiven gedeihen kann. Sie sind nur noch erreichbar für das Eine der beschleunigten Richtung, also für Propaganda — wieder das Bild der versammelten Universität Zürich in Standing Ovation für Selenskyj —, jedoch nicht mehr für Standpunkte außerhalb. Solche Massen können den Wahnsinn, dem sie systemisch verpflichtet sind, nicht erkennen, weder denjenigen, dem sie ausgesetzt sind und den sie beklatschen, und schon gar nicht denjenigen, den sie selber durch preäreflexive Steuerung erzeugen.

Mit der Emotionalisierung aber ist die Infantilisierung (3) und die „Gamifizierung“ mit gesetzt, beides Jahre vor Corona. Im Grunde zielen alle drei Begriffe gleichermaßen auf den Prozess einer präreflexiven Steuerung der Zivilisation. Wobei die Gamifizierung abgetrennt werden muss von autonomen, emanzipativen Erfahrungen und Erkenntnis, die über Spiel erlangt werden. Die Gamekultur in der digitalen Zivilisation hat mit solchen Erfahrungen nichts zu tun, ja ist solchen geradezu entgegengesetzt.

Han schreibt differenzierend dazu:

„Das wahre Glück verdankt sich dem Ausschweifenden, dem Ausgelassenen, dem Überschüssigen (...) nämlich dem Luxieren von der Notwendigkeit, von der Arbeit und Leistung, vom Zweck. Heute ist aber selbst der Überschuss vom Kapital vereinnahmt und wird dadurch seines Emanzipationspotenzials beraubt. Zum (nicht kapitalistischen, DS) Luxus gehört ferner das Spiel, das aber vom Arbeits- und Produktionsprozess abgekoppelt ist. Die Gamifizierung als Produktionsmittel zerstört das Emanzipationspotenzial des Spiels. Das Spiel macht einen ganz anderen Gebrauch der Dinge möglich, der diese von der Theologie und Teleologie des Kapitals befreit.“

Spiel in Trümmern

Auf ein Beispiel von Kindern in Griechenland verweisend, die in Ruinen ein großes Bündel von Geldscheinen gefunden und im daraufhin erfundenen Spiel zerrissen haben, schreibt Han: „Diese Kinder nehmen womöglich unsere Zukunft vorweg: Die Welt liegt in Trümmern. In diesen Ruinen spielen wir wie jene Kinder mit Geldscheinen und zerreißen sie.“ Ich sehe mich bereits in diesem Winter an diesem Spiel teilnehmen — wenn es die Gesundheit erlaubt. Die Trümmer werden unschwer zu finden sein.

Dass dieses „Kindsein“ jener vom Neoliberalismus implementierten, an die Emotionsausbeutung gekoppelten Infantilisierung qua Ausdruck eines präreflexiven Verhaltens entgegensteht, ist, wie gesagt, evident. Im Deutschen bieten sich hierfür die beiden Begriffe „kindlich“ und „kindisch“ zur Unterscheidung an.

Der Boden, worauf das gedeihen konnte, was „so gekommen ist“, ist ein ganz und gar kindischer, „gamifizierter“ und „smarter“. Dass die auf diesem Boden qua Hölle des Gleichen kultivierte und in jedem Werbespot vorexerzierte Sorglosigkeit der Crash der Menschheit ist und ihn vollzieht, kann die wenigen, die noch halbwegs zu einer zweiten Perspektive fähig sind, nicht erstaunen.

Big Data als Endlager

Der Kern der Sache und damit der Antwort, die wir suchen, stellt Han in seinem Essay über Big Data heraus. Big Data ist das Produkt einer sich optimierenden, atomisierten Gesellschaft, die den Menschen nicht nur diszipliniert, sondern vielmehr bis in alle Emotionen unter grundsätzlicher Zerstörung der Logik mittels Infantilisierung und Gamifizierung steuert. Dieser Steuerung sind wir alle — auch die coronakritischen Menschen — ausgesetzt und eingeschrieben. Die Muster, die damit angelegt sind, erfassen, weil sie den ganzen Menschen verbauen, alle. Ausnahmslos. In diesem Sinne ist Big Data — um es mit einer politischen Metapher zu sagen — das große Endlager.

Big Data legt die Zielsetzung offen: Die einzelnen in meiner Lektüre 1 und 2 und die in diesem Beitrag bislang diskutierten und bei Han eingelesenen Komponenten zielen darauf, das Dasein und — um es unmissverständlich ontologisch zu sagen — das Sein selbst in Daten aufzulösen. Es handelt sich, nach allem, was wir als Menschen wissen können, um die größte Entschärfungsmaschinerie aller Zeiten.

Die Auflösung des Seins in Daten ist letztlich ein Begehren, das aus Angst und Panik heraus agiert. So wie die westliche Zivilisation aus Angst und Panik bis auf den heutigen Tag agiert. Wenn indigene Kulturen, also Menschen, und Tiere sowieso ausgelöscht wurden, so ist das als Vorstufe zur Auslöschung des Menschen schlechthin zu begreifen — zur Auflösung des Seins in Daten.

Wird Verhalten zum Datum, zum Code, dann ist alles kontrolliert und tot, und es bleibt nichts mehr oder bildlich: Dann ist die Menschheit als Ganzes ausgelöscht.

Das kann man angesichts der Verheerungen, die der Mensch herbeigeführt hat — eben beispielsweise die Vernichtung indigener Kulturen, den Holocaust, den Mord an Tieren und Pflanzen und zum Ende eben die Auslöschung durch Big Data selbst —, begrüßen. Diesem Begrüßen bleibt aber der erkenntnistheoretische Mangel des Widerspruchs eigen. Ein Begrüßen, ausgeführt von einer Instanz, die sich selbst streicht, bleibt ein logischer Widersinn und ist den Strom nicht wert, den die Aussage, elektronisch erzeugt, benötigt. Auf einer solchen Basisstufe des Widersinns möchte zumindest ich nicht abtreten.

Auch Coronaskeptische beim Dataismus mit dabei

Daten aber — wir nähern uns hiermit nochmals ein Stück weiter dem Kern der Antwort auf Carlos Gebauers Frage „Wie konnte alles so kommen?“ — werden auch von coronakritischen Menschen erzeugt, benutzt, bespielt, verschoben. Das ontologische (reduktive) Verhalten coronakritischer Menschen unterscheidet sich nicht oder zu wenig vom Verhalten derjenigen, die offen in die Coronasekte und damit verbunden in den Staatsgehorsam hineingestürmt sind. Die Erkenntnis, dass dem Digitalismus grundsätzlich die Knechtschaft eigen ist, fehlt — so stelle ich fest — auch weitgehend in der Dissidenz.

Han schreibt:

„Der Dataismus, der glaubt, jede Ideologie hinter sich lassen zu können, ist selbst eine Ideologie. Der Dataismus führt zu einem digitalen Totalitarismus. Notwendig ist daher eine dritte Aufklärung, die uns darüber aufklärt, dass die digitale Aufklärung in Knechtschaft umschlägt.“

Hier schließt, Han ausweitend, eine grundsätzliche Reflexion darüber an, auf welchen Prämissen und folgerichtig auf welchen Ideologismen der Mechanismus, Dinge und Verhalten oder salopp gesagt: das Leben selbst in Daten zu überführen, im Kern beruht. Und eine solche Reflexion muss bald feststellen: Nichts kann lebensfremder, aber auch logisch und ontologisch widersinniger sein als Leben in und als Daten abzulegen. Die zum Zweck der Handhabung des Lebens beziehungsweise seiner Kontrolle erzielte Abstraktion — beispielhaft wäre etwa an „Gesundheitsdaten“ zu denken — ist nichts anderes als Gewalt an den Dingen und am Verhalten und am Lebendigen, eine Gewalt, die am Ende mit der Gewalt der Beschleunigung (Optimierung, Effizienz) zusammengeht beziehungsweise diese ist.

Die Verwaltung alles Jüdischen durch Hitlerdeutschland und deren Effizienz — auch hier spreche ich metaphorisch, ich setze die Dinge nicht auf einer real-analogen Ebene gleich — ist insofern als Etappe hin zum Digitalismus zu sehen. Sollte es eine neue, eine andere, jetzt gänzlich undenkbare Zivilisation zu irgendeiner Zeit geben, „man“ (wer immer dies dann sein wird) wird diese Reduktion des Seins (das CERN wäre der wissenschaftliche Tempel hierfür, der Gral) als vielleicht größten Gewaltakt und womöglich kolossalste Fehlentwicklung aller Zeiten und Zivilisationen einstufen müssen. Vielleicht auch als größte Schildbürgerei. Das zu begreifen, davon sind auch die meisten Coronakritischen — umgeben von smarten Geräten und dem naiven, präreflexiv gesteuerten „Bewusstsein“, Telegram sei ganz anders und im Notfall könne man die Geräte auch abschalten — weit entfernt.

Carlos Gebauer, wir erinnern uns, fragte: „Weshalb konnte es so kommen?“ Antwort: Weil auch wir, die Kritischen, bei diesem „Kommen“ dabei waren. Weil wir selbst versäumt haben zu erkennen, dass der Boden für Reflexion durch die Digitalisierung systematisch zerstört wird. Zu schön, zu praktisch, zu bequem sind die smarten Dinge — auch so handlich für den Austausch zwischen Dissidenten. Für die Organisation des Widerstands.

Self-Tracking

Han führt diese Teilnahme beispielhaft vor. Er schreibt:

„Daten werden veröffentlicht und ausgetauscht. So gleicht das Self-Tracking immer mehr einer Selbstüberwachung. Das heutige Selbst ist ein Unternehmer seiner selbst, der sich selbst ausbeutet. Er ist gleichzeitig ein Überwacher seiner selbst. Das selbstausbeutende Subjekt führt ein Arbeitslager mit sich, in dem es gleichzeitig Täter und Opfer ist. Als selbstausleuchtendes, selbstüberwachendes Subjekt führt es ein Panoptikum mit sich, in dem es Insasse und Aufseher zugleich ist. Das digitalisierte, vernetzte Subjekt ist ein Panoptikum seiner selbst. So wird die Überwachung an jeden Einzelnen delegiert.“

Diese Selbstüberwachung erfasst mental jeden Gebraucher. Auch den Dissidenten. Mit den obigen Zeilen macht Han übrigens auch klar, dass die Disziplinierung aus der digitalen Kontrollgesellschaft nicht weg ist, im Gegenteil: Sie ist ausgeweitet, optimiert und am Ende unhintergehbar gemacht worden.

Totalgedächtnis

„Wir sind gleichsam gefangen im digitalen Totalgedächtnis. (...) Im Gegensatz zum womöglich sehr vergesslichen Big Brother vergisst Big Data nichts.“ Ein Entzug aus diesem digitalen System ist demzufolge auch für kritische Geister im Grunde nicht möglich, so lange dieses System eben ein digitales ist, das nicht vergisst. Das Nichtvergessen, dem die Reduktion von Sein auf Daten als Bedingung vorgelagert ist, allein spannt eine Totalität auf, unter der sich kein Leben entwickeln kann. Jacques Derrida formuliert die Umkehr: der Verlust des Geheimnisses. Die mit dem Totalgedächtnis verknüpfte Transparenz als Gegenfigur zum Vergessen ist die Daseinsform des Totalitarismus (4). Indem wir dieses System des Nichtvergessens von Daten über Geräte mitbedienen und mitbeliefern, partizipieren wir am Zombiedasein beziehungsweise einer „Welt“, für die die Freiheit des Vergessengehens ausgeschlossen ist. Es sei denn, es folge ein Systemcrash unerhörten Ausmaßes, ein Stromstillstand für Wochen und Monate. Vielleicht ist er näher, als wir hoffen mögen.

Bannoptikum

„Big Data lässt eine neue digitale Klassengesellschaft entstehen. Menschen, die in die Kategorie ‚Müll‘ eingeordnet sind, gehören in die unterste Klasse. Menschen mit schlechtem Scorewerte wird die Kreditvergabe verweigert. So tritt neben das Panoptikum ein ‚Bannoptikum‘. Das Panoptikum überwacht die eingeschlossenen Insassen. Das Bannoptikum ist dagegen ein Dispositiv, das die systemfernen oder systemfeindlichen Personen als unerwünscht identifiziert und ausschließt.“

Der Begriff der Klasse, den Han hier gebraucht, trifft und ist doch problematisch. Der Neoliberalismus hat eine atomisierte Gesellschaft erzeugt, welche als Voraussetzung für die Überführung von Verhalten in Daten fungiert. In diesem Sinne ist es problematisch, von Klassen zu sprechen, vor allem unter dem Aspekt, dass ein Klassenbewusstsein — zumindest außerhalb der Eliteklasse — ja nicht mehr existiert. Und doch bleiben mit der Atomisierung und der Optimierung fundamentale Hierarchien beziehungsweise Trennungen gesetzt, wobei diese Hierarchiestruktur — wie sich nun zeigt — immer gröber wird und am Ende nur noch aus einer globalen Eliteschicht und einer Biomasse darunter besteht, die zu steuern ist.

Und so zeigt die Verwendung des Klassenbegriffs, wie über „alte Muster“ (Hierarchien, Klassen) die Eliminierung des Störenden, also auch die digitale Beschleunigung funktioniert und wie auch in dieser Hinsicht die Teilnahme an dieser Eliminierung des Falschen, des Dissidenten, des Abartigen und generell die Teilnahme an der Tilgung von allem, das sich nicht in Teilchen zerlegen, nicht zu Daten verarbeiten lässt, im Grunde schon immer durch den Gebrauch digitaler Geräte allein vollzogen wird, egal, ob nun eine Ursula von der Leyen oder ein Michael Ballweg das Gerät in Händen hält.

Korrelation statt Kausalität

Damit stehen wir sozusagen vor der Kernerkenntnis.

„Big Data suggeriert ein absolutes Wissen. Alles ist messbar und quantifizierbar. Dinge verraten ihre geheimen Korrelationen, die bisher verborgen waren. Genau voraussagbar soll auch das menschliche Verhalten werden. Es wird eine neue Ära des Wissens verkündet. Korrelationen ersetzen Kausalität. Es-ist-so ersetzt Wieso. Die datengetriebene Quantifizierung der Wirklichkeit vertreibt den Geist ganz aus dem Wissen.“

Wer die Dashboards der Johns Hopkins Universität als Antreiber vor Augen hat, wer an Lothar Wielers Aussage, wonach „niemals hinterfragt werden darf“, denkt, dem wird augenblicklich bewusst, dass solche einzelne Elemente des Pandemiebetriebs im Kleinen widerspiegeln, was Han mit obigen Zeiten als Grundmuster herausstellt. Korrelationen ersetzen Kausalität: Die ganze Pandemie wurde unter dieser Vorgabe implementiert und durchgezogen. Aber auch hier gilt: Wer diese smarten Geräte und demnach auch ihre „Logik“ benutzt, wer am Digitalismus teilnimmt, ist Teil des Totalitarismus.

Unwissen als Fundament

Han schreibt weiter:

„Hegel, diesem Philosophen des Geistes, würde das Allwissen, das Big Data verspricht, als absolutes Unwissen erscheinen. Hegels Logik lässt sich als Logik des Wissens lesen. Demnach stellt die Korrelation die primitivste Stufe des Wissens dar. Eine starke Korrelation zwischen A und B besagt: Wenn A sich verändert, findet eine Veränderung auch bei B statt. Bei der Korrelation weiß man, wie stark sie auch sein mag, überhaupt nicht, warum es sich so verhält. Die Korrelation ist eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit und nicht der Notwendigkeit.“

Exakt diese Funktion der Korrelation — im Aufleuchten auf Screens und Monitoren zu sich selbst kommend, Dashboards als Mekka der Korrelationen — und damit der Zweck der präreflexiven Steuerbarkeit wurde in der Pandemie und ihrer optischen Steuerung flächendeckend vorgeführt. Visualisierung und Emotionalisierung sind in ihr aufs Unkenntliche hin verzahnt. Dagegen wird die Frage nach dem WARUM — allein sie zu stellen, machte den Stellenden in Deutschland zu einem Nazi — systematisch ausgeschlossen. Das leuchtet auch ein: Eine steuerbare Biomasse muss von allen WARUMs ferngehalten werden (Wieler: „sind nicht zu hinterfragen“) und stattdessen mit Grafiken zu sedieren und in einem fort zu verängstigen.

Am Nullpunkt des Geistes

Von Hegels Begriff der höchsten Wissensleistung, der Kausalität noch überlegen, ist Big Data so weit entfernt wie kaum ein anderer Mythos der Menschheitsgeschichte. Han schreibt, Hegel zitierend:

„Der Begriff ist das den Dingen selbst innewohnende, wodurch sie das sind, was sie sind, und einen Gegenstand begreifen heißt somit, sich seines Begriffs bewusst werden“ (5). Han folgert: „Big Data stellt nur ein sehr rudimentäres Wissen zur Verfügung, in denen nichts begriffen wird. Big Data ist ohne Begriff und ohne Geist. Das absolute Wissen, das Big Data suggeriert, fällt mit dem absoluten Unwissen zusammen.“

Und weiter:

„Das totale Data-Wissen ist ein absolutes Unwissen am Nullpunkt des Geistes.“

Dies Unwissen im Vollzug vorführend schreibt Han:

„Heute ist die Wahrnehmung selbst unfähig zum Schluss (Schließen, Begreifen, DS), denn sie zappt sich durch das endlose digitale Netz. Sie zerstreut sich total. Nur ein kontemplatives (heißt: verlangsamendes, DS) Verweilen (qua Brechung der Geschwindigkeit und damit der Gewalt, DS) ist fähig zum Schluss. Augen schließen ist ein Sinnbild für den Schluss. Der rasche Wechsel von Bildern und Informationen (= Daten) macht das Augenschließen, den kontemplativen Schluss unmöglich, so ist das Zeitalter von Big Data eine Epoche ohne Vernunft.“

Daraus wird deutlich, weshalb der Digitalismus, neben allen anderen monströsen Figuren, „Regierungen“ wie die derzeitige in Berlin hervorbringen musste. Gerade diese Regierung als Sinnbild ist, dem Begriff nach, eine Notwendigkeit, die zeigt, dass das absolute Unwissen der Daten im Wahnsinn enden muss.

Und wir alle haben daran teil. Denn nicht nur Habeck, Lauterbach und Baerbock hantieren mit und in und als Daten.

Romantik und ihr großes Fehlen weit und breit

„Die heutige Big Data-Euphorie ähnelt sehr der Statistik-Euphorie des 18. Jahrhunderts, die aber bald abebbte. Die Statistik ist wohl das Big Data des 18. Jahrhunderts. Gegen die statistische Vernunft regte sich dann bald Widerstand, vor allem vonseiten der Romantik. Die Abscheu vor Durchschnitt und Normalität ist der Grundaffekt der Romantik (gänzlich konträr zur Hölle des Gleichen im Digitalismus, DS). Dem statistisch Wahrscheinlichen wird das Singuläre, das Unwahrscheinliche, das Plötzliche entgegengehalten. Die Romantik kultivierte das Absonderliche, das Abnormale und das Extreme gegen die statistische Normalität.“

Und gerade durch diese Kultivierung verhindert sie den Extremismus des Normalen, der als Faschismus sich breitschlägt und breitschlagen muss. Und gerade in dieser Hinsicht wird deutlich, wie sehr „alles so kommen konnte“. Nämlich weil seit vielen Jahren und jetzt weit und breit kein romantikähnliches Bewusstsein vorhanden ist. Auch in dissidenten Kreisen nicht. Gegen Treiber des Globalismus, gegen das neoliberal-faschistische Kapitalregime wird zuweilen mit Mustern vorgegangen — Stichwort Empörungsbewirtschaftung —, die genauso präreflexiv auf die Emotionalisierung zielen und genauso auf bloßen Korrelationen basieren wie das System, gegen das man sich erklärtermaßen richtet.

Das wird beispielsweise deutlich, wenn präreflexiv auf das Normale gesetzt und die „Krankheit“ des Globalismus mit dem Verweis auf abartiges Verhalten einzelner Exponenten der Eliteklasse vor Augen geführt werden soll. Jeffrey Epstein, Hunter Biden, Prinz Andrew et cetera. In solchen „Argumentationen“ ist Hegels Begreifen so weit weg wie in den Verlautbarungen einer Ursula von der Leyen oder eines Karl Lauterbach. Immer wenn solches geschieht, weiß man, weshalb es so kommen musste, wie es gekommen ist.

Ende des Singulären

Han schließt seinen Essay zu Big Data mit einem Verweis auf Friedrich Nietzsche:

„Für Nietzsche beweisen die statistischen Zahlen nur, dass der Mensch ein Herdentier ist, dass ‚die Menschen zunehmen im Gleichwerden‘. Die Gleichschaltung charakterisiert auch die heutige Transparenz- und Informationsgesellschaft. Wenn alles sofort sichtbar werden muss, sind Abweichungen kaum möglich. Von der Transparenz geht ein Konformitätszwang aus, der das Andere, das Fremde, das Abweichende beseitigt. (...) Der Dataismus selbst verstärkt das Zunehmen im Gleichwerden.“

Mit dem Verweis, dass Big Data den Zugang zum Einmaligen verschließt, endet Hans Essay. Begreifen ist immer ein singulärer Akt. Ist das Singuläre ausgeschlossen, ist das Begreifen tot und der Bund („fascis“) tritt auf. Allein die Frage „Wie konnte es so kommen?“ ist ein singulärer Akt. Er ist der Anfang eines neuen Begreifens, einer neuen Romantik. Ob diese — zumindest für eine Zeit — fruchtbar wird, weiß ich nicht. Aber es gilt: Es muss stets und immer hinterfragt sein. Alles. Auch das Hinterfragen selbst.


Byung-Chul Han „Psychopolitik — Neoliberalismus und die neuen Machttechniken


Quellen und Anmerkungen:
Die Anmerkungen des Autors in den Zitaten sind mit jeweils mit seinem Kürzel DS gekennzeichnet.
Die Zitate stammen alle aus Byung-Chun Han, Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt 2014.
(1) Vergleiche https://www.rubikon.news/artikel/wertlose-auswertung — übrigens geht auch ein anderer Jurist, Alexander Christ, in seinem Buch „Corona Staat“, Rubikon Verlag 2022, über mehr als 300 Seiten auf sehr präzise Weise juristisch dieser Frage nach.
(2) Vergleiche Jochen Kirchhoff, Räume, Dimensionen, Weltmodelle. Impulse für eine andere Naturwissenschaft, Darchen Verlag 2019, 2. Auflage.
(3) Vergleiche hinzu Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Fischer 2017.
(4) Vergleiche dazu https://www.rubikon.news/artikel/requiem-fur-die-freiheit und daselbst besonders Fußnote 24.
(5) Han zitiert aus: Georg Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse — 1830, Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Seite 302.


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