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Am Anfang war die Religion

Am Anfang war die Religion

Zur Frage, was Ideologie ist und wie sie wirkt, lesen wir bereits bei Karl Marx das Wesentlichste.

„Ideologische Meinungen sind ja nicht einfach (...) falsche Theorien. Dies umso weniger, als ja sogar wahre Aussagen ideologisch verwendet werden können. (...) Die Wahrheit der Ideologie (das heißt: die wahre Erfüllung des ihrer Herstellung zugrunde liegenden Interesses) ist die falsche Praxis. Eine Theorie, die unfähig bleibt, falsche Praxis einzuspuren oder aufrechtzuerhalten, ist mithin keine ,wahre Ideologie‘, sondern nur eine wahre oder falsche Theorie; freilich, gleich ob sie wahr oder falsch ist, eine falsche aus der Perspektive des Ideologie-Produzenten. Was nichts nutzt, ist unwahr“ — Günther Anders in „Die Antiquiertheit des Menschen II“.

Ideologiekritik geht davon aus, dass die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität durch Ideologien verdeckt wird. Der Ansatz der Ideologiekritik will somit den Blick für die „wahren“ Verhältnisse frei machen, indem er die verblendende Ideologie als solche entlarvt.

Die praktische Ideologiekritik könnte also wie folgt aussehen: Ein Text wird danach untersucht, von welchen Interessen er geleitet wurde; diese oftmals verborgenen und nicht klar ausgesprochenen Interessen werden sichtbar gemacht. So können zum Beispiel Parteiprogramme ideologiekritisch analysiert werden, indem „hinter“ den Programmpunkten die Absichten oder Interessen erkannt und aufgezeigt werden.

Der Ideologiebegriff, den der Ansatz der Ideologiekritik voraussetzt, ist ein negativer: Im Sinne Bacons als „Irrung“ oder „Täuschung“ des Geistes, im Sinne Napoleon Bonapartes als „unnützer und praxisfremder“ Begriff, im marxistischen/neo-marxistischen Sinne als „falsches Bewusstsein“ verstanden. Dieser Begriff der Ideologie trägt die Baconsche Hoffnung in sich, dass es ein Wissen ohne Irrtum und Trugbilder geben könne. Die Ideologie ist in dieser Sichtweise die Grenze, hinter der sich die Wahrheit befindet. Etwas überspitzt formuliert: Wahrheit wird nicht als Produkt von Wissenschaft verstanden, sondern als „bereits vorhandene“ Wahrheit, die lediglich durch gesellschaftliche oder ökonomische Mechanismen aus der Wahrnehmung verschwunden ist.

Die Position der Ideologiekritik wäre somit außerhalb der Produktion von Wahrheit angesiedelt. Die Macht liegt in dieser Sichtweise bei jenen, die die Wahrheit verschleiern, die Ideologiekritik sieht sich auch in diesem Punkt nicht eingebunden in die Macht, sondern wiederum außenstehend.

Es zeigt sich somit bereits, dass der Ansatz der Ideologiekritik von der Bedeutung des Ideologiebegriffs abhängt. Der Ideologiebegriff selbst ist aber keineswegs eindeutig zu definieren. Seine Bedeutung ändert sich einerseits in der Wertung, das heißt eher negativ oder neutral besetzt, andererseits in der Bedeutung selbst, etwa im Sinne der Ideologenschule als „Lehre der Ideen“.

Der Begriff der Ideologie steht heute alltagssprachlich für das Denk-, Wertungs- und Normensystem einer Gesellschaft. Im abwertenden Sinne wird unter Ideologie Weltfremdheit und Dogmatismus verstanden. Gesellschaftliche Probleme werden auf wenige Ursachen zurückgeführt und demgemäß „einfache“ Lösungsvorschläge unterbreitet.

Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, den Ideologiebegriff des jungen Karl Marx näher zu beleuchten und „herzuleiten“, indem er zunächst dessen Argumentation in seinem frühen Text „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ nachvollzieht.

Es soll gezeigt werden, dass Marx in diesem frühen Text die Argumentationsfigur des „Wesens des Menschen“ von Feuerbach übernimmt.

Anschließend werden Marx‘ Feuerbachthesen daraufhin untersucht, inwieweit Marx sich von der anthropologischen Denkweise Feuerbachs trennt und welche Konsequenzen dies für seine weiteren Überlegungen zur Gesellschaftskritik und Ideologie zeitigt.

Feuerbachs Religionskritik

In seinem berühmten Buch „Das Wesen des Christentums“ geht der Philosoph Ludwig Feuerbach davon aus, dass die Attribute, die Menschen Gott zuweisen, Attribute menschlicher Gattung sind. Die Menschen begingen nur den Fehler, die Eigenschaften ihrer Art einem metaphysischen Subjekt zuzuschreiben, anstatt sich selbst als Mitglieder einer Menschheit anzusehen, der vermeintlich göttliche Eigenschaften immanent sind.

Für Feuerbach ist Gott nichts anderes als die Projektion menschlicher Prädikate (Güte, Gefühl, Intelligenz, Unendlichkeit und Universalität) auf ein erfundenes — und dann real erscheinendes — Subjekt, welches die Menschen als außerhalb ihrer eigenen Gattung verorten. Sich selbst sehen sie schließlich als von diesem Repräsentanten der Prädikate abgeleitete und insofern abhängige Wesen an.

Für Feuerbach geht die Projektion menschlicher Eigenschaften auf einen von Menschen erfundenen Gott so weit, dass die Menschheit sich ihrem Produkt gegenüber als unvollkommen und nichtig betrachten muss. Mit der Verwechslung von Subjekt (Menschheit) und Prädikaten (universell, unendlich) siedelt die Menschheit ihr Wesen außerhalb ihrer selbst an und „entfremdet“ sich somit von ihm. Sie fällt einem Fetisch anheim: der Religion.

Feuerbach schreibt:

„Der Mensch — dies ist das Geheimnis der Religion — vergegenständlicht sich sein Wesen und macht dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Objekt, aber als Objekt eines Objekts, eines andern Wesens. (...) Der Mensch ist ein Objekt Gottes“ (2).

Feuerbachs Religionskritik will diese Umkehrung von Subjekt und Prädikat rückgängig machen, indem sie die Projektion des Wesens des Menschen auf Gott aufhebt. Der Mensch soll sich wieder als das Subjekt seiner Eigenschaften und Bedürfnisse ansehen, also sein „eigenes“ Wesen wiedergewinnen.

Die Religionskritik ist mit diesem Versuch, dem Menschen sein Wesen zurückzugeben, selbst Bestandteil der Entwicklung der Menschheit, in der die Wiedergewinnung des menschlichen Wesens der Abschluss einer Bewegung von den Naturreligionen über das Christentum bis hin zur Religionskritik ist:

„Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als ein andres Wesen Gegenstand. Der geschichtliche Fortgang in den Religionen besteht deswegen darin, dass das, was der früheren Religion für etwas Objektives galt, als etwas Subjektives, d.h., was als Gott angeschaut und angebetet wurde, jetzt als etwas Menschliches erkannt wird. (...) Und unsere Aufgabe ist es eben, nachzuweisen, dass der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen ein durchaus illusorischer, dass folglich auch der Gegenstand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus menschlicher ist“ (3).

Marx‘ Religionskritik

In seinem kurzen Aufsatz „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ (4) hebt auch Marx die Bedeutung der Religionskritik hervor. Diese scheint ihm die Voraussetzung für jegliche sinnvolle und emanzipatorische Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu sein. Wie Feuerbach ist auch er der Ansicht, Religion verhindere, dass Menschen sich selbst erkennen — und somit, dass sie würden (werden könnten), was sie sollten:

„Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat“ (5).

Der religiöse Mensch ist hier ein Mensch, der zwar ein Selbstbewusstsein hat, jedoch ein falsches. Falsch, da es das Selbstbewusstsein eines defizitären, nur potentiellen, noch nicht ganz menschlichen Menschen ist. Dieser Mensch hat, macht er sich doch „Illusionen über seinen Zustand“ (6), auch ein defizitäres Bewusstsein.

Religion ist daher zu verstehen als ein verkehrtes Bewusstsein des Menschen über seine Welt und sich selbst — und nicht, wie der religiöse Mensch fälschlicherweise glaubt, eines über die Existenz übersinnlicher Dinge.

Diese sind sein eigenes Produkt, Ergebnisse seiner Aktivität, er hat sie sich ausgedacht und imaginiert. Bis hierhin folgt der junge Marx Feuerbachs Theorie.

Marx fragt sich, warum sich der Mensch die Vorstellung von Gott überhaupt macht und gibt eine Antwort, die bereits auf die Gesellschaft verweist. Damit geht er über den vorhandenen Diskurs von Feuerbach hinaus. Die Ursachen dafür, dass Menschen sich solch „verkehrte Vorstellungen“ ihrer Welt machen, in Religion regelrecht flüchten, sind — so Marx — im gesellschaftlichen Dispositiv zu verorten, welches die Menschen umgibt, sie prägt und bestimmt. Die Religion ist

„die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. (...) Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“ (7).

Religion ist verknüpft mit gesellschaftlichen Zuständen, folgt aus diesen und ist „falsches Bewusstsein" in der Hinsicht, dass die ihr anheimfallenden Menschen nicht bemerken, dass sie nur ein Trugbild ohne eigenen Inhalt und eigene autonom-transzendente Realität ist.

Religion greift Hoffnungen und Wünsche auf, deren Verwirklichung den Menschen in der Realität unmöglich ist, und stellt somit ein Auffangbecken für das zur Verwirklichung drängende menschliche Wesen dar.

Religion ist daher auch in der Hinsicht falsches Bewusstsein, dass sie ein „illusorisches Glück“ birgt. Sie ist ein Ersatz für wirkliches Glück, das diejenigen befriedigt, die sonst radikal unzufrieden sein müssten. Sie bietet eine Pseudo-Selbstverwirklichung und führt damit auch zu einer falschen Identität.

Für Marx ist es daher Aufgabe der Philosophie, nicht nur Religionskritik zu leisten, deren Aufgabe es zunächst war, den Menschen zu ent(-)täuschen, indem sie ihm den Glauben nahm, sondern die Gesellschaft, ihre Zustände und Illusionen zu kritisieren:

„Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“ (8).

Die Philosophie, welche im Dienste der Geschichte steht, muss nach ihrer desillusionierenden Leistung der Religionskritik voranschreiten zur Kritik der sozialen und politischen Verhältnisse, genauer: Sie muss sie denunzieren als Verhältnisse, die falsch sind und die überwunden werden müssen:

„Es gilt die Schilderung eines wechselseitigen dumpfen Drucks aller sozialen Sphären aufeinander (…) eingefasst in den Rahmen eines Regierungssystems, welches von der Konservation aller Erbärmlichkeiten lebend, selbst nichts ist als die Erbärmlichkeit an der Regierung. (…) Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert“ (9).

Die Philosophie, die sich um die Entlarvung der elenden Verhältnisse bemüht, begreift Marx als „Waffe“ im Kampf um die Überwindung dieser Verhältnisse. Allerdings ist diese nur ein notwendiges Moment, die soziale Revolution hervorzubringen. Ein weiteres „passives“ Moment muss hinzutreten: Indem immer mehr Menschen zu Proletariern werden, entsteht die „Klasse“, welche „einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden“ (10) besitzt. Und deren Befreiung deswegen — nach Marx — auch die allgemeine und uneingeschränkte Befreiung des Menschen selbst sein kann.

Wie Feuerbach geht also auch Marx in seiner Theorie von einem „Wesen des Menschen“ aus, welches es zu verwirklichen gilt. Das Proletariat würde keine Eigeninteressen mehr gegen andere Klassen durchzusetzen haben; da es

„(...) der völlige Verlust des Menschen ist, (wird es) also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen (...)“ (11).

Die vollständige Verwirklichung des Menschen ist die Aufgabe, vor die die Geschichte den Menschen gestellt hat. Zu ihrer Lösung bedarf es der Philosophie und des Proletariats, die für die Erfüllung ihrer Bestimmung aufeinander bezogen sind:

„Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen. (...) Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“ (12).

Dieser frühe Text von Marx wurde auf vielfältige Weise interpretiert: Marx habe hier klargestellt, dass das Proletariat ein Klassenbewusstsein entwickeln muss oder wird, dass Philosophie sich mit den sozialen Verhältnissen zu befassen habe, dass ihre Wahrheit sich dadurch zeige, ob sie ein Mittel zur Verwirklichung eines außer ihr gegebenen Zwecks, der Emanzipation des Menschen, sei oder nicht und so weiter.

Festzuhalten bleibt meines Erachtens, dass Marx in diesem Text Feuerbach verpflichtet bleibt. Denn: Beide gehen davon aus, dass der Mensch von seinem Wesen entfremdet ist, und dass es darum ginge, diese Entfremdung zu überwinden.

Beide sehen sich als Propheten einer geschichtlichen Bewegung, einer Revolution, die schließlich dazu führen wird, dass der Mensch erwacht und sich den Himmel im Diesseits verwirklicht:

„Es handelte sich nicht mehr um das Sein oder Nichtsein Gottes, sondern um Sein oder Nichtsein von Menschen; (...) darum, ob wir Menschen einander gleich oder ungleich sind; nicht darum, wie der Mensch vor Gott — sondern wie er vor den Menschen Gerechtigkeit findet; nicht darum, ob und wie wir im Brot den Leib des Herrn genießen — sondern darum, dass wir Brot für unseren eigenen Leib haben; nicht darum, dass wir Gott geben, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist — sondern darum, dass wir endlich dem Menschen geben, was des Menschen ist (...)“ (13).

Bruch mit der Feuerbachschen Anthropologie — Marx‘ Selbstkritik in den Feuerbachthesen

Und doch kritisiert Marx in einem späteren Text Feuerbach und stellt somit auch seine eigene anthropologische Grundannahme vom „Wesen des Menschen“ in Frage. Denn, so stellt er fest:

„Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muss also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden“ (14).

Feuerbach gelingt es nicht, die religiösen Illusionen als Momente sozialer Praxis zu begreifen. Er „löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse (...)“ (15).

In seiner Religions- und Gesellschaftskritik genügt es Marx nun nicht mehr, vom einzelnen Menschen als Repräsentation des Wesens des Menschen auszugehen, um dann festzustellen, dass das Bewusstsein, welches die Menschen haben, nicht mit dem übereinstimmt, was sie „eigentlich“ sind beziehungsweise sein sollten.

Vielmehr könne Feuerbach gar nicht wissen, was das „menschliche Wesen“ eigentlich sei, weil er es als etwas Gegebenes auffasst — anstatt davon auszugehen, dass Menschen keine Dinge sind, die Bewusstsein haben, sondern vielmehr in einer Welt leben, die sie selbst erschaffen und in der sie sich dadurch und dabei selbst definieren — in der ihr Bewusstsein also ein praktisches, auf Handlungen bezogenes Bewusstsein ist und bleibt.

Ideologie ist hier also eine Theorie, die das Bewusstsein — und damit auch die Irrtümer — der Menschen nicht als praxisrelevantes, sozial bestimmtes Bewusstsein fasst und übersieht, dass Menschen wesentlich durch ihre Beziehungen untereinander nicht nur bestimmt sind, sondern sich selbst bestimmen — und Religion nicht nur ein Produkt ihres isoliert gefassten Bewusstseins ist, sondern zu ihrem aktuellen, historisch bestimmten Lebensvollzug und -zusammenhang gehört:

„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluss ihres materiellen Verhaltens. (...) Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“ (16).

Die Fragestellung von Marx hat sich dahingehend verschoben, dass es nun nicht mehr nur zu fragen gilt, was die religiösen Vorstellungen denn tatsächlich vorstellten, zu enthüllen, was am Inhalt dieser Vorstellungen unwahr ist, damit die dann illusionslosen Menschen den Geist frei bekommen, um zu bemerken, wie „schlecht“ ihre Welt in Wirklichkeit ist. Vielmehr geht es ihm darum, die Genese der „Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche“ (17) zu erklären.

Gelingen könne dies nur, wenn Feuerbachs Annahme eines Wesens des Menschen überwunden würde — und der Mensch schließlich als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ verstanden wird (18).

Veränderung oder Selbstveränderung

Marx gibt jedoch zu bedenken, dass auch ein Philosoph, der davon ausgeht, dass Menschen Produkte ihrer Erziehung und ihr Bewusstsein Spiegel ihrer Erfahrungen sind, Schwierigkeiten hat, gleichzeitig davon auszugehen, dass die Vorstellungen der Menschen falsch und die Verhältnisse schlecht und zu verändern sind.

Er wäre gezwungen, davon auszugehen, dass er über umfassendere Erfahrungen und besseres Wissen verfügt, um in der Lage zu sein, die Menschen besser zu erziehen, damit diese bessere Verhältnisse schaffen könnten, oder es bleibt schlicht nicht vorstellbar, wie Mensch überhaupt dazu kommen kann, an radikale Veränderung der Verhältnisse zu denken:

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile — von denen der eine über ihr erhaben ist — sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern(s) der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden“ (19).

Es scheint schlüssig, dass die Veränderung der Welt nicht zuerst und vor allem im Denken stattfindet.

Ein wichtiges Kriterium für eine Theorie ist nicht nur, ob sie wahr ist, ihre Aussage in Bezug auf ein Objekt also mit dem Objekt selbst übereinstimmt, sondern ob sie es schafft, eine praktisch relevante Theorie zu sein.

Diesen Anspruch kann sie nur einlösen, wenn sie davon ausgeht, dass Praxis als ein Prozess zu verstehen ist, in welchem der Mensch nicht nur innerhalb bestimmter gegebener Verhältnisse tätig ist, sondern in dem Tätigsein auch Weltveränderung und Selbstveränderung des Menschen bewirkt.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen II, C.H. Beck, München 1995 (1980), S. 190-191
(2) Feuerbach, Ludwig (1984), Band 5, Das Wesen des Christentums, S. 71
(3) ebd., S. 47
(4) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1976), Band 1, S. 378 — 391
(5) ebd., S. 378
(6) ebd., S. 379
(7) ebd., S. 378
(8) ebd., S. 379
(9) ebd., S. 381
(10) ebd., S. 390
(11) ebd.
(12) ebd., S. 391
(13) Feuerbach, Ludwig (1923), S. 6
(14) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1976), Band 3, S. 6
(15) ebd.
(16) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1969), Band 3, S. 26; im Internet zu finden unter: http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_017.htm#I_I; Stand: 30. Dezember 2003
(17) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1976), Band 3, S. 6
(18) ebd.
(19) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1976), Band 3, S. 5 f.


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