Über „den Ossi“ scheint keine These zu gewagt
Je näher die 30. Jahrestage von Mauerfall und Wiedervereinigung rücken, umso größer scheint die Unzufriedenheit über jenen Bevölkerungsteil des Landes zu werden, der seit 1989 neu zur BRD gehört.
In den vergangenen Wochen habe ich das Gefühl, dass ein regelrechter Wettbewerb um die absurdesten Behauptungen über „den Ossi“ ausgebrochen sein muss:
- „Die Ossis, die für die friedliche Revolution auf die Straße gingen, sind heute alle Pegida.“
- „Ossis haben nur ein repressives System kennengelernt, deswegen wissen sie mit ihrer Freiheit nichts anzufangen.“
- „Ossis haben nie Migranten kennengelernt, deshalb hat sich bei ihnen eine wahnhafte Angst vor dem Unbekannten aufgebaut.“
- „Den Ossis geht es eigentlich gut, sie sind jedoch geplagt von einer fast schon paranoiden Angst vor Veränderung, wohl eine Folge aus vierzig Jahren Stillstand in der Diktatur.“
- „In der DDR hat es nie eine Aufarbeitung der Nazi-Diktatur gegeben, deshalb kommen die alten Nazi-Gelüste jetzt alle wieder hoch.“
Aussagen dieser Art machen neuerdings die Runde, ob in den herkömmlichen Medien in Print, online oder Funk und auch in den virtuellen Debattenräumen – soziale Medien möchte man das eigentlich nicht mehr nennen – , wobei die Scheu vor der prinzipiellen Dummheit von Pauschalbehauptungen irgendwann völlig auf der Strecke geblieben sein muss.
Derartige Behauptungen ignorieren in Bausch und Bogen historische Tatsachen, etwa die, dass Vietnamesen, Chilenen, Algerier und viele andere Migranten in der DDR zu Hause waren, dass sich nach 1989 zahlreiche Arbeitsmigranten aus Osteuropa in Ostdeutschland niederließen oder Flüchtlinge des Jugoslawienkrieges in den Neunzigern ganze leergewohnte ostdeutsche Gemeinden neu bevölkerten, was sich 2015 noch mal in ähnlicher Form wiederholte.
Auch die Behauptung, die DDR hätte nicht mit dem Nationalsozialismus abgerechnet, steht in krassem Widerspruch zu den historischen Gegebenheiten.
Die Nazis flohen nicht ohne Grund aus dem Osten und nirgendwo gab es eine strengere Entnazifizierung als in der sowjetischen Besatzungszone. DDR-Bürger, die sich wagten ein Hakenkreuz zu schmieren oder offen Nazi-Parolen zu äußern, wanderten unweigerlich in den Politknast nach Bautzen. Die Inhalte von Pionier- und FDJ-Nachmittagen handelten regelmäßig vom deutschen Faschismus.
Das Interessante an solchen Behauptungen ist für mich aber nicht nur die erschreckende Ignoranz ja Dummheit, die sie zum Ausdruck bringen. Auffallend ist ja auch, dass die Sache umgekehrt so gar nicht stattfindet.
Ein Gedankenspiel
Was würde eigentlich passieren, wenn Behauptungen wie die folgenden kursierten?
- „Die Wessis haben eine derartige Angst vor ihrer eigenen Freiheit, dass sie seit Jahrzehnten lieber CDU oder SPD wählen, um sicherzugehen, dass sich nichts verändert.“
- „Die Wessis haben sich so an den Kampf um den Arbeitsplatz gewöhnt, dass sie selbst aus dem Besser-Angepasst-Sein noch einen Wettbewerb machen.“
- „Die Wessis denken alle so an sich, dass sie gar keine Zeit für Politik haben.“
- „Die Wessis haben nach dem Krieg alle Nazis aufgenommen und sich nur ein neues ideologisches Deckmäntelchen geschaffen, um die Vormachtstellung Deutschlands in der Welt neu zu begründen.“
- „Die Wessis sind derart russophob erzogen worden, dass sie mehr Angst vor einem Frieden mit Russland als vor einem Krieg haben.“
Wer würde nicht verstehen, dass sich Westdeutsche über solche Aussagen empörten. Zu Recht! In ihrem pauschalen Anspruch sind derartige Äußerungen von vergleichbarer Idiotie wie die über die Ossis. Nur hört man sie nicht so oft beziehungsweise eigentlich nie.
Was uns also auffallen könnte, ist ein Ungleichgewicht, das in einer schlichten Aussage verblüffend spürbar wird:
„Es gab nicht nur eine ehemalige DDR. Es gab auch eine ehemalige BRD.“
Ach was? Stimmt ja! Man muss wirklich schon daran erinnert werden.
Die Aussage stammt von dem ostdeutschen Liedermacher Hans Eckart Wenzel, der eine Dokumentation über ostdeutsche Bühnenkünstler herausgegeben hat, in der lapidar festgestellt wird, dass es für jeden ostdeutschen Künstler, der vor 1970 geboren wurde, normal sei, sich wieder und wieder befragen lassen zu müssen, was er denn vor 1989 für oder gegen oder mit der „Diktatur“ getan hat.
Dagegen blieben Künstler und überhaupt Menschen aus dem Westen von derartigen Nachstellungen verschont.
Warum eigentlich? Man könnte ja auch jeden Westdeutschen fragen:
Was hast du getan, als der Radikalenerlass verabschiedet wurde?
Wo warst du, als man die Demonstranten vor Brokdorf verprügelte?
Welche Träume hast du deiner Karriere geopfert?
Was hast du nur wegen des Geldes getan, obwohl du wusstest, dass es falsch war?
Okay, ich glaube, die Sache ist jetzt klar.
Zwei Dinge werden mit dem Herannahen der beiden 30. Jahrestage also deutlich:
Das Infragestellen der Vergangenheit im Zeitraum vor 1989 ist ziemlich einseitig gen Osten gerichtet. Und die zugrundeliegenden, pauschalisierten Vorstellungen zeugen ebenfalls von einem erheblichen Ungleichgewicht: im Osten Diktatur und Mangelwirtschaft, im Westen Freiheit und Wohlstand.
Natürlich gibt es da auch Gegenwind. Aber der kommt oftmals ebenso pauschalisiert daher: im Osten Solidarität und Gemeinschaft, im Westen kapitalistische Kälte.
Mit derartig historischen Vereinfachungen verblöden wir uns selbst, und — vor allem! — es werden Gräben ausgehoben und künstliche Trennlinien gezogen, die sich nur allzu leicht zu Feindeslinien entwickeln.
Wenn Erinnerung nichts rechtfertigen muss
Mit pauschalen Vereinfachungen verschenken wir die Einsichten und die Lehren aus einer Geschichte, die sehr viel facettenreicher ist, als sie gemeinhin dargestellt wird und die trotz aller Unterschiede auch eine gemeinsame ist — auch in der BRD lebte man bis 1989 offline, und der feste Arbeitsvertrag war Normalität. Längst wäre es also an der Zeit, nicht nur die Ost-, sondern auch die Westdeutschen zu befragen:
Was hattet ihr für Träume?
Woran sind sie vielleicht gescheitert?
Was haben wir auf beiden Seiten der Grenze verloren?
Was ist uns vielleicht auch gelungen?
Was hat die Wende uns gebracht?
Welche Enttäuschungen gab es nach 1990 nicht nur im Osten, sondern auch im Westen?
„Die“ Geschichte speist sich immer aus vielen Geschichten, die alle erzählenswert sind und einen Teil des jeweiligen Gesellschaftssystems widerspiegeln. Die Reduzierung einer Gesellschaft auf einige wenige Attribute ist nicht nur ein Ausdruck von Dummheit oder zumindest von Denkfaulheit, sondern vor allem eine Missachtung jener Teile der Bevölkerung, die infolge dieser Reduzierung außen vor gelassen werden.
Dieses Verschweigen tut so, als hätte es diese Menschen und ihren Teil der Wirklichkeit nie gegeben. Das kann sowohl dunkle Seiten der Geschichte als auch die hellen und hoffnungsvollen betreffen, die durch ihr Verschweigen praktisch historisch „vernichtet“ werden wie Akten in einem Reißwolf. Dabei dient gerade eine derart verkürzte Erinnerung zu oft als Rechtfertigung für heutige Zustände.
Ein Beispiel lieferte gerade erst Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am Weltfriedenstag in Polen, als er die USA namentlich allein als Befreier vom Faschismus lobpreiste und die Sowjetunion als eine unter vielen namenlos genannten Verbündeten geradeso miterwähnte, obwohl sie den weitaus höchsten Blutzoll gezahlt hatte. Steinmeiers reduktionistisches Erinnern diente ausschließlich den Interessen des großen NATO-Verbündeten USA.
Das Wort Rücksichtslosigkeit bekommt hier eine geradezu grausame Bedeutung. Steinmeier verweigert in seiner Aussage das Zurücksehen und die Anerkennung von Abermillionen sowjetischer Soldaten, die im Kampf gegen den Hitlerfaschismus umgekommen waren.
Doch nicht nur die düsteren Seiten der Geschichte werden gern vergessen.
In den gängigen Narrativen wird auch die Rückschau auf die helleren Seiten der DDR verweigert. Und die politischen Absichten dabei sind unverkennbar. Welcher neoliberale Thinktank würde den Chefredakteuren in seinem Kreise wohl zugestehen, dass eine Gesellschaft in gutem Licht dastehen darf, die das Privateigentum weitestgehend abgeschafft hat. — Gott bewahre!
Andererseits: Was wissen „wir Ossis“ eigentlich über den „ehemaligen Westen“? Da wird ja kaum hingeschaut, und wenn, dann scheint es außer Wirtschaftswunder und RAF-Terrorismus nicht viel mehr gegeben zu haben.
Nach dreißig Jahren Wiedervereinigung scheint es an der Zeit, sich die eigene Geschichte zurückzuerobern, das Erinnern nicht den Propagandisten zu überlassen, deren reduktionistisches Geschichtsbild politische Absichten bedient.
Eine Erinnerung, die nicht der Rechtfertigung für Gegenwärtiges dienen muss, kann alles umfassen, die düsteren Kapitel– selbstverständlich gab es Gesinnungsdiktatur in der DDR, so wie es Berufsverbote in der ehemaligen BRD gegeben hat — ebenso wie die hellen.
Und natürlich wirkt eine Gesellschaft auf jeden Einzelnen anders. Was der eine als soziale Geborgenheit erlebt, mag den anderen in seinem Freiheitsdrang erdrücken. Beide Gefühle haben ihr Recht, denn Gefühle lassen sich nicht bestreiten, es gibt sie einfach.
Erzähl mir deine Geschichte!
Doch wer soll einen historischen Rückblick schreiben, der alle Facetten beider ehemaligen deutschen Gesellschaften berücksichtigt, und dazu noch die unterschiedlichen Varianten, wie man sie erfahren konnte? Ein einzelner Autor könnte das gar nicht, und selbst eine Forschungsgruppe würde vermutlich schon von bestimmten Absichten ausgehen und einen entsprechend eingeschränkten Radar haben.
Deswegen möchten wir in aller Offenheit Menschen zu einem Erinnerungsprojekt einladen.
„Aufgewachsen in Deutschland Ost und West — Erzähl mir deine Geschichte“ — so der Arbeitstitel.
Wir — die Autorinnen Andrea Drescher und Katrin McClean — möchten Menschen, die im geteilten Deutschland gelebt haben, dazu anregen und ermutigen, ihre ganz persönlichen Erfahrungen mitzuteilen. Und das so konkret wie möglich. Es gibt 23 Kapitel von „Kindheit“ bis „Wende“, zu denen man etwas beitragen kann. Schon ein Beitrag zu einem einzelnen Kapitel ist herzlich willkommen. Insgesamt können bis zu drei Beiträge eingereicht werden.
Was hoffentlich bisher schon deutlich wurde:
Wir möchten das Gegenteil von dem erarbeiten, was derzeit epidemisch kursiert: keine allgemeinen Ansichten und Pauschalaussagen. Stattdessen konkrete Geschichten, ganz persönlich erlebt, individuelle Erfahrungen, die ein Mosaikstein sein können für jenes facettenreiche Bild, das die Frage beantworten soll: Wie war das eigentlich damals?
Wir verlassen uns hier auf „die Weisheit des Kollektivs“ oder neudeutsch auf „die Schwarmintelligenz“. Niemand muss alles erzählen, jeder liefert einen Ausschnitt, der zum Gesamteindruck beiträgt.
Wir selbst haben in einem Brief-Dialog mit diesem Projekt begonnen und schon bald gelernt, dass im Konkreten die Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften sehr deutlich werden, aber eben auch — oh Überraschung! — die Gemeinsamkeiten.
Es scheint vieles dafür zu sprechen, dass „Ossis“ und „Wessis“ über ihre Erinnerungen zueinanderfinden können, zumindest Wege und Brücken entdecken, um aufeinander zuzugehen, einander zu verstehen.
Wir sind überzeugt von der Erkenntnis Wilhelm von Humboldts: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“
Aber eben die Vielfalt dieser Vergangenheit ist notwendig, damit man auch mit offenem Blick in die Zukunft schauen kann.
Lassen wir also nicht zu, dass unsere Vergangenheit in Ost und West auf wenige Versatzstücke reduziert wird, die uns immer mehr voneinander trennen. Gehen wir gemeinsam noch einmal zurück, um danach besser weiterzugehen, möglichst auch gemeinsam. Es wäre doch einfach mal eine gute Idee, einander ganz offen zuzuhören, und das eben auch in lesender Form.
Einladung zum Mitmachen:
Das Buch mit dem Arbeitstitel „Aufgewachsen in Deutschland Ost und West — Erzähl mir deine Geschichte“ soll am 3. Oktober 2020 zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheinen.
Wer sich mit seinen eigenen Geschichten einbringen möchte, ist herzlich eingeladen. Wir freuen uns auf Ihre kurze E-Mail mit den Kontaktdaten an: Ostwestredaktion@oberhubistan.at. Dann geben wir Ihnen weitere Informationen zu diesem Projekt.
Das Buch ist zudem ein Spendenprojekt. Der Ertrag aus dem Verkauf wird Kriegsopfern zugutekommen.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.