Das Material, das im Rahmen der Aufarbeitung der Ereignisse am „Schwarzen Donnerstag“ zusammengetragen wurde, dokumentiert, dass es sich nicht um eine Polizeiaktion gehandelt hatte, die, wie es oft heißt, „aus dem Ruder gelaufen“ sei. Diese war vielmehr von langer Hand geplant – seitens der Landesregierung, möglicherweise sogar in Zusammenarbeit mit Teilen des Merkel´schen Regierungsapparats. So kündigte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, CDU, bereits zehn Tage vor dem „Schwarzen Donnerstag“ regierungsintern ein „massives Vorgehen gegen die Baumbesetzer“ an.
Am Abend des „Schwarzen Donnerstags“ gab es einen telefonischen Kontakt zwischen der Landesregierung und dem Bundeskanzleramt. Ebenfalls am 20. September, um 16.33 Uhr, mailte die damalige Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Verkehr, Tanja Gönner, an Mappus: „Es wurde gestern vereinbart, dass die Bäume ab dem 1.10. gefällt werden. Ziel ist, dass bis zu deiner Regierungserklärung alles mit den Bäumen erledigt ist.“ Mappus antwortete: „Super. Vielen Dank.“ Am gleichen Tag besprach sich der baden-württembergische Ministerpräsident mit der Polizei; im Protokoll wurde vermerkt: „MP erwartet offensives Vorgehen gegen Baumbesetzer.“ In einer später aufgefundenen E-Mail schrieb Mappus. „Klar ist: der Staat kann sich ein Scheitern der Aktion nicht leisten.“
Das Vorgehen der Polizei war auch im Detail vorbereitet. Dies wird deutlich, wenn man den Darlegungen von Dieter Reicherter folgt.
Reicherter war Staatsanwalt und Vorsitzender Richter. Reicherter entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Schwarzen Donnerstag zu einem Kritiker des S21-Projekts und insbesondere zu einem Kritiker gesetzeswidriger Polizeigewalt. In einer Rede auf der 288. Montagsdemonstration gegen Stuttgart21, am 14. September 2015, führte er aus:
„Ich will euch einen konkreten Fall erzählen: Der 14-jährige Richard hat am 30. September 2010 an der Schülerdemonstration teilgenommen und war wie viele Schülerinnen und Schüler danach im Schlossgarten. Dort wurde er an Leib und Seele verletzt. Die körperlichen Wunden sind verheilt, die seelischen nicht. Seine Geschichte will er nicht mehr erzählen. Seine Eltern aber haben mir vor Jahren Richards schriftliche Schilderung mit seinem Einverständnis zur Verfügung gestellt. (…) Hier ein wörtlicher Auszug aus Richards Aussage: ´Ich wurde von einem Polizisten am Kopf gepackt. Er zog mich an sich heran und rieb mir mit der Hand (trug Handschuhe, die innen mit Metall oder Ähnlichem beschlagen waren!) das Pfefferspray brutal ins Gesicht. (…) Ich fürchtete, dass er meine Nase brechen würde, ist einigen Schülern passiert, schreien konnte ich nicht, weil mir der Mund zugehalten wurde.´“
Reicherter ging diesem Vorfall weiter nach – und wurde fündig. Weiter der ehemalige Richter:
„Der Zufall kam mir in Gestalt eines Videos, das seit nahezu fünf Jahren bei Polizei und Staatsanwaltschaft vorliegt, ohne für die Übertäter Konsequenzen zu haben. Gegen unbekannte Polizisten habe ich nun deswegen in der vergangenen Woche Strafanzeige wegen Verabredung eines Verbrechens erstattet. Denn wie anders soll man folgenden in der Bild- und Tonaufzeichnung festgehaltenen Dialog werten: 1. Sprecher (im bayrischen Dialekt): ´Könnt ihr mol Pfefferspray in die Handschuhe und ins Gesicht reiben´. 2. Sprecher: ´Ja.´“ Die Bilanz von Dieter Reicherter: „War das nicht die Verabredung, entgegen sämtlicher Dienstvorschriften Pfefferspray nicht durch Versprühen mit Sicherheitsabstand einzusetzen, sondern mit dem Handschuh in den Gesichtern friedlicher Demonstranten zu verreiben? In meiner Strafanzeige habe ich darauf hingewiesen, dass eine derartige Verwendung von Pfefferspray die Gefahr von Erblindung und bei Allergikern und Asthmakranken sogar des Todes durch Ersticken in sich trägt. Ganz abgesehen davon, dass der Einsatz von Pfefferspray gegen Kinder ausnahmslos verboten ist und Verstöße gegen dieses Verbot schon harte Strafen zur Folge haben müssten.“
All das zeigt: Es ging damals darum, einer friedlichen, demokratischen Massenbewegung gegen ein zerstörerisches Großprojekt das Genick zu brechen – indem diese provoziert wird und die gewünschten Bilder von „Gewaltexzessen“ liefert (oder Agents Provocateurs selbst diese Bilder bereitstellen; und es gab sie an diesem Tag im Park!), um sie danach zu kriminalisieren.
Vergleichbar gingen die herrschenden Kreise am 2. Juni 1967 in Westberlin vor, als – heute fast genau vor 50 Jahren – der Student Benno Ohnesorg vor der Berliner Oper erschossen wurde. Benno O. hatte von seinem Recht auf Meinungsfreiheit und Protest Gebrauch gemacht und gegen den Schah von Persien, einen Massenmörder und Folter-Kaiser, demonstriert.
Vergleichbar war die Polizeiprovokation vom Februar 1975 im badischen Whyl, als acht Hundertschaften Polizei mit Wasserwerfern und Hundestaffel brutal gegen 300 friedliche Demonstranten vorgingen, die den Platz besetzt hielten, auf dem ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte.
Vergleichbar war die Tötung des Schlossers Günter Sare am 28. September 1985 in Frankfurt am Main, der bei einer Protestdemo gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens, verbunden mit der Zerstörung eines großen Erholungswaldes, zuerst von einem Wasserwerferstrahl der Polizei zu Boden geworfen und dann von dem Wasserwerfer überrollt und getötet wurde.
Bei all diesen Ereignissen – und eben auch beim „Schwarzen Donnerstag“ in Stuttgart – ging es immer um den gezielten Versuch der Zerschlagung einer friedlichen und demokratischen Massenbewegung.
Ist es weit hergeholt, wenn solche geschichtlichen Vergleiche herangezogen werden, um den Schwarzen Donnerstag ins richtige Licht zu rücken? Nun, der Sänger und Poet Leonard Cohen jedenfalls stellte die Stuttgarter Ereignisse an eben diesem Tag in einen solchen großen Zusammenhang. Er gastierte damals in Stuttgart. Er und seine Leute hatten sich am Tag der Polizeiaggression im Hotel am Schlossgarten einquartiert. Sie wurden damit direkt Zeuginnen und Zeugen der Polizeiaggression. Der kanadische Künstler ließ Fotos von der Polizeiaggression und den friedlich Demonstrierenden auf seine Website stellen und dokumentierte dort seine Solidarität mit den Menschen, die ihren Park verteidigten, und seinen Protest gegen die Polizeigewalt und gegen die Zerstörung der Natur, der Bäume.
Tags darauf trat Leonard Cohen in der Schleyer-Halle auf – in einem beeindruckenden Konzert vor 7000 Menschen. Und er wurde auch bei dieser Gelegenheit erstaunlich deutlich – wie dies auch in der Stuttgarter Zeitung zu lesen war:
„Dieser nur selten explizit politische Dichter stellt in Stuttgart auch eine Wachheit unter Beweis, die sein behutsam eingerichtetes Refugium aus wunderschönen Liedern nur um so kostbarer macht: Es sei ein Privileg, sich zu einem Konzert versammeln zu können, während Chaos und Dunkelheit die Welt umklammert hielten, sagt Cohen. ´Solidarität mit den Bäumen, die Sie so geschätzt haben´, bekundet er dann. Sein Stuttgart-21-Kommentar leitet zum Jubel des Publikums ´Anthem´ ein, eine seiner starken, getragenen Hymnen für das Trotzdem.“
Chaos und Dunkelheit halten die Welt umklammert – welch treffende Beschreibung! Und noch beeindruckender ist diese Geschichte, wenn wir den TEXT des Liedes lesen und übersetzen – und wenn wir dazu uns nochmals den Auftritt von Cohen anhören und ansehen, wie er auf YouTube abrufbar ist. Der Text lautet – hier in Auszügen:
So much of the world / is plunged in darkness and chaos (...)
Ring the bells (ring the bells) that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything (there is a crack in everything)
That´s how the light gets in (...)
I can´t run no more
With that lawless crowd
While the killers in high places
Say their prayers out loud
But they´ve summoned, they´ve summoned up
A thundercloud
And they´re going to hear from me
Ring the bells (ring the bells) that still can ring
Die Übersetzung des Auszugs aus diesem Lied, meine etwas freie Übersetzung lautet:
So vieles auf der Welt ist in Dunkelheit und Chaos gehüllt (…)
Läutet alle Glocken, die noch erklingen können
Vergesst all den Plunder
Es gibt einen Riss, ja einen Riss in allem
Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt (…)
Mit all den Leuten ohne jede Richtschnur
Kann ich nicht mehr mitlaufen
Während die Mörder da oben
Vollmundig ihre Gebete sprechen
Doch sie haben etwas heraufbeschworen, ja heraufbeschworen
Eine Gewitterwolke
Und sie werden von mir hören (…)
Läutet alle Glocken, die noch erklingen können
Vergesst all den Plunder
Es gibt einen Riss, ja einen Riss in allem
Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt.
Ja. Es gibt diesen Riss in all diesen anscheinend fest gefügten Gebäuden, Zwingern und Denksystemen der Herrschenden. Einen Riss in den Tunnel-Wahn-Gebilden derjenigen, die mit einem Männlichkeitsfetischismus und Machbarkeitswahn diese Welt zerstören. Das Atomkraftwerk in Whyl konnte nicht gebaut werden – der Riss wurde zu groß. Die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und der atomare Schnelle Brüter in Kalkar blieben als Ruinen und Grab von Milliarden Euro Steuergelder zurück. Die festgefügten Machtgebilde der Politbüros in Moskau und Ost-Berlin wurden brüchig und rissig – und kollabierten.
Ja, es gibt immer wieder einen Spalt, durch den das Licht fällt.
Wir werden die Risse weiten.
Wir werden den Spalt erkennen. Und wir werden das Licht sehen.
Das Licht am Ende all dieser Stuttgart21-Tunnel.
Das Licht am Ende des Tunnel-Denkens.
Wir werden aufrecht gehen.
Wir werden die Menschen mit den gekrümmten Rücken, die Buckler, Duckmäuser und Speichellecker belächeln und sie freundlich aufmuntern, zur Menschwerdung zu schreiten.
Wir werden: OBEN BLEIBEN!
Leonard Cohen beim Konzert in Stuttgart am 1. Oktober 2010, gewidmet den Bäumen im Schlossgarten; zu sehen und zu hören unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZemZdP4HKYo.
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