Aus dem Vorwort
Da Risiken ihrer Struktur nach alle gleich sind — ein äußeres Ereignis gefährdet die planmäßige Durchführung eines Projekts und die Erreichung eines oder mehrerer Projektziele —, ist es für die weitere Entwicklung von nicht unerheblicher Bedeutung, wie Politik und Gesellschaft auf die gegenwärtige Krise reagieren. Denn es ist anzunehmen, dass die Antwort, die heute gefunden wird, um auf ein eingetretenes Risiko zu reagieren, die Blaupause für zukünftiges Handeln darstellt, sobald eine vergleichbare Situation eintritt oder einzutreten droht.
Die heutige Antwort ist aber eine grundsätzlich freiheitsfeindliche und autoritäre, in Deutschland ebenso wie in vielen weiteren westlichen Ländern. Denn Lockdowns, Maskenpflicht, die Pflicht zum Nachweis des Immunitätsstatus — „3G“ — und der Druck auf die Bürger, sich impfen zu lassen, sind zweifellos autoritäre und die Freiheit des Einzelnen massiv einschränkende Maßnahmen. Wenn dieses Vorgehen nun zum Erfolgsrezept erkoren wird, um selbst auf vergleichsweise überschaubare Gefahren wie das Coronavirus zu reagieren, stehen die Chancen für eine Renaissance von Freiheit und Individualismus schlecht.
Zum einen besteht dann die Gefahr, dass einige Maßnahmen verstetigt werden. Zum anderen dürften Politiker schon bald auf den Gedanken kommen, vergleichbare Maßnahmen in gewissen Fällen schon präventiv einzusetzen — Stichwort Klimakrise.
Wer heute also denjenigen, die für die Coronamaßnahmen verantwortlich sind, die Absolution erteilt, bereitet den Boden für immer neue Freiheitsbeschränkungen in der Zukunft.
In Abwandlung des Bonmots des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Peter Struck könnte man sagen: „Die bürgerlichen Freiheiten des Grundgesetzes werden auch am Bundeskanzleramt verteidigt.“ Der Preis dieser Freiheit, so sie denn erfolgreich verteidigt wird, ist dann allerdings, dass jeder Bürger eigenverantwortlich entscheiden muss, wie er mit dem Risiko von Krankheit und Tod infolge einer Infektion mit dem Coronavirus umzugehen gedenkt, sei es durch Impfung, das Tragen einer Maske oder durch Weglassen aller Vorsichtsmaßnahmen.
Risiko 7: DINO
Sowohl aus dem rechtsstaatlich-konservativen als auch aus dem freiheitlich-libertären Spektrum wird verschiedentlich die Befürchtung geäußert, der derzeitige Ausnahmezustand könnte von den Regierungen und ihren Parlamentsmehrheiten dazu verwendet werden, unliebsame Kritiker dauerhaft mundtot zu machen, indem Gesetze verabschiedet werden, durch die Kritik am Regierungshandeln erschwert wird und die auch dann noch in Geltung sind, wenn die Pandemie längst vorüber ist. Dies könne die vielfach als „Spaltung“ bezeichnete Polarisierung der Gesellschaft weiter befördern und die Gruppe derjenigen, die ihre Meinung nicht mehr unbefangen äußern können, weil sie mit sozialen oder gar strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, weiter vergrößern.
Außerdem wird befürchtet, die Regierenden könnten Gefallen an ihrer größeren Machtfülle während des Ausnahmezustands finden und bestrebt sein, diesen zu verlängern oder zumindest die hinzugewonnene Macht nicht wieder vollständig abzugeben. Sie könnten am Fortbestand des Ausnahmezustands interessiert sein, weil ihre Entscheidungen nun noch mehr beziehungsweise noch direkteren Einfluss auf das Leben der Bürger haben und ihre eigene Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung noch weiter gesteigert wird.
Denkbar ist ferner, dass sich Regierungen und Gesetzgeber — sowie eine Mehrheit der Bevölkerung — an das jetzige autoritäre Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gewöhnen und das autoritäre Gebaren auch bei einer Beendigung des Ausnahmezustands weiter beibehalten wird, selbst wenn formal wieder vollumfänglich die grundgesetzliche Ordnung gilt. Die legalistische Alternative zu einem solchen gewohnheitsrechtlichen Szenario wäre die Überführung der Ausnahmemaßnahmen in einfache Gesetze, die auch unabhängig vom Ausnahmezustand gelten. Beides hätte zur Folge, dass die erweiterten Machtbefugnisse der Regierung auch nach dem Ende des Ausnahmezustands bestehen bleiben.
Für unsere Risikobetrachtung lässt sich daraus das Risiko ableiten, Deutschland könnte aus einer freiheitlichen Demokratie in eine autoritärere Herrschaftsform umgewandelt werden. Da hierfür weder eine Änderung der Verfassung noch die Aufgabe der Selbstbezeichnung als Demokratie zwingend notwendig wäre, sondern letztlich nur die Akzeptanz der restriktiven Regelungen seitens der Bevölkerung, soll dieses neue Deutschland hier als nur mehr nominelle Demokratie, als Democracy In Name Only, kurz: DINO bezeichnet werden. Diese Namensgebung erfolgt in Anlehnung an den Sprachgebrauch im Projektmanagement, wo sich für Projekte oder Organisationen, die vorgeben, nach dem Projektmanagementstandard PRINCE2 zu verfahren, die dies realiter aber nicht tun, die Bezeichnung PINO als Kürzel für Prince In Name Only eingebürgert hat.
In die gewohnte Form gebracht, lautet das Risiko:
- Ursachen: Krisen bieten Politikern die Gelegenheit, ihre Macht zu erweitern. Menschen im Allgemeinen und Politiker im Besonderen neigen dazu, hinzugewonnene Macht nicht ohne Not wieder abzugeben.
- Risiko: Weil Politiker weltweit, vor allem aber im freiheitlichen Westen, im Zuge der Coronakrise eine erhebliche Anzahl neuer Machtbefugnisse hinzugewonnen haben, besteht das Risiko, dass sie versuchen werden, die Krise zu verlängern, auf Dauer zu stellen oder dafür zu nutzen, Gesetze zu verabschieden, durch die sie die neuerworbenen Befugnisse auch nach dem Ende der Pandemie behalten können.
- Auswirkung: Macht ist die Fähigkeit, jemanden auch gegen seinen Willen zu einer bestimmten Handlung zu bewegen. Macht besteht im Kern aus Kontrolle. Je mehr Mittel der Verhaltenskontrolle und Verhaltenssteuerung geschaffen werden, die auch nach dem Ende der Pandemie bestehen bleiben, desto geringer wird die Handlungsfreiheit des Einzelnen. Im Extremfall käme die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) der BRD an ihr Ende und träte ein autoritärer Staat an ihre Stelle, der den Bürgern umfassende Verhaltensregeln vorschreibt. Das zentrale Ziel (…), die Rückkehr zum Normalzustand der Zeit vor der Corona-Pandemie, würde dadurch dauerhaft verhindert werden. Letztlich würden aber auch schon weniger einschneidende Kontrollen und Freiheitsbeschränkungen die Rückkehr zur Vor-Corona-Zeit verhindern.
Um dieses Risiko einschätzen und bewerten zu können, sehen wir uns zunächst an, welche Kontroll- und Steuerungsmittel während des (Corona-)Ausnahmezustands neu geschaffen wurden und welche Anzeichen es dafür gibt, dass sie auch nach dem offiziellen Pandemieende beibehalten werden.
Klimaschutzpolitik
Als Ergänzung oder gegebenenfalls auch als Alternative zu einem auf Dauer gestellten Gesundheitsnotstand könnte zudem auch ein Klimanotstand verhängt und analog zur „Bundes-Notbremse“ ein Klimanotstandsgesetz verabschiedet werden. Die hierbei anzuwendende Methode hat Roland Tichy auf tichyseinblick.de schon am 13. April 2021 pointiert auf den Punkt gebracht: „Man nehme eine Zahl und hänge daran Freiheit und Selbstbestimmung auf wie einen Hühnerdieb.“ Alles, was es bräuchte, ist eine griffige Kennzahl analog zur Inzidenz. Naheliegend wäre beim Klimaschutz ein jährliches — oder wahlweise auch monatliches oder wöchentliches — CO2-Einsparziel.
Für den Zeitraum bis 2030 existieren solche Werte bereits. Das Bundesklimaschutzgesetz (KSG) aus dem Jahr 2019 enthält verbindliche, nach Wirtschaftssektoren aufgeschlüsselte Jahreshöchstemissionsmengen (Anlage 2 zu § 4 KSG), um das Klimaziel von 55 Prozent weniger Emissionen als 1990 zu erreichen. Diese könnten auf einzelne Monate oder Wochen heruntergebrochen werden, schon hätte man einen Klimaschutzschwellenwert analog zur Inzidenz. Dieser Schwellenwert müsste dann nur noch so in das bestehende Klimaschutzgesetz eingefügt werden, dass sein Überschreiten wie bei der „Bundes-Notbremse“ automatisch zur Einleitung bestimmter Maßnahmen führt, mit denen ausgewählte CO2-Emissionstreiber so lange abgestellt oder gedrosselt werden, bis die Emissionen für einen ausreichend langen Zeitraum unter dem Schwellenwert liegen und so die Erreichung des Planziels für 2030 beziehungsweise 2050 sichergestellt ist.
Als Maßnahmen kämen in diesem Zusammenhang Flug- oder Fahrverbote, Stromrationierungen oder die Einschränkung des Fleischangebots infrage. Aber auch Ausgangssperren — zur Verhinderung unnötiger CO2-Emissionen durch Freizeitvergnügen —, Produktionsverbote — für CO2-intensive Produkte — oder Enteignungen von klimaschädlichem Privateigentum, beispielsweise übergroßen Wohnhäusern, die nicht zur Vermietung freigegeben werden, sind denkbar. Zuvor müsste die Bundesregierung lediglich dem Vorbild einiger deutscher Kommunen folgen und unter Berufung beispielsweise auf den am 28. November 2019 vom EU-Parlament ausgerufenen europäischen Klimanotstand den nationalen Klimanotstand ausrufen.
Möglicherweise ist eine exakte Kopie des Vorgehens wie beim Infektionsschutzgesetz aber auch gar nicht nötig und bedarf es gar nicht erst eines förmlichen Klimanotstands. Vielleicht genügt eine einfache Änderung des Klimaschutzgesetzes. Mit Beschluss vom 24. März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber nämlich dazu verpflichtet, das bestehende Klimaschutzgesetz bis Ende 2022 so zu überarbeiten, dass die Reduktionsziele auch für die Zeit nach 2030 näher geregelt sind und der genaue Fahrplan bis zur Erreichung der Klimaneutralität im Jahr 2050 ersichtlich wird.
Was zunächst harmlos klingt, erweist sich bei näherem Zusehen als explosiv. Der Beschluss erging nämlich, um die beschwerdeführenden Klimaschutzaktivisten vor allzu tiefgreifenden Beschränkungen ihrer Freiheitsrechte durch zukünftige Maßnahmen zur Emissionsreduktion zu schützen. In der Pressemitteilung des Gerichts vom 29. April 2021 heißt es, die geltenden Vorschriften verschöben „hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030“, wodurch die dann noch erforderlichen Minderungen „immer dringender und kurzfristiger erbracht werden“ müssten. Dies berge die Gefahr massiver Freiheitseinbußen. Es sei „praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind“.
Was die Verfassungsrichter mit diesen Sätzen ganz unverblümt zum Ausdruck bringen, ist ihre Auffassung, dass das Ziel, Deutschland bis 2050 klimaneutral zu machen, nach heutigem Stand des Wissens und der Technik nur um den Preis massiver Einschränkungen der vom Grundgesetz geschützten bürgerlichen Freiheiten zu erreichen ist.
Wie ihre weiteren Ausführungen zeigen, rechnen sie nicht damit, dass die für eine freiheitswahrende Zielerreichung — oder, wie sie es nennen, „grundrechtsschonende Bewältigung der nach 2030 drohenden Reduktionslast“ — erforderlichen technischen und sozialen Innovationen in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen werden. Sie greifen dabei zu bemerkenswerten Formulierungen:
„Zwar müsste CO2-relevanter Freiheitsgebrauch, um den Klimawandel anzuhalten, ohnehin irgendwann im Wesentlichen unterbunden werden, weil sich die Erderwärmung nur stoppen lässt, wenn die anthropogene CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre nicht mehr weiter steigt. Ein umfangreicher Verbrauch des CO2-Budgets schon bis 2030 verschärft jedoch das Risiko schwerwiegender Freiheitseinbußen, weil damit die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper wird, mit deren Hilfe die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte.“
Nach Ansicht der Verfassungsrichter gibt es also außer dem durch Mensch und Technik in die Atmosphäre eingebrachten CO2 keinen anderen relevanten Faktor für die Klimaerwärmung, und über ihn lässt sich sogar der gesamte Klimawandel „anhalten“. So weit würden vermutlich nicht einmal Vertreter des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) oder des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung gehen, zweier Institutionen, die vehement die These eines menschengemachten Klimawandels vertreten.
Außerdem dürfen nach den Ausführungen der Richter die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte keine uneingeschränkte Geltung mehr beanspruchen, sondern steht ihr „Gebrauch“ unter einem generellen Klimaverträglichkeitsvorbehalt. Die uneingeschränkte Geltung der Grundrechte — Artikel 1 bis 19 GG — ist auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht mehr vorgesehen. Stattdessen geht es nur noch darum, das Ausmaß ihrer Beschränkung möglichst gering zu halten. Erlaubt sein wird ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch derjenige „Freiheitsgebrauch“, der staatlich als „nicht CO2-relevant“ eingestuft wird. Um es mit den Worten der Richter auszudrücken (Schreibfehler beibehalten):
„Die Möglichkeiten, von (der grundgesetzlich geschützten) Freiheit in einer Weise Gebrauch zu machen, die direkt oder indirekt mit CO2-Emissionen verbunden ist, stoßen an verfassungsrechtliche Grenzen, weil CO2-Emissionen nach derzeitigem Stand weitestgehend irreversibel zur Erwärmung der Erde beitragen, der Gesetzgeber einen ad infinitum fortschreitenden Klimawandel aber von Verfassungs wegen nicht tatenlos hinnehmen darf. Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, begründen eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit, weil sich mit jeder CO2-Emissionsmenge, die heute zugelassen wird, die in Einklang mit Art. 20a GG verbleibenden Emissionsmöglichkeiten verringern; entsprechend wird CO2-relevanter Freiheitsgebrauch immer stärkeren, auch verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein.“
Mit unserer heutigen Lebensweise oder der vor 2020 wird das dann nicht mehr viel zu tun haben, denn wie die Richter ja selbst eingangs feststellten, sind heute „noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht“. Sie bestätigen damit unsere oben zu Risiko 6 — Transformation der Wirtschaft — gegebene Einschätzung, dass die Transformation der Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit nicht ohne Freiheits- und Wohlstandseinbußen ablaufen wird.
Der Möglichkeit, aufgrund der absehbar großen Gefahren für die Grundrechte und die Freiheit beim Klimaschutz einen anderen Weg als den der CO2-Reduktion mit dem Ziel der Klimaneutralität zu beschreiten, erteilen die Richter eine Absage. Zum einen bestehe der vom Grundgesetz in Artikel 20a geforderte Klimaschutz konkret in der Begrenzung der Klimaerwärmung:
„Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten ‚Paris-Ziel‘ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.“
Zum anderen könne dieses Ziel allein über den Weg der Klimaneutralität erreicht werden:
„Zum grundrechtlich gebotenen Schutz vor den Gefahren des Klimawandels offensichtlich ungeeignet wäre ein Schutzkonzept, das nicht das Ziel der Klimaneutralität verfolgte; die Erderwärmung könnte dann nicht aufgehalten werden, weil jede Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zur Erderwärmung beiträgt und einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 dort weitestgehend verbleibt und absehbar kaum wieder entfernt werden kann. Völlig unzulänglich wäre zudem, dem Klimawandel freien Lauf zu lassen und den grundrechtlichen Schutzauftrag allein durch sogenannte Anpassungsmaßnahmen umzusetzen.“
CO2-Reduktion und Klimaneutralität haben demnach Verfassungsrang. Erreicht werden können sie nach Ansicht der Richter nur über Freiheitseinschränkungen. Diese allerdings sind möglichst gleichmäßig über den gesamten Zeitraum bis 2050 zu verteilen, um die Auswirkungen auf die Grundrechte möglichst gering zu halten. Der eigens neu geschaffene Rechtsbegriff hierfür lautet „intertemporale Freiheitssicherung“. Mit ihm wollen die Verfassungsrichter ausgedrückt wissen, dass das Grundgesetz „unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ verpflichtet. In der Frage des Klimaschutzes bedeute dies, dass die Treibhausgasminderungslast nicht ungleich über den Zeitraum bis 2050 verteilt werden dürfe. Das sei gegenwärtig aber nicht der Fall, sondern die Hauptlast liege, siehe oben, vor allem auf dem Zeitraum ab 2030.
In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Reduktionsziele und die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen für die 2020er-Jahre zu erhöhen sind. Nichts anderes dürften die folgenden Sätze aus der Pressemitteilung bedeuten.
„(Denn es) darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen zu müssen. Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt werden, müssen die Auswirkungen auf künftige Freiheit aber aus heutiger Sicht verhältnismäßig sein.“
Die Ausführungen zeigen, dass unter den grundgesetzlichen Normen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Verpflichtung zur CO2-Reduktion höher steht als die Bewahrung der bürgerlichen Freiheiten in Form der Grundrechte. Nur unter dieser Voraussetzung ergeben auch Passagen wie die folgende einen Sinn.
„Die nach 2030 gebotene Treibhausgasminderungslast wird erheblich sein. Ob sie so einschneidend ausfällt, dass damit aus heutiger Sicht unzumutbare Grundrechtsbeeinträchtigungen verbunden wären, lässt sich zwar nicht feststellen. Das Risiko gravierender Belastungen ist jedoch hoch und kann mit den künftig betroffenen Freiheitsgrundrechten nur in Einklang gebracht werden, wenn dies mit Vorkehrungen zur grundrechtsschonenden Bewältigung der nach 2030 drohenden Reduktionslast verbunden ist. Das verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten.“
Diese Argumentation gibt bereits zu erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht Einschränkungen von Freiheitsgrundrechten, die der Gesetzgeber zur Erreichung verschärfter CO2-Reduktionsziele bis 2030 für notwendig erachten mag, vermutlich billigen wird, weil sie gegen die ansonsten später nötig werdenden höheren Einschränkungen abzuwägen und daher vermutlich als verhältnis- und also rechtmäßig anzusehen sind.
Die hier zur Anwendung kommende Argumentationsstruktur ist dieselbe, die wir bereits vom Infektionsschutzgesetz und der „Bundes-Notbremse“ her kennen. Waren es dort die zukünftigen Krankenhauskapazitäten, die nur durch Einschränkung der Freiheitsrechte der gegenwärtig Lebenden geschützt werden können, so sind es hier die Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs zukünftiger Generationen, für die in der Gegenwart auf Freiheiten verzichtet werden soll. Wurde dort die Gesundheit als höchster Wert postuliert, so ist es hier der Klimaschutz. Und erneut soll ein Mehr an Einschränkungen heute für weniger Einschränkungen morgen sorgen. Freiheit einschränken ist demnach gleichbedeutend mit Freiheit schützen. Orwells „Krieg ist Frieden“ aus seinem Buch „1984“ lässt grüßen.
Dieses Kapitel könnte hier zu Ende sein, interessanterweise ist es das aber nicht. Die Politik hat nämlich in atemberaubender Geschwindigkeit auf die neue Vorgabe aus Karlsruhe reagiert. Keine zwei Wochen nach der Pressemitteilung zu dem Gerichtsbeschluss, am 12. Mai 2021, legte die Bundesregierung bereits ein komplett überarbeitetes Klimaschutzgesetz vor, welches am 24. Juni vom Bundestag und am 25. Juni auch vom Bundesrat beschlossen wurde. Keine zwei Monate nach Bekanntmachung des Beschlusses war die Forderung des Gerichts bereits umgesetzt — so schnell kann es in der Politik manchmal gehen.
(…)
Es soll nun also nicht nur schneller gehen mit der Klimaneutralität, der Beitrag zum Klimaschutz soll sogar positiv werden, indem die Emissionen negativ werden. Zudem gibt es nun feste Minderungsziele auch nach 2030, die von einem Expertenrat alle zwei Jahre evaluiert werden und die im Fall der Nichterreichung regierungsamtliche Sofortmaßnahmen nach sich ziehen: „Werden die Budgets nicht eingehalten, steuert die Bundesregierung umgehend nach“ (Hervorhebung Meinrad Böhl). Wie dieses Nachsteuern aussieht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. Nach den Erfahrungen mit COVID-19 liegt es jedoch nahe, an vergleichbare Maßnahmen wie bei der Pandemiebekämpfung zu denken.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Deutschland 2021: Eine Risikoanalyse“ von Meinrad Böhl.
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