Das monopolkapitalistische System sucht in seiner neoliberalen Ausprägung, der (informations-)technologischen Entwicklung entsprechend, neue Felder der Ausbeutung — Stichwort Globalisierung, Privatisierung, Digitalisierung. Dabei nimmt das System über Privatisierungsstrategien bislang mehr oder weniger dem Profit entzogene Bereiche der Daseinsvorsorge wie Energie- und Wasserversorgung, Gesundheit und Bildung ins Visier. Der Mensch selbst wird über seine Arbeitskraft hinaus zum profitablen Objekt, Stichwort BigData.
Mit der Konzentration des Finanzkapitals einher geht eine Oligarchisierung der herrschenden Klasse, eine Verschärfung der Trennung der Klassen, Stichwort Gentrifizierung. Die von Professor Helmut Schelsky mit einer Zwiebel verglichene Mittelstandsgesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten immens geschrumpft. Die Zwiebel hat sich zu einer auf den Boden gestellten Vuvuzela, zur südafrikanischen Tröte, mit dem breiten Trichter einer Tuba entwickelt: Der Mittelstand prekär abgeschmolzen, die Oligarchen wie im Feudalismus in die Höhe entschwunden.
Den 10 Prozent der Monopolbourgeoisie stehen mehr und mehr 90 Prozent Bevölkerung im diametralen Interessensgegensatz gegenüber. Die Parteien konkurrieren um die optimale neoliberale Orientierung, zwischen den Klassen vermittelnde politischen Parteien verlieren an Gewicht bis zur zersplitterten Bedeutungslosigkeit, Stichwort Sozialistische Partei. Politische Opposition drückt sich mehr und mehr in massenhaften Bewegungen aus, Stichwort arabischer Frühling.
Mit den zunehmenden Widersprüchen bezüglich Klima, Umwelt, Einkommen, Gesundheit, Bildung et cetera, der drohenden schwindenden Akzeptanz von privatem Reichtum steigt auch das Bedürfnis der herrschenden Klasse, die bestehende (Eigentums-) Ordnung im Sinne einer schleichenden Rechtsentwicklung den politischen Erfordernissen anzupassen. Dies soll hier an der Bewegung der ausgegrenzten, arbeitslosen, prekär lebenden Gelbwesten, Gilets Jaunes, nachgezeichnet werden.
Samurai wie CRS –feudal wie imperialistisch
In der Kunsthalle der Hypobank hinter dem Münchener Marienplatz glänzen in der aktuellen Ausstellung zur Herrschaft der Samurai in Japan auch Uniformen in den Vitrinen.
Geradezu erschreckend fällt die Ähnlichkeit mit der Bekleidung der französischen CRS-Spezialkräfte — wie auch der hochgerüsteten deutschen Polizei — auf. Modernes Design für Helm, Brustpanzer, Schulterschutz, Knieschoner, Beinbewehrung — das Waffenmonopol wie im japanischen Feudalismus vorausgesetzt, allerdings demokratisch angepasst für die „gestion democratique des foules“, wie die Repression verklausuliert wird. Wie diese „demokratische Lenkung von Massen“ aussieht, kann man an der blutigen Zwischenbilanz des Einsatzes gegen die „Gilets jaunes“ sehen, mit der sich der französische Innenminister, der frühere sozialistische Spitzenpolitiker Christophe Castaner brüstete.
Bild 1: Streetpress 21. Mai 2019: „Documentaire inedit: Gilets Jaunes, une repression d’Etat“.
LBD40 — „Flashball“
In dem halben Jahr „Gilet jaunes“ schossen die Einsatzkräfte der CRS mit den Kaliber 40 großen, 300 km/h schnellen, Hartgummi-Geschossen 24 Frauen und Männer auf einem Auge blind. Ausgegeben zur Selbstverteidung wurde die Waffe stattdessen offensiv benutzt. Auf die Verletzten wurde aus der Distanz gefeuert.
Bild 2: Jean-Marc Manach: „Le LBD multi-coups est bien une ‚arme de guerre’“.
in: bugbrother.blog.lemonde.fr 24.04.2019.
Wie aus dem von dem wikileaks-Enthüllungsjournalisten Jean-Marc Manach in seinem bugbrother.blog veröffentlichen Vergleichstest zu sehen ist, treffen nur die Hälfte der abgeschossenen Projektile ins Ziel: selbst aus der kurzen Entfernung bis zu 10 Metern nur ein Schuss von vieren. Auch wenn die Spezialkräfte nur entsprechend der Dienstanweisung gezielt auf den Körper hätten, wurden die „Kollateralschäden“ offenbar in Kauf genommen.
Der Erfinder des „flash-ball“ Jean-Verney Carron sagte zu den eingesetzten LBD40: „Der Ball mit einem Kaliber von 40 mm … ist viel gefährlicher als der Flash-ball. Das ist ein Kaliber für den Krieg.“. Laut Le Figaro vom 1. Februar 2019 verweigerte sich der Staatsrat „Conseil d’Etat“ allerdings verweigerte, den Einsatz von LBD40 zu suspendieren.35 Professoren der Augenheilkunde verfassten dennoch am 6. Februar 2019 einen offenen Brief an Präsident Emmanuel Macron, in dem sie angesichts der furchtbaren Folgen ein Aussetzen des Einsatzes von LBD40 forderten.
Mit solch einer Waffe sollen auch in Deutschland Polizisten auf Demonstranten losgelassen werden? Der DGB begleitete die Vorbereitungen der Länder, die Polizeigesetze zu verschärfen, mit der Herausgabe der Broschüre „Wider die Normalisierung! Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst und privatisierten Dienstleistungssektor“. Auf dem Seminar des saarländischen DGB in Kirkel am 15. Dez. 2018 wiegelten die Kollegen aus der Gewerkschaft der Polizei, GdP, mit dem Hinweis ab, die Waffe befinde sich „erst in Erprobung“.
Schock-Handgranaten
Sechzehn Gelbwesten hatten offenbar Glück, dass sie mit einer Granate zur Einkreisung, GMD, „grenades a main de encerclement“ nur an der Hand verletzt wurden. Sie hatten wohl die Granate nur gestreift oder noch rechtzeitig zurückgeworfen. „Die sehen aus wie die Tränengas-Dinger“, so ein junger Mann. Fünf hatten weniger Glück, ihnen wurde die Hand von den darin enthaltenen 26 Gramm des Sprengstoffs TNT abgerissen. Le Monde zeigte am 16. Mai 2019 in einem Video von Arthur Carpentier „Violences policiéres : les images décryptées“, wie sich die Police National ihre Einkreisung vorstellte. Entgegen der Dienstanweisung, warfen sie die Granate in hohem Bogen in die Mitte einer Ansammlung, statt sie nur zur Selbstverteidigung zu verwenden und dann zu rollen.
Ministerin Segolène Royal hatte 2014 die stärkere Handgranate OFF1 aus dem Verkehr gezogen, als Remy Fraisse im Wald vor dem Staudamm in Sivens damit tödlich in den Rücken geschossen wurde. Am 31. Juli 1977 hatte die OFF1 bei einer Anti-Atomkraft-Demonstration ebenso einen Demonstranten tödlich getroffen.
Tränengas-Granaten
Eine Demonstrantin beschrieb die Polizeitaktik folgendermaßen: erst präventive Kontrolle der Massen, später diese mit Wasserwerfer in Karrees zusammendrängen und dann mit dem Knüppel auseinander treiben. Auch wenn mir persönlich auf mehreren „Acts“ diese Erfahrung erspart blieb, suchten Tausende jedes Wochenende Schutz vor den Gasschwaden. Traurige Höhepunkte des massierten Einsatzes waren der 8. Dezember 2018, an dem über 10.000 Gasgranaten auf die Pariser Demonstranten niedergingen und der 1. Mai 2019, an dem sogar der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez in Sicherheit gebracht werden musste. In Panik in das Krankenhaus Pitie-Salpetriere fliehende Demonstranten, die den auf Anordnung verriegelten Eingang aufgebrochen hatten, wurden von der Polizei hinausgeprügelt.
Polizeiminister Christophe Castaner wurde auf Anzeige zweier PCF-Abgeordneter verurteilt, seine denunziatorischen Vorwürfe in den Medien wie „kriminelle Attacken“ zurücknehmen, so in Le Monde vom 22. Mai 2019. Das von ihm auf den Weg gebrachte „Maulkorb-Gesetz“, das fake-news verhindern sollte, das am 23. Dez. 2018 verabschiedete „loi infox“, wandte sich gegen ihn selbst.
Den massiven Einsatz von Tränengas stellte selbst die Gewerkschaft der Polizei „Vigi. Ministere de l’Interieure“ in Frage. Teile der CGT-Police hatten sich im Juni 2017 umbenannt und im September 2018 von der CGT getrennt. Vigi ist beunruhigt durch die zahlreichen Krankmeldungen von Kollegen, deren Gesundheitszustand sich von Woche zu Woche verschlechtert habe. Ärztliche Notdienste hätten bei den Kollegen die gleichen Verletzungen wie Verbrennungen der Haut oder Augen und Symptome wie Atembeschwerden festgestellt, wie sie beim Einsatz von Agent CS und CN auftreten. Die Gewerkschaft beruft sich auf das Statement von Kamran Loghman vom 17. Februar 2011, “Tear Gas Orthochlorobenzylidenemalononitrile”. Logman war von 1988 bis 2005 der Vorstandsvorsitzende des CS/CN-Gasgranaten-Produzenten ZARK International, eines der größten Pfefferspray-Produzenten. Logman hatte alternativ zu CS/CN das weniger gefährliche Pfefferspray-Gas MACE erfunden.
Der Gewerkschaft lägen Krankenakten von französischen Soldaten vor, „die diese Munition bei 20 Einsätzen von maximal 1 bis 4 Stunden eingesetzt hatten und ihr ganzes Leben lang schwer behindert waren: Ihre Lungen waren verbrannt und nekrotisch durch die von ihnen eingesetzten Gase.“ Vigi veröffentlichte hierzu am 2. Mai 2019 auf ihrer website einen Auszug aus einem Gerichtsverfahren.
Vigi fragt, wer den Einsatz der chemischen Kampfstoffe in Gasform zu verantworten habe. Präsident Emmanuel Macron? Innenminister Christophe Castaner? Die Herren in der Polizeidirektion? Vigi fragt, warum keine Gasmasken für die Kollegen ausgegeben worden seien. Sind sie nicht geeignet für den Kampfstoff CS? Aber warum sind die Kollegen der Gendarmerie und der Feuerwehr mit den Gasmasken der neuesten Generation ausgestattet?
Die Polizeigewerkschaft befürchtet Langzeitwirkungen, eine „echte Gesundheitskatastrophe“, mehr als 200.000 Bürger — Polizisten wie Demonstranten — seien diesen Gasen ausgesetzt gewesen.
Kriegswaffen gegen Demonstranten
Zum ersten Mal seit dem Krieg gegen die algerische Befreiungsbewegung in den 1960er Jahren wurde die französiche Spezialpolizei CSR mit dem halbautomatischen Infanterie-Sturmgewehr HK G 36 von Heckler & Koch und mit scharfer Munition auf die Straße geschickt, wie die Wochenzeitschrift Le Canard Enchainé am 23. Jan. 2019 berichtete.
„Feuer frei“ wurde mit den anderen Kriegswaffen gegeben: den sogenannten „Flashball“-Kanonen, den Schock-Granaten und das chemisch angereicherte Reizgas. Wie Le Monde am 14. Juni schrieb, sind zu Beginn der Proteste im November und Dezember 2018 doppelt so viele Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert worden wie bei Großdemonstrationen in den Vorjahren. Allein im ersten Monat der Manifestationen vom 17. November bis 17. Dezember wurden nach „franceinfo“ 216 Personen in Untersuchungshaft genommen. Aus der Gruppe der 4.570 verhafteten Demonstrantinnen und Demonstranten, die in Polizeigewahrsam, „garde a vue“, waren es allein in Paris 1.567. Laut Franceinfo vom 3. Jan. 2019 kamen 42 Personen vor den Jugendrichter in Paris und 178 außerhalb. Zum Act IV am 8. Dezember 2018 seien von den 125.000 Teilnehmer in ganz Frankreich 11.400 Personen festgenommen, 118 verletzt worden.
Die Polizeigewerkschafter in der CGT schrieben an Weihnachten, dass „einzig der Staat für die Gewalt verantwortlich“ sei. Die massive, medial konzertierte, Abschreckungswirkung schlug sich auch auf die Zahlen der Beteiligten nieder: sie sank von 288.000 auf 66.000 Teilnehmer. Ganz im Sinne des Präsidenten der Nationalversammlung Richard Ferrand (LREM), der am 17. Dezember 2018 etwas voreilig im Fernsehen verkündete: „Der Kampf ist vorbei“, um dann im TV-Nachrichten-Kanal LCI am 10. Februar 2019 zu urteilen, die Gelbwesten hätten „die Grenze überschritten“.
Le Monde hat am 16. Mai 2019 ein Video ins Netz gestellt: „Violences policières: les images décryptées“, in dem Aline Daillère hunderte von Clips auswertete. Die Juristin und Autorin von „Ordnung und Macht“ gab 2016 einen Bericht der christlichen Vereinigung für die Abschaffung der Folter heraus. Zusammenfassend wird von Le Monde festgestellt:
„Und was aus Ihrer Analyse hervorgeht, ist, dass viele der dokumentierten Handlungen tatsächlich Missbräuche oder sogar Misshandlungen sind und dass sie — weit davon entfernt, Einzelfälle zu sein — die Notwendigkeit bezeugen, die Art und Weise infrage zu stellen, wie die Ordnung in Frankreich aufrechterhalten wird.“
Dem ist nichts hinzuzufügen!
Allerdings verbleibt zu fragen, ob die „freiwillige Selbstkontrolle“, die „Polizei der Polizisten“, die Dienstaufsichtsbehörde funktionierte. Die „Inspection Generale de la Police Nationale“ (IGPN) geht zur Zeit 240 Dienstaufsichtsbeschwerden nach. Allerdings sprach die IGNP bislang weder administrative Maßregelungen wie Belehrungen, Abmahnungen, Beförderungsstops oder Versetzungen aus, noch reichte sie eine Anzeige vor Gericht ein, wozu sie eventuell verpflichtet wäre, so Le Monde vom 18. Mai 2019.
Die skandalöse stundenlange Festnahme der 148 Schüler in Mantes-la-Jolie, Region Paris, im Dezember 2018 wurde laut Le Monde vom 16. Febr. 2019 zwar dienstrechtlich untersucht, aber ein Fehlverhalten der Polizei wurde nicht festgestellt, so Le Figaro vom 16. Mai 2019, sodass die Eltern der betroffenen Kinder den Gerichtsweg beschreiten müssen.
Zum Vergleich die Zahlen aus dem Jahr 2017: Von 1085 Verfahren wurden immerhin 276 administrativ geahndet (1).
Innenminister Christophe Castaner zeigte sich unbeeindruckt von den Folgen der „demokratischen Lenkung von Massen“. Nicht nur die schweren Verletzungen und lebenslangen Verstümmelungen von Demonstranten, auch die nach seinen Angaben 1.797 verletzten Polizisten, ganz zu schweigen von den 28 Kollegen, die „in Ausübung ihres Dienstes“ ihrem Leben selbst ein Ende setzten. Diese bedrückende Historie bedarf der Aufarbeitung analog der Selbstmord-Welle 2010/2011 bei France Telecom, wofür die Verantwortlichen des „Manager-Mobbings“, der Vorstandsvorsitzende und der Arbeitsdirektor sich zur Zeit vor Gericht verantworten müssen.
Innenminister Castaner waltet unbeeindruckt seines Amtes und billigte neue massive Waffenkäufe für die in Städten eingesetzte Police Nationale: 10.000 Schock-Handgranaten GMD pro Jahr, zusätzlich zu den 1280 einschüssigen „Flashball-Kanonen“ LBD für die auf dem Land eingesetzte Gendarmerie und den 450 halbautomatischen, mehrschüssigen LMC für die Police Nationale, angeschafft am 23. Dezember 2018, wie Jean-Marc Manach am 12. Juni 2019 in bastamag veröffentlichte. Aber noch mehr erstaunt der Kauf von 25 Millionen Sturmgewehr-Patronen für die kommenden vier Jahre.– Scharfe Munition für die Polizei , die „demokratische Lenkung von Massen“?
BILD 5: Active Denial System (ADS).
Aber auch eine neue non-letale Waffe hat Aufmerksamkeit gefunden: das „Aktive Verweigerungs-System“ (Active Denial System (ADS), das in USA bereits in Erprobung ist, berichtet Jean Levy in seinem blog „Ca n’empeche pas Nicolas“. ADS sendet sekundenkurz fokussierte Mikrowellen, die über eine Entfernung von mehreren Hundert Metern die Haut verbrennen und schmerzhaft wie Nadelstiche wirken sollen.
Klassenjustiz
Seit dem 5. Februar 2019 wurde der Ausnahmezustand zum Alltag: die Nationalversammlung erließ das „Randale-Gesetz“, loi anticasseur, in erster Lesung. Weil einem großen Teil der Regierungsfraktion LREM die Rechtsbeschränkungen zu weit gingen, mussten Konservative von LR dem Gesetz zur Mehrheit verhelfen das am 10. April 2019 in Kraft gesetzt wurde. Sich zu vermummen wird nunmehr mit einem Jahr Gefängnis und 15.000 Euro Geldstrafe bestraft. Wenigstens kassierte der mit früheren Staatspräsidenten wie Giscard d‘Estaing besetzte „Verfassungsrat“, der Conseil constitutionnel, den kryptofaschistischen, an das Vichy-Regime erinnernden Artikel 3.
Dieser Artikel hätte den Präfekten der 101 Departements erlaubt, ein individuelles Demonstrationsverbot auszusprechen, so Liberation vom 4. April 2019. Dennoch erlaubt Art. 8 des Gesetzes einem Richter, vorbeugend die Beteiligung an öffentlichen Demonstrationen zu verbieten. Was ohnehin in den letzten Jahren unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes an Gegnern von Großprojekten wie den Flughafen in Nantes oder den Stausee in Sivens praktiziert wurde. „Schutzhaft“ wäre der nächste Schritt?
Am 12. Februar 2019 zog Premierminister Edouard Philippe eine Zwischenbilanz und erklärte, dass 5600 Personen verhaftet, davon 1.700 in Gewahrsam genommen und 400 in Untersuchungshaft genommen worden seien. 1.422 Verfahren seien offen. Justizministerin Nicole Belloubet verkündete ihre Bilanz, wie die Mühlen der Justiz den Protest aufarbeiten: 2000 Verurteilungen, davon sind 40 zu Gefängnis ohne Bewährung das Resultat von 8.700 Verhaftungen und 4.000 Strafanzeigen. 1.800 Verfahren seien noch vor Gericht offen, so Le Monde vom 25. März 2019. Wen stört es, dass hierzu auch die Daten der Notärzte-Sanitätsdienste abgegriffen wurden?
Um nur drei, einem Rechtsstaat Hohn sprechende Urteile anzuführen: Gleich zu „Act I“ am 17. November 2018: Ein Schweißer wurde aus einer Menschenkette herausgegriffen, die die Autobahn bei Straßburg blockiert hatte. Er wurde am 20. November für 4 Monate ins Gefängnis gesteckt, so L’Observateur am 20. Nov. 2018. Le Monde berichtete am 30. April 2019, dass eine Gelbweste zu 8 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, weil sie Polizisten zuschrie: „Bringen Sie sich um!“ 28 Polizisten hatten seit Anfang des Jahres Selbstmord begangen. Gegen den prominenten „Gilet Jaune“ Eric Drouet beantragte der Staatsanwalt 4 Monate Gefängnis wegen „Gruppenbildung zur Vorbereitung von Gewalt oder Beschädigungen“, weil in seiner Handtasche ein „Stück Holz“ als Waffe identifiziert wurde, so Le Monde vom 5. Juni 2019. Die Verhandlung wurde auf den 4. September vertagt.
Wer zählt die Anzahl von Kolleginnen und Kollegen wie die drei, die bei Amazon gefeuert wurden, weil sie auf facebook ihre Sympathie für die Gelbwesten äußerten, fragte L’Humanité am 8. Februar 2019? CGT-Kollegen konnten laut RT France 11. Februar 2019 mit der demonstrativen Besetzung des Amazon-Logistikzentrum in Val-de-Marne dort Maßregelungen verhindern. Ähnlich wie die 70.000 Solidaritätsadressen an Präsident Macron auf der Plattform „Mes Opinion“ für den prominenten Ex-Profiboxer Christoph Dettingen, die seine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst verhinderte.
Wer zählt die Verhafteten, die willkürlich zu Schadensersatzleistungen herangezogen werden? Wie jene zu 331.000 Euro, die am 16. Januar den Kreisverkehr vor einem Carrefour Einkaufzentrum in Ollioules (Toulon) blockiert hatten, wie die CGT in ihrer Presseerklärung vom 27. Februar 2019 schrieb.
Wen wundert es, dass Ende Januar 59 Rechtsanwälte erklärten, bei der Verteidigung behindert worden zu sein?, berichtet TVFranceinfo am 4. Februar 2019.
Ein Akt der Notwehr: 350 Universitätsprofessoren, Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker erklärten sich zu „Komplizen“ der Gelbwesten, verurteilten öffentlich die « autoritären Tendenzen der Staatsmacht“. Sie forderten „den Gebrauch der Kriegswaffen“ einzustellen, so L’Observateur vom 23. März 2019.
Solidarität und Amnestie
Einen nationalen Solidaritätsfonds einzurichten — ähnlich der deutschen „Roten Hilfe“– wird eine unabweisbare Kampfaufgabe sein — analog der Streikfonds der Gewerkschaften. Der Ex-Profiboxer Christoph Dettinger wollte bereits einen Anfang machen. Das für ihn eingerichtete Soli-crowding auf der Plattform leetchi erbrachte in wenigen Stunden 145.152 Euro, bis es abgeschaltet wurde. Den die Kosten seines Verfahrens übersteigenden Betrag wollte er spenden. Allerdings wurde das Solidaritätskonto bis zur endgültigen Entscheidung gesperrt und die Spender von der Polizei verhört, berichtet Ouest-France am 20. Juni 2019. Dettinger hatte Anfang Januar zwei Polizisten k.o. geboxt und war bis zu seinem Prozess Ende Februar in Haft. Er wurde zu 30 Monaten Gefängnis mit Fußfessel-Freigang verurteilt, davon 18 Monate auf Bewährung. Dazu wurde ihm verboten, während 6 Monaten das Stadtgebiet von Paris zu betreten.
Dass sich Premierminister Edouard Philippe gegen eine Amnestie stellt, nimmt nicht Wunder, so BFMTV am 13. Febr. 2019. Allerdings sind die Stimmen der „Gilets Jaunes“ nach Amnestie bislang nicht stark genug. Eine online-Petition, initiiert von Schriftstellern und Künstlern, zählte am 20. Juni 2019 gerade einmal 80.494 Unterschriften. Einen Act, einen Samstag unter die zentrale Forderung nach Amnestie zu stellen, konnte erst ein Anfang des Kampfes sein. CGT, die größte französische Gewerkschaft, hat auf ihrem „Congres“ vom 13. bis 17. Mai 2019 beschlossen, mit den Gelbwesten zusammenzuarbeiten, „Convergence“. Und dies könnte der Weg sein, die Kräfte der antikapitalistischen Veränderung zu bündeln.
Die Gilets Jaunes hatten es auf ihrer zweiten Delegiertenkonferenz, der „Assemblee des Assemblees“ am 5. bis 7. April 2019 in St. Nazaire auf einen kurzen Nenner gebracht: „Ende des Monats — Ende der Welt, die gleiche Logik, der gleiche Kampf“. Der tägliche Kampf ums Geld, das am Ende des Monats knapp wird — den Gelbwesten und Gewerkschaften führen — hat den gleichen Gegner wie der Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels: das kapitalistische Ausbeutungs-System und ihre oligarchischen Ausbeuter.
Am 21. September 2019 ist der „historische Marsch“ für „klimatische und soziale Gerechtigkeit“ angesagt: „act 45 jaune und vert“, gelb und grün zusammen. Der Marsch wird ein größeres Echo finden müssen wie der Marsch am 16. März 2019, nach Passerelle Eco vom 18. März 2019, nämlich über 380.000…(2). Denn die Zeit drängt….
Quellen und Anmerkungen:
(1) Le Monde 18. Mai 2019 : „Comment fonctionne l’IGPN, la ‚police des polices‘“ Video
(2) Passerelle Eco 18. März 2019: „Marche pour le climat : un succès invisibilisé“
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