Die Initiative „Querdenken 421“ in Bremen hatte am 5. Dezember 2020 in die Hansestadt zum „Bundesweiten Fest für Frieden und Freiheit“ eingeladen. Die Organisatoren forderten „die sofortige Beendigung sämtlicher Corona-Maßnahmen und Wiederherstellung der Grundrechte“. Doch das Fest sowie eine weitere Veranstaltung wurden vom Bremer Ordnungsamt verboten. Zwei Eilanträge der Initiative gegen das Verbot wurden Berichten nach vom Verwaltungsgericht (VG) der Stadt ebenso wie vom Oberverwaltungsgericht (OVG) abgelehnt.
Daraufhin hatten die Organisatoren von „Querdenken 421“ einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe eingereicht, um das Verbot aufheben zu lassen. „Die Grundrechte von Menschen sind von essenzieller Bedeutung und dürfen auch in einer Pandemie niemals in irgendeiner Weise eingeschränkt werden“, begründeten die Veranstalter laut der Bremer Kreiszeitung den Gang nach Karlsruhe. Doch auch die obersten Verfassungsrichter bestätigten das Verbot der Demonstrationen in Bremen.
Medienberichten zufolge ließen sich nicht alle vom Verbot davon abhalten, auf der Straße zu zeigen, was sie von der Corona-Politik halten. Die Polizei Bremen hatte sich nach einem Bericht des Weser-Kuriers auf einen Großeinsatz vorbereitet, samt Reiterstaffel, Hubschrauber sowie Polizisten der Bundespolizei, aus Bayern, Brandenburg, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Auch Wasserwerfer wurden aufgefahren und eingesetzt, um das vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Verbot durchzusetzen.
Den Berichten nach ging die Polizei gegen „Querdenker“ vor, die sich trotzdem in Bremen versammelten, aber ebenso gegen Teilnehmende an nicht verbotenen Gegendemonstrationen. Nach Angaben der Kreiszeitung gab es über 450 Anzeigen wegen angeblicher Ordnungswidrigkeiten, „davon mindestens 150 wegen Corona-Verstößen“.
Gerichte ohne Zweifel
Beachtenswert ist, wie die Gerichte das Verbot begründeten: Laut Weser-Kurier erklärte das Oberverwaltungsgericht Bremen, die erwartete hohe Teilnehmerzahl von etwa 20.000 Menschen gefährde die Öffentlichkeit. Gerade von symptomfreien Erkrankten gehe ein erhebliches Risiko aus, so das Gericht. Aus seiner Sicht gab es kein „milderes Mittel“ als das Versammlungsverbot. „Es wäre nicht geeignet, dem Antragsteller ein Schutz- und Hygienekonzept aufzuerlegen, dessen Einhaltung letztlich nicht zu erwarten sei.“
Auf 23 Seiten hatte zuvor das Bremer Verwaltungsgericht am 2. Dezember 2020 das Verbot ausführlich begründet. Dabei wurde den Veranstaltern unter anderem mitgeteilt, vorherige „Querdenken“-Demonstrationen hätten gezeigt, dass sich die Teilnehmenden nicht an die verordneten Hygieneregeln halten. Ebenso sei deutlich geworden, dass die Polizei diese Regeln nicht durchsetzen könne.
„Die eigene Website von Querdenken421 zeige deutlich, dass die Gruppierung die Maskenpflicht grundlegend in Frage stelle und die Gefahren durch das Virus verleugne“, so das Gericht.
„Generell lasse sich anhand der bundesweiten Erfahrungen mit der Querdenken-Bewegung seit Ende August in Berlin prognostizieren, dass es bei so gut wie jeder Versammlung zu Verstößen gegen Schutzmaßnahmen, Versammlungsauflagen und so weiter gekommen sei; es hätten immer wieder Versammlungen aufgelöst werden müssen.“
Das Bremer OVG übernahm bei seiner Entscheidung vom 5. Dezember 2020 diese Behauptungen und Unterstellungen. Es erklärte, von den Veranstaltungen gehe eine „erhebliche Infektionsgefahr für die Versammlungsteilnehmer, Polizeibeamten und Passanten“ aus. Es handele sich um eine „unmittelbare Gefahr für das Rechtsgut des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit“, weshalb das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zurückstehen müsse.
Behauptungen ohne Beweise
Es müsse nicht konkret nachgewiesen werden, „dass es in der Vergangenheit zu Infektionen mit dem Coronavirus infolge der Teilnahme an einer Versammlung gekommen ist“, erklärte das OVG. Die „hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts“ reiche aus, so die Bremer Richter. Sie beriefen sich dabei auf „aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auch im Zusammenhang mit Gruppenveranstaltungen“ und mehrfach auf Publikationen des Robert Koch-Institutes (RKI).
Das Karlsruher Bundesverfassungsgericht konnte in den Gerichtsentscheidungen keinen Fehler erkennen und bestätigte das Verbot. Es verwies dabei auf Absatz 2 des Artikels 2 des Grundgesetzes („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“). Die darin beschriebenen Rechte Dritter müssten geschützt werden.
Unter anderem behauptete das Bremer OVG neben dem Verweis auf die gemeldeten hohen aktuellen Zahlen, es gehe „gerade von symptomlos infizierten Personen ein erhebliches Risiko der zunächst unbemerkten Weiterverbreitung aus“. Das vervielfache sich „gerade bei Veranstaltungen mit einer hohen Teilnehmerzahl wie der vorliegenden“. Großveranstaltungen würden „nach der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnislage dazu beitragen, Sars-Cov-2 schneller zu verbreiten“.
Dazu verwies das Gericht unter anderem auf den am 27. November 2020 aktualisierten RKI-Steckbrief zum Virus und zu der von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelösten Krankheit Covid-19. Dort ist Folgendes zu lesen:
Es gebe „vermutlich auch Ansteckungen durch Personen, die zwar infiziert und infektiös waren, aber gar nicht erkrankten (asymptomatische Übertragung). Diese Ansteckungen spielen vermutlich jedoch eine untergeordnete Rolle.“
Virologin mit Widerspruch
Zudem behauptete das OVG, das aktuell gemeldete Infektionsgeschehen stehe „nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch im Zusammenhang mit Gruppenveranstaltungen“. Auch hier wird auf das RKI verwiesen, das sich dazu in seiner am 1. Dezember 2020 aktualisierten „Risikobewertung zu Covid-19“ geäußert habe. Dort ist dazu Folgendes zu lesen:
„Das Infektionsgeschehen ist zurzeit diffus, in vielen Fällen kann das Infektionsumfeld nicht mehr ermittelt werden. Covid-19-bedingte Ausbrüche betreffen private Haushalte, das berufliche Umfeld sowie insbesondere auch Alten- und Pflegeheime.“
Langer „Face-to-Face-Kontakt“ spielt laut RKI eine große Rolle. Bei größeren Menschenansammlungen bestehe „auch im Freien ein überhöhtes Übertragungsrisiko“.
Auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sich das RKI bei letzter Aussage stützt, ist nicht angegeben. Dagegen hatte die renommierte Virologin Karin Mölling mir in einem Interview für Sputniknews im März erklärt: „Auf der Straße steckt man sich nicht an!“ Sie hatte schon damals ausdrücklich vor den derzeit erneut ins Spiel gebrachten Ausgangssperren auch in Deutschland gewarnt:
„Aber drinnen, in den Räumen ist die Ansteckungsgefahr natürlich gigantisch. Innenräume sind ja viel ansteckender als draußen die frische Luft. Die Ausgangssperre kann eigentlich eher negativ wirken.“
Sogar die selbsternannten Faktenchecker öffentlich-rechtlicher Sender wie der „Faktenfuchs“ vom Bayrischen Rundfunk konnten im Sommer Behauptungen nicht nachweisen, dass Großveranstaltungen wie Demonstrationen besonders ansteckend seien. Sie behalfen sich mit einer allgemeinen Erklärung: „Prinzipiell birgt jede größere Ansammlung von Menschen das Risiko, sich mit Sars-CoV-2 anzustecken, vor allem, wenn die Hygieneregeln nicht eingehalten werden. Das gilt auch für draußen - auch wenn die Gefahr hier geringer ist als in geschlossenen, schlecht gelüfteten Räumen.“
Behörden ohne Belege
Der Sender Deutschlandfunk hatte sich im Juli dieses Jahres mit der Frage der Ansteckungsgefahr bei Demonstrationen beschäftigt. Das sei aufgrund fehlender Daten schwer zu bewerten, wurde das RKI zitiert. Der Sender hatte bei kommunalen Behörden nachgefragt:
„Nach Erkenntnissen örtlicher und regionaler Behörden haben Massenveranstaltungen wie die bundesweiten Demos gegen Rassismus Anfang Juni offenbar kaum Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen gehabt.“
Es gebe keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Demonstrationen und Covid-19-Erkrankungen oder Infektionsketten, wurden mehrere Behördensprecher aus Großstädten zitiert.
Eine Ende September 2020 veröffentlichte Analyse des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern hatte alle entsprechenden verfügbaren Erkenntnisse in 79 Studien durchforstet. Den Wissenschaftlern zufolge ergab sich daraus, dass die sogenannten asymptomatisch Infizierten nur einen Anteil von etwa 20 Prozent der Erkrankten ausmachen. Die meisten Sars-Cov-2-Infektionen würden während des gesamten Infektionsverlaufs nicht asymptomatisch verlaufen, erklärte die Berner Forscherin Nicola Low laut Focus online.
Allerdings gelten auch diese Erkenntnisse als nicht sicher, da die meisten der Studien nicht den Anteil asymptomatischer Sars-Cov-2-Infektionen abgeschätzt hätten. Ebenso sind laut den Forschern die möglichen Auswirkungen falsch negativer PCR-Testergebnisse nicht berücksichtigt worden.
Wuhan-Studie mit Hinweisen
Eine chinesische Studie in der Millionenstadt Wuhan, von der die Sars-Cov-2-Infektionen ausgegangen sein sollen, hat gezeigt, dass sogenannte asymptomatisch Infizierte keine Ansteckungsgefahr sind. Dabei sind laut einem Bericht des Deutsches Ärzteblatts vom 2. Juni 2020 etwa zehn Millionen Menschen im Mai dieses Jahres getestet worden. Dabei seien insgesamt nur 300 asymptomatische Infektionen entdeckt worden.
Die angesteckten Personen und 1.174 enge Kontaktpersonen seien isoliert worden und medizinisch beobachtet worden, hieß es unter Berufung auf chinesische Medien. Die Menschen aus der zweiten Gruppe seien aber negativ getestet worden, wurde später gemeldet. Die vollständigen Ergebnisse der Studie wurden am 20. November 2020 auf der Webseite der Zeitschrift Nature online veröffentlicht. Nach Angaben der chinesischen Wissenschaftler sind bei den Personen, die positiv getestet und als asymptomatisch Infizierte gemeldet wurden, die anschließend angelegten Viruskulturen aber negativ gewesen. Das deute darauf hin, „dass in den in dieser Studie nachgewiesenen positiven Fällen kein ‚lebensfähiges Virus‘ vorhanden war“, so die Autoren.
Der Wirtschaftswissenschaftler Norbert Häring hatte am Folgetag in seinem Blog auf die chinesische Studie aufmerksam gemacht. Aus seiner Sicht nährt das Ergebnis des Wuhan-Massentests Zweifel an der deutschen Anti-Corona-Strategie. Er verwies aber darauf, dass die Untersuchung nicht die vorsymptomatischen Fälle behandelte, „die in Wuhan nach dem Lockdown wohl kaum noch auftraten“. Dabei geht es um jene, die in den ersten Tagen der Infektion noch keine Symptome zeigen, aber diese eventuell noch entwickeln. „Diese könnten infektiöser sein als die echten asymptomatischen Fälle, die auch später keine Symptome entwickeln“, so Häring. Er machte auf einen weiteren Nature-Beitrag aufmerksam, nach dem sich Wissenschaftler international nicht einig sind über die Rolle der sogenannten asymptomatisch Infizierten bei den Ansteckungen.
Politik ohne Interesse
Es zeigt sich: Die von den Bremer Gerichten behauptete „wissenschaftliche Erkenntnislage“ zu Großveranstaltungen und asymptomatisch Infizierten gibt es nicht. „Es gibt viele — teils begründete — Vermutungen dazu, aber sehr wenig Beweiskraft.“ Das hatte Gesundheitsforscher Jürgen Windeler gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit in einem online am 2. Dezember 2020 veröffentlichten Interview erklärt. Der Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beantwortete damit die Frage, ob die politisch verordneten Anti-Corona-Maßnahmen wissenschaftlich belegt sind.
Windeler hat den Eindruck, dass sich kaum jemand dafür interessiere. Das von ihm geleitete unabhängige Institut beantworte eigentlich solche Fragen, könne aber nur im Auftrag handeln. Aber weder vom Bundesgesundheitsministerium noch von anderen zuständigen öffentlichen Institutionen seien entsprechende Anfragen gekommen.
„Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind oder waren. Deshalb haben wir bis heute keine Daten aus Deutschland zur Infektionssterblichkeit. Wie ist es um die Antikörperbildung und die Immunität bestellt? Wir wissen auch nicht, wie viele Infektionen völlig unauffällig verlaufen.“
Entscheidungen auf dünner Datenbasis
Windeler machte klar, dass es keine wissenschaftlichen Studien für die deutsche Situation gebe, nur „alle möglichen Simulationen aus dem Ausland, die für Aussagen über Deutschland benutzt werden“. Es sollten aber nur Zahlen verwendet werden, die gut begründet werden können, forderte der Gesundheitsforscher. „Wir haben eine zu dünne Datenbasis, mit der wir Entscheidungen begründen“, stellte er fest und fügte hinzu: „Wir könnten auch längst wissen, wer wie stark ansteckend ist. Stattdessen schicken wir alle mit einem positiven PCR-Test in zweiwöchige Quarantäne.“
Der IQWiG-Chef nannte eine Ursache für das verbreitete Unwissen:
„Derzeit sind Diskussionen und wissenschaftlicher Streit unerwünscht. Ich weiß von Wissenschaftlern, die durch Telefonanrufe oder Twitter-Mitteilungen darauf hingewiesen wurden, dass ihre Meinung nicht gefragt sei.“
Laut Windeler trägt das weniger zu klaren Erkenntnissen bei, stattdessen mehr zur politischen und gesellschaftlichen Polarisierung. Eine Folge davon sind Gerichtsentscheidungen wie die von Bremen und Karlsruhe. Der gesellschaftliche Schaden durch die Corona-Politik wird dadurch vergrößert. Auch weil die Justiz ein weiteres Mal nicht als unabhängiges Element der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland entscheidet.
Justiz mit Symptomen
„Nicht die Lockerungen der Corona-Beschränkungen bedürfen einer Rechtfertigung, sondern ihre Aufrechterhaltung oder Wiedereinführung“, schrieb vor Monaten der einstige BVerfG-Präsident Hans-Jürgen Papier. Für ihn sind die Corona-Maßnahmen der regierenden nicht grundsätzlich falsch. Er sagte aber immerhin im Oktober 2020 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung, „wer die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung schützen will, darf nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen“. Und:
„Jede konkrete Maßnahme muss nachweisbar geeignet, erforderlich und angemessen sein, um die Verbreitung des Infektionsgeschehens zu verhindern. Ein solcher Nachweis kann nur durch Tatsachen gelingen.“
Das klingt nach Widerspruch zu den Bremer Gerichtsentscheidungen. Doch stattdessen scheint es ausreichend, dass die regierende Politik die gemeldeten Covid-19-Zahlen — durch ihr unterstellte Behörden wie das RKI — trotz fehlender Wissenschaftlichkeit als Gefahr deutet. Es zeigt sich, dass die Richter die politische Linie der Regierenden übernommen haben, mit der das fortgesetzte Beschränken der Grundrechte begründet wird. Das ist ein Symptom dafür, dass der Rechtsstaat infiziert ist — vom Virus der unkontrollierten Macht, die mit Angst regiert.
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