Flo Osrainik: Herr Mausfeld, wir leben nicht nur in irren und wirren, sondern auch in brisanten und gefährlichen Zeiten. Da wird ein Kampf gegen die Überbringer der Wahrheit geführt — am Journalisten Julian Assange soll ein Exempel statuiert werden. Man verfolgt und bestraft also Menschen, die Verbrechen aufdecken und lässt die Verbrecher laufen. Bürger werden massenhaft überwacht, eine Handvoll Männer besitzt mehr als die halbe Weltbevölkerung, Zivilisten werden außergerichtlich von Drohnen ermordet, das Völkerrecht interessiert ohnehin längst keinen mehr, Armeen werden wieder aufgerüstet, Feindbilder willkürlich aufgebaut, die Messer lautstark gewetzt, der Planet systematisch zugemüllt und die Masse bleibt scheinbar fern(seh)gesteuert bei Fußball, Seifenopern und Dschungelcamp zu Chips und Bier vor der Glotze hängen. Man kann die Menschen offensichtlich mit Lügen in Kriege verwickeln, deren Folgen weitere Kriege, Tod und Elend sind, und alle bleiben so lange ruhig, bis die Opfer anklopfen. Dann taucht eine jugendliche Klimaaktivistin, noch ein Kind, in den Medien auf und weist auf ein bekanntes Problem hin, das alle betrifft. In kürzester Zeit gab es eine weltweite Bewegung der Empörung plus Gegenbewegung. Ähnlich verhält es sich nun in der Corona-Krise, die all das auch noch schnell vergessen macht. Grundsätzlich gefragt: Was läuft auf diesem Planeten schief?
Rainer Mausfeld: Wenn Sie in Dimensionen unseres Planeten denken, wird die Antwort natürlich anders ausfallen, als wenn Sie in Dimensionen unserer Epoche, also der vergangenen Jahrzehnte denken. Auf beiden Ebenen lässt sich die Frage, was schief läuft, zumindest auf sehr abstrakter Ebene klar beantworten.
Beginnen wir mit der Vogelperspektive auf uns selbst, also auf unsere evolutionsbiologische Beschaffenheit als Gattung „Mensch“. Der Mensch weist gegenüber allen anderen Lebewesen eine evolutionäre Besonderheit auf, die für seine Zivilisationsentwicklung gewaltige Konsequenzen hat. Einige unserer höheren kognitiven Befähigungen konnten sich nämlich in der Evolutionsgeschichte nur dadurch entwickeln, dass sie von einer rigiden Instinktbindung befreit wurden. Das bedeutet, dass die damit verbundenen psychischen Funktionskreisläufe nicht mehr gleichsam mechanisch und starr ablaufen, sondern viele Freiheitsgrade haben, aus denen sich im Gefüge der vielen psychischen Komponenten unseres Geistes fast beliebig viele Kombinationsmöglichkeiten ergeben.
Diese besondere Art von mentaler Architektur, die Noam Chomsky in das Zentrum seiner Arbeiten zur Sprache gestellt hat, ist die Basis menschlicher Kreativität in Sprache, Musik, Kunst, Spiel und in vielen anderen Bereichen. Die Kehrseite dieser evolutionären Errungenschaft einer Befreiung von rigider Instinktbindung ist jedoch, dass auch die destruktiven Kapazitäten des Menschen nicht mehr, wie bei anderen Lebewesen, biologisch selbstlimitierend sind, sondern nahezu grenzenlos. Insofern könnte man den Menschen, wie dies auch von einigen Evolutionsbiologen zum Ausdruck gebracht wird, als eine Art evolutionsbiologischen Designfehler betrachten, weil sein destruktives Potenzial die internen Möglichkeiten einer Kontrolle bei Weitem übersteigt und somit nahezu grenzenlos ist. Damit trägt der Mensch gleichsam den Keim einer Selbstzerstörung in sich. Die gesamte Zivilisationsgeschichte lässt sich als ein Bemühen verstehen, die daraus resultierenden Probleme unseres gemeinschaftlichen Zusammenlebens kompensatorisch zu bewältigen. Das bedeutet insbesondere, zivilisatorische Schutzbalken zu entwickeln, durch die Macht eingehegt werden kann. Die Leitidee der Demokratie ist das bedeutendste Beispiel.
Damit sind wir dann bei der für uns heute relevanteren Frage: Was läuft schief in den vergangenen Jahrzehnten? Auch hier ist auf abstrakter Ebene die Antwort nicht schwer: Mit der neoliberalen Gegenrevolution, die gerade darauf zielt, alle zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung ein für allemal zu beseitigen, wurde auch eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften gegen die Barbarei, also gegen ein Recht des Stärkeren, de facto beseitigt, nämlich die Demokratie als radikale Vergesellschaftung von Herrschaft. Dadurch ist in den vergangenen Jahrzehnten die Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen den Zentren der Macht und den Machtunterworfenen so groß geworden, dass sich Macht wieder ungehindert und zügellos entfalten kann. Das hat innerhalb von Gesellschaften wie auch im Verhältnis zwischen den Staaten zu einer Rückkehr zum Recht des Stärkeren geführt und damit zu einem massiven zivilisatorischen Regress.
Zu dieser gigantischen Asymmetrie der Macht gehört auch, dass sich die eigentlichen Zentren der Macht immer abstrakter organisiert und sich global so vernetzt haben, dass sie grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind.
Sie haben dem Volk die Souveränität einer Selbstgesetzgebung entzogen und sich selbst eine legislative Souveränität gegeben. Auf diese Weise haben sich mittlerweile die Zentren der Macht und insbesondere transnationale Großkonzerne zu Selbstversorgern mit Gesetzen gemacht. Dazu bedarf es keines systematischen Plans, denn es ist der Macht immanent, dass sie danach drängt, sich zu stabilisieren und auszuweiten; Macht kann immer nur durch eine Gegenmacht begrenzt werden. Und daran mangelt es gegenwärtig. Denn diejenigen, die die Macht haben, können sich auch den Geist kaufen, der benötigt wird, um Manipulationstechniken zu entwickeln, mit denen sich auf der Klaviatur unseres Geistes spielen lässt — also Psychotechniken, durch die sich, in den Worten von Walter Lippmann, „die verwirrte Herde auf Kurs halten“ lässt.
So wurden in vielen Jahrzehnten mit gewaltigen finanziellen Mitteln und unter massiver Beteiligung von Sozialwissenschaften und Psychologie Techniken der Soft-Power-Bevölkerungskontrolle entwickelt, also Techniken der Indoktrination, des Empörungsmanagements, der Dissenskontrolle, der Spaltung sozialer Bewegungen, der Erzeugung von Apathie und moralischer Gleichgültigkeit, der sozialen Narkotisierung durch Konsumismus und eine mediale Überflutung mit Nichtigkeiten, et cetera, et cetera — ein riesiges Arsenal des Demokratiemanagements im immerwährenden Kampf der wenigen Besitzenden gegen die Masse der Nichtbesitzenden. Diese Techniken sind mittlerweile nahezu zur Perfektion getrieben worden, und wir alle sind, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, mehr oder weniger von ihnen geprägt.
In einem Beitrag für das Buch „Die Öko-Katastrophe“ sagen Sie, dass die „Herrschenden grundsätzlich versuchen, alle an die Wurzeln ihrer Machtverhältnisse gehenden Lösungen zu verhindern“, weshalb sie darauf abzielen, soziale Bewegungen, die sich möglicherweise zu einer kritischen Masse formen und somit politisch wirksam werden könnten, präventiv zu spalten und zu neutralisieren.“ Im Fall der Klimabewegung bestünde für die Eliten die Gefahr, dass sich die Bewegung mit der Wurzel des Übels beschäftigen und das System infrage stellen könnte. Aber die Klimabewegung hat sich doch nicht gegen Kriegsgeschrei und Aufrüstung, gegen Konsum- und Wachstumswahn, also gegen das herrschende, zerstörerische System gewandt. Die Ursachen interessieren nicht, wieso dann dieser Hype?
Auch die Empörung, die Sie angesprochen haben, ist längst Gegenstand eines systematischen Empörungsmanagements geworden. Die Denkfabriken der Mächtigen, also Think Tanks und entsprechende Bereiche der Universitäten, haben klar erkannt, dass politische Empörungsreaktionen der Bevölkerung durchaus wünschenswert sind, weil sie wie ein Blitzableiter dazu beitragen, dass sich affektive politische Veränderungsenergien auf Ablenkthemen richten oder sich in einem gedanklichen Niemandsland affektiv verzehren und damit verpuffen. Dies gelingt jedoch im Sinne der Mächtigen nur, wenn sich gewährleisten lässt, dass eine politische Empörung begriffslos bleibt — wenn also die Möglichkeiten eines Verstehens der Auslösebedingungen und damit einer gedanklichen Einbettung und Stabilisierung der Empörung fehlen.
Das sehr einfache Rezept dazu ist die Erzeugung eines gesellschaftlichen Gedächtnisverlustes. Man muss nur dafür sorgen, dass diejenigen, die ein besonders großes Bedürfnis nach politischen Veränderungen aufweisen, gedanklich konsequent von allen emanzipatorischen Traditionen entwurzelt werden. Wenn ihnen dann dadurch das in langen emanzipatorischen Bemühungen mühsam gewonnene gedankliche Instrumentarium nicht mehr zur Verfügung steht, bleiben sie in ihrer begriffslosen Empörung orientierungslos gefangen. Hinzu kommt, dass eine begriffslose Empörung ihre Träger besonders anfällig dafür macht, eigene starke Empörungsaffekte durch eine Einbettung in anti-emanzipatorische Narrative zu bewältigen. Diese Anfälligkeit einer begriffslosen Empörung erleichtert es wiederum den Mächtigen, die Empörten — und politischen Dissens allgemein — mit dem üblichen Diffamierungsvokabular aus dem öffentlichen Debattenraum zu verbannen.
Die radikale Entwurzelung von emanzipatorischen Traditionen, wie sie mittlerweile im Zuge der neoliberalen Indoktrination in zuvor nicht gekannter Weise erreicht wurde, sorgt also dafür, dass politische Empörung begriffslos bleibt.
Dies blockiert die Möglichkeit, emanzipatorischem Denken — auf individueller wie auf kollektiver Ebene — Stabilität und Nachhaltigkeit zu verleihen. So ist dann sichergestellt, dass Empörungen flüchtig bleiben und je nach aktuellem Empörungsanlass von x zu y irrlichtern. Es ist also aus Sicht der Herrschenden durchaus erwünscht, wenn immer neue Empörungssäue durchs digitale Dorf gejagt werden, die genauso schnell wieder vergessen sind, wie sie durch Trigger erregt werden können.
Die entwickelten Techniken eines Empörungsmanagements können dabei nicht nur auf einer radikalen Entwurzlung von emanzipatorischen Traditionen aufsetzen, sondern auch auf charakteristischen psychischen Verformungen, wie sie besonders durch die neoliberale Formung des Selbst erreicht wurden: nämlich Konsumismus sowie einen extrem individualistischen und von gesellschaftlichen Beziehungen abgelösten Freiheitsbegriff. So lässt sich mühelos eine Art Empörungskonsumismus erzeugen, der zu seiner Befriedigung Empörungsanlässe benötigt, die sich ohne tiefere Reflexion konsumieren lassen.
Ziel all dieser Techniken eines Empörungsmanagements ist es, sicherzustellen, dass politische Empörungsreaktionen nicht zu einer stabilen Re-Politisierung führen, sondern langfristig durch eine Empörungserschöpfung eine weitere Entpolitisierung erzeugen — also die Stabilität der herrschenden Machtverhältnisse nicht gefährden. Wenn wir kritisch auf die politischen Empörungsbewegungen der letzten Jahrzehnte zurückblicken — und, nicht minder wichtig, auch auf die ausgebliebenen Empörungsbewegungen, beispielsweise über extremste Freiheitseinschränkungen, die unsere Lebensweise in aller Welt anderen auferlegt —, so muss man wohl feststellen, dass die Techniken eines Empörungsmanagements in bedrückender Weise erfolgreich sind.
Nur ein Beispiel: Die meisten haben sich mit einer Fülle gravierender Freiheitseinschränken längst konsumistisch versöhnt — etwa den extremen Verletzungen elementarer Freiheitsrechte, die Edward Snowden aufgedeckt hat — und sind bereit, ihre privatesten Freiheiten an Facebook, Instagram, Google, Apple oder Amazon abzutreten und jeden Zustimmungs-Botton anzuklicken, wenn es dafür nur Unterhaltung und konsumistische Befriedigung gibt. Die Mächtigen haben es längst geschafft, dass wir — in den Worten von Aldous Huxley — unsere Unterwerfung zu lieben gelernt haben.
Es geht also beim Empörungsmanagement gerade darum, den vorrangig auf Status-quo-Wahrung bedachten Teil der Bevölkerung in politischer Apathie zu halten und zugleich denjenigen Teil der Bevölkerung, der ein hohes politisches Veränderungsbedürfnis hat, in einer begriffslosen Empörung zu halten, die dann entweder zu einem Empörungskonsumismus führt oder in einer Empörungserschöpfung versandet.
Da eine begriffslose Empörung sich nicht gedanklich stabilisieren kann, kann sie niemals an die wirklichen Wurzeln der Missstände gehen, weil sie immer in einer radikalen Subjektivität gefangen bleibt und kognitiv und moralisch blind ist für abstraktere und überpersönliche Missstände.
Ohne eine gedankliche politische Einbettung bleibt eine solche Empörung wesenhaft apolitisch. Sie bleibt blind für Kindersklaverei bei der Schürfung von Coltan, ohne das wir keine Smartphones hätten. Eine begriffslose Empörung bleibt blind für eine Politik, die durch Kriege, terroristische Akte, Waffenexporte, Sanktionen und durch die globalisierte neoliberale Wirtschaftsordnung ohne mit der Wimper zu zucken Abermillionen Tote in aller Welt verursacht. — Es sind freilich die Toten der „Anderen“ und die Freiheitseinschränkungen der „Anderen“. — Eine begriffslose Empörung bleibt blind für die mehr als 40 Millionen Menschen, die gegenwärtig Opfer moderner Formen der Sklaverei sind — etwa in Textilfabriken in Südostasien, auf Baumwoll- oder Kakaoplantagen, 300.000 Kinder allein auf Kakaofarmen der Elfenbeinküste —, und sie bleibt blind für die Einsicht, dass deren Lage und die unsere irgendwie zusammenhängen.
Fehlt den Menschen ein scharfes Bewusstsein vom Unrecht der Herrschenden oder wie werden die Massen manipuliert, steckt Struktur dahinter und worauf sollte man grundsätzlich sowie in Corona-Zeiten achten?
Menschen haben als Teil der Beschaffenheit unseres Geistes ein natürliches Unrechtsbewusstsein, das jedoch vielfältig kulturell überformt wird. Daher muss man annehmen, dass die meisten sich des Unrechts der Herrschenden sehr wohl bewusst sind. Doch wird unser Handeln nur zu einem recht kleinen Teil durch unsere moralischen Kapazitäten bestimmt. Auch sind unsere moralischen Kapazitäten von Natur aus so beschaffen, dass sie mit wachsender sozialer Distanz an Gewicht verlieren und zudem nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle spielen, wenn es um moralische Bewertungen unseres eigenen Handelns oder Nicht-Handelns geht.
In unserer Psyche gibt es sehr viel wirksamere Kräfte, die unser Handeln mitbestimmen. Beispielsweise unsere natürliche Neigung, unseren eigenen Lebensstandard zu bewahren und zu rechtfertigen, also unsere Status-quo-Neigung. Oder unsere Tendenz zu einer Selbstwertstabilisierung, die uns zum Beispiel Diskrepanzen zwischen unseren deklarierten Werten und unserem Handeln nicht erkennen lässt. Oder unsere Neigung, Konflikte mit den als mächtig Angesehenen möglichst zu vermeiden. All diese natürlichen Neigungen sind in ihren Bedingungsvariablen in der Psychologie gut erforscht und lassen sich gezielt für Manipulationen nutzen.
Das gilt auch für unsere natürliche Neigung, für komplexe gesellschaftliche Phänomene eine Ursachenzuschreibung in konkret sinnlich erfassbaren Kategorien oder auf der Basis von Personalisierungen zu machen. Wir haben also eine natürliche Neigung zu einem „Konkretismus“ und zu Personalisierungen. Diese Neigungen lassen sich sehr wirksam manipulativ nutzen, um die Aufmerksamkeit auf Ablenkziele zu richten, wie dies sehr erfolgreich in der Finanzkrise von 2008 mit dem Thema „Gier der Banker“ bewerkstelligt wurde. Ablenkthemen, die in der Corona-Krise aus Sicht der Herrschenden gut geeignet sind, emanzipatorische Bewegungen zu spalten und Veränderungsenergien zu neutralisieren, sind beispielsweise technische virologische und statistische Probleme oder Fragen nach der Rolle von Bill Gates, so berechtigt diese Themen als solche in der Sache auch sein können. Auch hier sollten wir uns also wieder vor Blickverengungen durch Konkretismus und Personalisierung hüten und stattdessen strukturell denken, denn Manipulation gehört wesenhaft als Stabilisierungsinstrument zur Organisationsform von Macht.
In dem Maße, in dem Macht nicht mehr durch zivilisatorische Schutzbalken, sprich: demokratische Kontrolle, eingehegt ist und durch eine Gegenmacht begrenzt wird, sind auch die mit ihr verbundenen Manipulationsinstrumente nahezu unbegrenzt. Denn ökonomische Macht kann sich beliebig Manipulationsmacht kaufen. Nicht nur in Form von Think Tanks und Medien. Sie kann sich durch vielfältige Möglichkeiten eines Offerierens von Vorteilen die Unterstützung wichtiger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Elitengruppen sichern. Und dabei darauf vertrauen, dass es unter jeder Herrschaftsform stets genügend Intellektuelle, Wissenschaftler und Journalisten gibt, die bereit sind, sich wie Eisenspäne in den jeweiligen Kraftfeldern der Macht auszurichten.
Es geht also darum, die Formen der Macht und die Art ihrer Stabilisierungstechniken gedanklich zu erfassen und zu verstehen und auf dieser Grundlage eine geeignete Gegenmacht aufzubauen — das ist seit der Aufklärung Aufgabe und Ziel emanzipatorischer Bewegungen, und hierzu gibt es einen riesigen Schatz an Einsichten und Erfahrungen. Wir müssen ihn nur nutzen.
Wir erleben einen — wie Sie sagen — massiven, radikalen Abbau an historisch mühsam gewonnener demokratischer Substanz. Der globalisierte Kapitalismus hätte sich einer demokratischen Kontrolle entzogen und sich auf Ewigkeit verrechtlicht. Verstehe ich richtig, dass „der Staat“ — im Verbund mit anderen Staaten — den Kapitalismus schützt und sich das Recht nimmt, jene zu bestrafen und zu töten, die dagegen aufbegehren, egal ob Individuum, Gruppe oder „Feindstaat“? Kann man dann überhaupt noch ernsthaft von „Demokratie“ sprechen oder wie muss man die Veranstaltung nennen?
Der sich in der Zeit der Aufklärung herausbildende bürgerlich-kapitalistische Staat hat nie primär dem Allgemeinwohl gedient, sondern stellt eine institutionelle Verdichtung sehr komplexer kapitalistischer Sozial- und Klassenbeziehungen dar, wie sie für die kapitalistische Produktionsweise unverzichtbar sind. Es wäre also ein Kategorienfehler, den Staat als einen moralischen Akteur anzusehen. Vorrangiges Ziel des Staates ist es, die Stabilität gegenwärtiger Machtverhältnisse zu sichern. Dem steht jedoch die zivilisatorische Leitidee von Demokratie diametral entgegen. Denn dabei geht es ja gerade darum, zivilisatorische Schutzbalken gegen das Recht des Stärkeren — also gegen die Barbarei — zu entwickeln, durch die sich eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft gewährleisten lässt.
Da Kapitalismus gerade bedeutet, das Recht des ökonomisch Stärkeren durch ein Eigentums- und Vertragsrecht rechtlich zu kodifizieren, und da kapitalistische Strukturen ihrem Wesen nach autoritär organisiert sind, sind Kapitalismus und Demokratie in grundlegender Weise miteinander unverträglich.
Auch dies wurde ja immer wieder von Politikwissenschaftlern, Sozialhistorikern und namhaften Intellektuellen, wie Noam Chomsky, akribisch aufgezeigt. Seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts geht und ging es also vorrangig darum, diesen Widerspruch durch Entwicklung geeigneter Indoktrinationstechniken zu verdecken und für die Öffentlichkeit unsichtbar werden zu lassen. Offensichtlich sehr erfolgreich, da viele immer noch davon überzeugt sind, dass die Idee einer kapitalistischen Elitendemokratie — das gegenwärtige Standardmodell westlicher „Demokratien“ — irgendetwas mit der in der Aufklärung gewonnenen Leitidee von Demokratie als eine souveräne Selbstgesetzgebung des Volkes zu tun hat.
Da wir durch die Beschaffenheit unseres Geistes zu einem Wortaberglauben neigen, also zu der Überzeugung, dass Wörter auch diejenigen Sachverhalte in der Realität widerspiegeln, die wir assoziativ mit ihnen verbinden, haben die Machteliten es für nützlich erachtet, zum Zwecke einer Revolutionsprophylaxe den Demokratiebegriff beizubehalten, seine Bedeutung jedoch so zu verschieben, dass er heute geradezu sein eigenes Gegenteil bezeichnet, nämlich eine Eliten-Wahloligarchie.
Von oben ausgerufene oder verordnete Kämpfe, ob gegen sogenannte Fake News, Populismus oder gegen den Klimawandel würden nicht dem Gemeinwohl, sondern den Interessen der ökonomischen und politisch Mächtigen dienen? Wie das? Können Sie das an Beispielen belegen?
Alle von oben, also von den Zentren der Macht verordneten Kämpfe dienen grundsätzlich nicht dem Gemeinwohl, weil Zentren der Macht ihrem Wesen nach keine moralischen Akteure sind und stets nur das Ziel einer Stabilisierung und Ausweitung von Macht verfolgen. Die Idee eines Gemeinwohls ist ihnen wesenhaft fremd. Sie sehen sie sogar als gefährlich an, weil sie ihre Macht destabilisieren könnte. Dennoch nutzen sie natürlich diese Idee rhetorisch, weil sie — ähnlich wie das Wort Demokratie — besonders wirksam zur Manipulation der Bevölkerung ist. Im Kontext von Machtbeziehungen gehören also all diese Begriffe zum Bereich der Indoktrination und Ideologie, weil sie die tatsächlichen Machtverhältnisse gerade verschleiern sollen.
Indirekt können natürlich tatsächliche Fragen eines Gemeinwohls oder der Gesundheit der Bevölkerung in die Überlegungen zur Machtstabilisierung der Herrschenden eingehen, weil sie für kapitalistische Produktionsprozesse wichtig sein können und weil sich ihre öffentliche Wahrnehmung auf das Wahlverhalten auswirken kann. In diesem Sinne können Staaten auf indirekte Weise auch zu moralischen Akteuren werden, nämlich in dem Maße, wie sich natürliche moralische Kategorien von der Basis der Gesellschaft über demokratische Mechanismen nach oben wirksam machen lassen.
Der gesamte öffentlich politische Diskurs illustriert diese Mechanismen. Nur noch eine kleine Bemerkung zu Fake News, weil dieser Ausdruck gegenwärtig eine so prominente Rolle im Dissensmanagement spielt. Die Erzeugung von tatsächlichen Fake News gehört seit je zum Kern des propagandistischen Werkzeugkastens einer Machtsicherung. Das gilt im besonderen Maße für kapitalistische Demokratien, da die demokratische Maske ohne Propaganda — und damit ohne Verwendung von Fake News — nicht aufrechtzuerhalten wäre. Ohnehin müssten, wie Walter Lippmann schon Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts feststellte, „news and truth“ klar unterschieden werden.
Medien dienen grundsätzlich nicht zur Verbreitung der Wahrheit, sondern den politischen und ökonomischen Interessen derjenigen, in deren Besitz sie sind.
Zu diesen Interessen kann dann auch gehören, dass Medien sich bei Themen, die an der Peripherie von Machtinteressen liegen, um eine wahrheitsgetreue Berichterstattung bemühen, um in der Bevölkerung die Illusion ihrer Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit zu fördern.
Unter dem Aspekt von Manipulationstechniken gehört der Begriff Fake News zu den besonders wirksamen Methoden, durch die sich im Kopf ein Nebel der Verwirrung erzeugen lässt. Mit einer Fake-News-Strategie lässt sich die für jedes rationale Denken wichtige Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ so zersetzen, dass intellektuelle Bemühungen, herauszufinden, welche Behauptungen über die gesellschaftliche Welt eigentlich wahr sind, schlicht irrelevant werden. Es geht dann nicht mehr um Wahrheit, sondern nur noch darum, wer die Macht hat, seinen eigenen Standpunkt zur Wahrheit zu erklären und alles andere als Fake News zu ächten und aus dem Debattenraum auszugrenzen. Wenn nämlich etwas durch die Mächtigen als Fake News etikettiert ist, soll niemand mehr wagen, überhaupt auf die Idee zu kommen, eine Behauptung auf ihre Wahrheit oder Falschheit zu überprüfen.
Propagandakonzepte wie Fake News haben also die Funktion, abweichende Meinungen zu stigmatisieren und zugleich überhaupt unsere Befähigung zu einem rationalen Denken zu zersetzen.
Übrigens gilt Gleiches für den aktuell wieder besonders beliebten Ausdruck „Verschwörungstheoretiker“. In der Sache ist der Ausdruck Verschwörungstheoretiker ohne Sinn — und wer ihn im politischen Kontext verwendet, ohne Verstand. Das ist in diesem Bereich freilich kein Manko, denn hier geht es um Macht. Wie wirksam sich der Ausdruck Verschwörungstheoretiker zum Schutz von Machtverhältnissen verwenden lässt, kann man tagtäglich in politischen Auseinandersetzungen beobachten. Dankenswerterweise offenbaren Medien allein dadurch, dass sie diesen Ausdruck in einem solchen Ausgrenzungssinne verwenden, wie hemmungslos sie sich in den Dienst der Stabilisierung herrschender Machtverhältnisse stellen.
Kapitalismus und Demokratie lassen sich also nicht miteinander vereinbaren. Sie machen zunehmend autoritäre Strukturen aus und fordern, an die Wurzeln der Machtverhältnisse zu gehen. Aber wie „legal“? Und dient die Idee der Ein- und Unterteilung von Menschen in Staaten, Klassen oder Religionen nicht nur der Herrschaft kleiner Gruppen? Haben wir es nicht mit einem grundsätzlichen Problem von (Fremd-)Herrschaft zu tun?
Fremdherrschaft, das heißt, dem Willen eines anderen unterworfen zu sein, ist in der Tat das Urproblem gesellschaftlicher Organisation. Die gesamte Zivilisationsgeschichte dreht sich darum, Schutzbalken gegen die mit einer Fremdherrschaft verbundenen Exzesse der Macht zu entwickeln. Die dabei kollektiv gewonnenen Einsichten in die tieferen Ursachen der gigantischen Blutspuren, die der Mensch in der Geschichte immer wieder angerichtet hat, zeigen, dass diesen stets die ideologische Annahme zugrunde liegt, dass es Menschengruppen gäbe, die von Natur aus zum Herrschen geboren seien und andere Gruppen, die aufgrund einer natürlichen Minderwertigkeit zum Dienen geboren seien. Diese Grundideologie des Herrschens durchzieht von der Antike bis zu modernen Formen des Rassismus die abendländische Geschichte. Sie lässt sich nur überwinden, wenn wir bereit sind, alle Menschen als frei und gleich anzuerkennen, ungeachtet ihrer tatsächlichen Differenzen. Dies genau ist die Grundlage einer egalitären Demokratie, aus der sich dann alles Weitere entwickeln lässt.
Im Verlauf der Geschichte sind nun immer wieder neue Formen von Herrschaft entstanden. Beispielsweise durch die Entwicklung des Eigentumsrechts. Ein Kern des klassischen Liberalismus liegt in seiner „Sakralisierung des Eigentums“, durch die der Liberalismus das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden zu einem absoluten Recht gemacht hat. Dadurch wurden diese Formen des Privateigentums jeder demokratischen Willensbildung entzogen. Auf dieser Basis sind neue Formen von Fremdherrschaft entstanden, die sich dann im Kapitalismus und dem damit verbundenen Konzept einer „liberalen Demokratie“ voll entfalten konnten. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten. Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. Das ist eine der mächtigsten Formen von Fremdherrschaft, denn die Überlebensgrundlage der Nichtbesitzenden hängt vom erfolgreichen Verkauf der eigenen Arbeitskraft an die Besitzenden ab.
Um kapitalistische Ausbeutung zu rechtfertigen, ist der Kapitalismus auf die von Ihnen genannte Idee der Ein- und Unterteilung von Menschen angewiesen. Daher ist die permanente Erzeugung von Rassismus historisch tief in unserer Gesellschaft verankert. Die mit jeder Form von Rassismus einhergehende Zuschreibung unveränderlicher Eigenschaften zu Gruppen dient gerade der Verfestigung und Stabilisierung von Ausbeutungsverhältnissen. Insbesondere kann, wie vor allem Immanuel Wallerstein aufgezeigt hat, der globalisierte Kapitalismus nur rassistisch sein, weil er extreme Ungleichheit rechtfertigen muss. Innerhalb des Kapitalismus ist also eine Befreiung von Fremdherrschaft nicht möglich. Und natürlich auch nicht in einer kapitalistischen Elitendemokratie, dem gegenwärtigen Standardmodell westlicher Demokratien, die — in den Worten Mikhail Bakunins — nichts anderes bedeutet als „die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer“.
Für Horst Stowasser ist „unsere Demokratie“ nicht das, was sie sein sollte oder vorgibt zu sein, da das Volk nicht herrscht, sondern bestenfalls wählen kann, von wem es beherrscht werden soll. „Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.“ Wirkliche Demokratie wäre, wenn das Volk, also alle Menschen, in gleichem Maße entscheiden könnten. In dieser, der herrschenden Demokratie würde sich aber nur eine (Mehrheits-)Meinung — mehrfach gefiltert und in einem manipulierten Rahmen zustande gekommen — durchsetzen und viele andere unterdrücken. Der Unterschied zwischen Diktatur und dieser staatlichen Demokratie würde deshalb genau besehen darin bestehen, dass in ersterer eine Minderheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Minderheiten unterdrückt. Beides sei eine Herrschaft einiger über viele, also streng genommen eine Oligarchie und keine Demokratie. Da „Menschen aber verschiedene Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen Hut bringen lassen“, sei Demokratie entweder nur in kleinen Gruppen oder gar nicht möglich. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Föderation verschiedener Gesellschaften wäre aber nichts anderes als die grundlegende Struktur der Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entweder anarchisch oder unsinnig.“ Und nach Ralf Burnicki wäre es ohnehin Anarchie, „sobald Demokratie sich wirklich ernst nähme und alle gleichviel zu sagen hätten.“ Wie sehen Sie das?
Was Stowasser als „unsere Demokratie“ bezeichnet, ist natürlich tatsächlich eine Eliten-Wahloligarchie, wie Stowasser korrekt feststellt. Genau als eine solche war von Beginn an unser gegenwärtiges Standardmodell einer kapitalistischen Demokratie auch geplant — ein prominentes und einflussreiches Beispiel hierfür sind die Arbeiten von Joseph Schumpeter. Es ist jedoch ein verbreitetes und beliebtes Missverständnis, dass eine „wirkliche Demokratie“ eine Diktatur der Mehrheit wäre und zudem nur in kleinen Gruppen möglich sei. Dieses Missverständnis ist historisch nicht ganz unmotiviert, weil sowohl die athenische Konzeption wie auch einige Vorstellungen von Rousseau in diese Richtung gingen. Daher war es gerade ein Anliegen moderner Demokratiekonzeptionen, die damit verbundenen Probleme zu lösen und solche Prozeduren einer Verrechtlichung von Selbstgesetzgebung zu entwickeln, durch die sich verhindern lässt, dass die jeweils unterlegene Minderheit der reinen Willkür der Mehrheit ausgeliefert ist.
Der demokratischen Leitidee einer Selbstgesetzgebung würde es grundlegend zuwider laufen, wenn sich Demokratie in einer bloßen Mehrheitsentscheidung erschöpfte. Die eigentliche Prozedur, um die Vielfalt sehr unterschiedlicher Interessen und Positionen für ein politisches Handeln miteinander in Einklang zu bringen, bezieht sich auf die Sicherstellung eines öffentlichen Debattenraums, in dem sich alle als Freie und Gleiche einbringen können. Erst wenn sich eine Handlungsentscheidung nicht über einen solchen öffentlichen Diskurs erreichen lässt, sind Abstimmungen nötigt.
Nun werden in sehr großen und damit sehr heterogenen Gesellschaften die meisten politischen Fragen kaum mehr durch einen allgemeinen Konsens zu lösen sein. Das wirft dann gravierende Probleme für die Möglichkeit einer souveränen Selbstgesetzgebung auf, also für die gewünschte Identität von Gesetzgebenden und Gesetzesadressaten, denn eine solche kann es nur auf der Basis von etwas Gemeinsamem geben. In modernen hochgradig heterogenen Gesellschaft kann aber dieses Allgemeine und Gemeinsame, auf das man sich bei einer Selbstgesetzgebung verständigen könnte, nicht mehr — wie vielleicht noch in der Zeit der Aufklärung — in konkreten spezifischen Werten und Positionen liegen.
Vielmehr wird sich eine Verständigung auf etwas Allgemeines nur noch auf die Prozeduren beziehen können, auf denen Entscheidungen über ein politisches Handeln basieren sollen. Ein solches Verfahren muss so beschaffen sein, dass es auch die allgemeine Einwilligung derjenigen finden kann, die im Einzelfall eine unterlegene Minderheit sein könnten. Es muss also so beschaffen sein, dass Mehrheitsentscheidungen dadurch eine demokratische Legitimität verliehen wird, dass abweichende Meinungen in den Prozess der Entscheidung in angemessener Weise eingegangen und soweit wie möglich berücksichtigt worden sind. Darüber hinaus muss garantiert sein, dass diese Entscheidungen fortlaufend an den gesellschaftlichen Erfahrungen geprüft und jederzeit durch die gesellschaftliche Basis korrigiert werden können. Nur durch eine im Wege einer Selbstgesetzgebung gewonnene Verrechtlichung demokratischer Prozeduren lässt sich in großen sehr heterogenen Gesellschaften eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft erreichen.
Natürlich ergeben sich bei der Konkretisierung einer solchen Idee für die gesellschaftliche Praxis — wie immer — eine Fülle sehr schwieriger Fragen, wie sie seit der Aufklärung die politische Philosophie durchziehen. Die große Demokratietheoretikerin Ingeborg Maus hat diese Fragen in außergewöhnlicher Tiefe, Kohärenz und Klarheit behandelt und damit der Leitidee von Demokratie, als einem zivilisatorischen Schutzbalken gegen illegitime Macht, ein neues Fundament gegeben.
„Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht“, lautete eine Losung 1968 in Paris. Benötigen wir eine neue Utopie und wie könnte diese aussehen? Wäre eine parteilose Rätedemokratie erstrebenswert, da Räte direkt verantwortlich und an Weisungen ihrer Wähler gebunden sind und jederzeit abberufen werden können? Wahlvorgänge würden von unten nach oben geschehen. Könnte so eine funktionierende Synthese zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung entstehen, um unsere Probleme zu lösen und wären etwa mitarbeitergeführte, also vergesellschaftete Konzerne wie Mondragón hilfreich dabei?
Das Kernthema der politischen Philosophie seit der Aufklärung ist ja, individuelle Freiheitsbedürfnisse und Gemeinschaftsinteressen miteinander in Einklang zu bringen. Zu der Frage, wie dies konkret gelingen kann, sind in der langen Tradition emanzipatorischer Bewegungen eine Fülle von Einsichten gewonnen worden und auch eine Vielfalt konkreter Erfahrungen. Die Mondragón-Genossenschaft ist ein großartiges Lehrbeispiel einer aus der gesellschaftlichen Basis kommenden und strikt an sie angebundenen genossenschaftlichen Organisation. Sie hat es sogar geschafft, mit einer solchen Struktur zu einem Großkonzern zu werden. Nun sind leider, wie vielfach aufgezeigt wurde, auch konsequent von unten organisierte gesellschaftliche Strukturen stets davon bedroht, im Zuge ihrer unvermeidlichen Bürokratisierung wieder neue Formen einer Elitenbildung hervorzubringen, wodurch dann zunehmend die konsequente Anbindung an die Basis verloren zu gehen droht.
Derartige Tendenzen zeigen sich verstärkt auch in der Mondragón-Genossenschaft, die nun einmal — als eine im ökonomischen Bereich gleichsam singuläre Struktur — an allen Außenschnittstellen in kapitalistische Machtverhältnisse eingebunden ist. Trotz all dieser Probleme stellen diese und die weltweit vielen anderen aktuellen Beispiele von Formen einer wirtschaftlichen Basisorganisation unverzichtbare Einsichten und Erfahrungen für emanzipatorische Bewegungen bereit. Das gilt auch für die vielen geschichtlichen Beispiele konkreter Realisierungen von radikal an die gesellschaftliche Basis angebundenen Organisationsformen. Insbesondere in der Tradition der Arbeiterräte wurden vielfältige und wichtige Ideen hierzu entwickelt, so durch Anton Pannekoek, Herman Gorter, Max Adler, Karl Korsch und zahlreiche andere. Anton Pannekoek hat — für die damaligen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse — die am detailliertesten ausgearbeiteten Analysen und Modelle einer Räteorganisation vorgelegt.
Zu den zentralen Einsichten in das Verhältnis von individuellen Freiheitsbedürfnissen und den Interessen einer Gemeinschaft gehört natürlich auch, dass individuelle Freiheitsrechte stets in einem Beziehungsverhältnis zu demokratisch bestimmten Interessen derjenigen Gemeinschaft stehen, der ein Individuum angehört. Wie in einer konkreten historischen Situation dieses Beziehungsverhältnis zu gestalten ist, ist stets auf demokratischem Wege von der gesellschaftlichen Basis neu auszuhandeln.
Autoritäre oder expertokratische Festlegung für dieses Beziehungsverhältnis, wie dies gegenwärtig in der Corona-Krise massiv der Fall ist, sind mit jeder Form von Demokratie fundamental unverträglich, auch mit der im Grundgesetz festgelegten.
Jedoch sind gleichermaßen auch Vorstellungen absoluter, also von allen gesellschaftlichen Beschränkungen befreiter Freiheitsrechte von Individuen mit der Idee von Demokratie grundlegend unverträglich.
Hier stoßen wir — gegenwärtig noch mehr als sonst — auf ein sehr folgenschweres Problem, das sich aus der weit verbreiteten Vorstellung gleichsam absoluter individueller Freiheitsrechte ergibt. Schon dem klassischen Liberalismus lag ein hochgradig individualistischer und damit entpolitisierter Freiheitsbegriff zugrunde. Die neoliberale Ideologie hat diesen Freiheitsbegriff noch einmal ins Extrem gesteigert. Dem entpolitisierten Freiheitsbegriff des klassischen Liberalismus zufolge besteht Freiheit gerade in den staatlichen Rechtsgarantien, die eine — wie es bei einem der Begründer des Liberalismus hieß — „Sicherheit im privaten Genuss” gewährleisten. Dieser heute tief in den Köpfen verankerte Freiheitsbegriff könnte vielleicht zu einem Teil die Heftigkeit der öffentlichen Reaktion erklären, mit der in der Corona-Krise nun die eigene, individuelle Freiheit gegen Einschränkungen verteidigt wird. Im Netz brachte jemand seine Ablehnung der Maskenpflicht mit der erhellenden Bemerkung zum Ausdruck, dass er sich durch die Maskenpflicht in seiner Würde verletzt fühle und endlich wieder in Würde Shopping gehen möchte.
Dieser stillschweigend zugrunde gelegte tief neoliberal geprägte Freiheitsbegriff könnte auch erklären, dass die für die jeweils eigene Situation weniger konsum- und genussrelevanten massiven Einschränken von Freiheitsrechten, wie sie in den vergangenen Jahrzehnte erfolgt sind, keine vergleichbare Empörungswelle auslösten — sei es gegen die exekutivischen Selbstermächtigungen durch Sicherheits- und Überwachungsgesetze, sei es bei der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, sei es im Fall von Hartz IV oder dem wachsenden Sektor prekärer Arbeitsverhältnisse, alles übrigens mit massiven und klar erkennbaren körperlichen wie psychischen Kollateralschäden. Durch den mittlerweile tief in den Köpfen — auch im sich kritisch fühlenden Milieu — verankerten extrem individualistischen Freiheitsbegriff wird also das Problem einer „Synthese zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung“ noch schwerer zu bewältigen sein, als es ohnehin immer schon war — keine besonders optimistisch stimmende Ausgangslage für eine Entstehung stabiler und politisch kraftvoller emanzipatorischer Bewegungen.
Und wie realistisch ist es überhaupt, dem Dilemma gigantischer sozialer Ungleichheit, neuer Kriege und Monopole, den Problemen des Klimawandels oder dem Erstarken totalitärer Strukturen bei einem weiteren Verlust von Grundrechten zu entkommen?
Diejenigen, die die Macht innehaben, haben zu allen Zeiten versucht, auch Macht über unser Denken und unsere Imagination auszuüben, indem sie definieren, welche politischen Veränderungswünsche „realistisch“ seien und welche utopisch. Realistisch seien demnach höchsten kleine Reförmchen an der Peripherie der Machtverhältnisse, grundlegendere Änderungen wurden und werden stets als utopisch diffamiert. Viele haben eine solche Auffassung nach jahrzehntelanger Indoktrination tief verinnerlicht, sodass es nicht leicht sein wird, sich davon zu befreien. Ein Slogan der 68er-Bewegungung lautete ja: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.“ Diese paradoxe Formulierung will uns auffordern, uns endlich von den Fesseln dessen zu befreien, was die Mächtigen als „realistisch“ definieren, nämlich alles, was kompatibel mit ihren Machtinteressen ist, sodass wir wieder ein gedankliches und affektives Potenzial für gesellschaftliche Utopien freisetzen können, also Vorstellungen darüber, was eine menschenwürdige Gesellschaft ausmacht und in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen.
Ob die Corona-Krise hier vielleicht einen emanzipatorischen Schub auslösen könnte, erscheint mir jedoch höchst zweifelhaft.
Vermutlich werden nach der Corona-Krise, bei der sich ja mehrere Krisen sehr unterschiedlicher Art verbinden, die soziale Ungleichheit und die Umverteilung von unten nach oben und von Süd nach Nord noch einmal sehr viel größer werden, auch werden sich die Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse in der Wirtschaft beschleunigen.
Zu den bedrohlichsten Entwicklungen wird gehören, dass die Methoden digitaler Überwachung und der Repression einen gewaltigen Entwicklungsschub erfahren werden, denn diejenigen, die von solchen totalitären Entwicklungen profitieren, werden dieses einzigartige globale Feldexperiment für ihre Interessen zu nutzen wissen. Die gigantische Asymmetrie der Machtverhältnisse, die sich globalisiert immer abstrakter organisiert und somit einer sinnlichen Erfassung und auch jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen haben, sowie die nahezu perfektionierten Techniken eines Dissens- und Empörungsmanagements machen die Aussichten auf emanzipatorische Verbesserungen heute schlechter als je zuvor.
Auch sind breite emanzipatorische Bewegungen, die einen wirksamen politischen Impetus entfalten könnten, gegenwärtig nicht in Sicht. Und bloße Protestbewegungen sind, wie die Geschichte lehrt, häufig weitgehend apolitisch. Sie bleiben in ihrer begriffslosen Empörung flüchtig und zerfallen rasch, wenn individualistische Bedürfnisse nach einer Rückkehr zur „Normalität“ erfüllt sind. Sie haben also große Schwierigkeiten zu erkennen, dass die gegenwärtige Form eines Ausnahmezustandes schon seit Langem — wenn auch oftmals in einer weniger sinnlich-konkret erfassbaren Weise — Teil des Normalzustandes ist und dass die eigentlichen Probleme gerade in diesem Normalzustand einer Lebensform liegen, die sich längst mit massiven Freiheitseinschränkungen, mit kapitalistischer Ausbeutung oder mit der Zerstörung gesellschaftlicher und ökologischer Substanz konsumistisch versöhnt hat. Gerade diese Normalität unserer Lebensweise ist also das eigentliche Problem. Der aus individualistischen Freiheitsbedürfnissen gespeiste Wunsch, in einer „Nach-Corona-Zeit“ endlich wieder zu dieser Normalität zurückkehren zu können, mag psychologisch verstehbar sein — er ist jedoch ein zutiefst anti-emanzipatorischer Wunsch.
Es wird also vermutlich noch schlimmer werden müssen, bevor begründbare Hoffnung besteht, dass es wieder besser werden kann. Aber vielleicht ist das zu pessimistisch gedacht, denn natürlich hängt letztlich alles von unserem Wollen und von unserer Entschlossenheit ab — denn wenn wir wirklich wollten, könnten wir auch.
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