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Aus allen Rohren

Aus allen Rohren

Der Anschlag auf Nord Stream 1 und 2 zielte darauf ab, die EU existenzbedrohend zu schwächen.

Es waren Anschläge ungeheuren Ausmaßes, die die beiden für die Gasversorgung Deutschlands gebauten Röhren zerfetzten. Messstationen in Schweden und Dänemark verzeichneten kräftige unterirdische Detonationen. Um sich vorstellen zu können, welche Wucht für die Zerstörung nötig war, hier ein paar technische Daten: Ein einzelnes Metallrohr der 1.200 Kilometer langen Stränge wiegt 50 Tonnen, ist mit Beton und Bitumen verkleidet und liegt an der Anschlagstelle in 40 Meter Tiefe auf dem Meeresboden.

„Die Zerstörung, die innerhalb eines Tages an drei Röhren des Nord-Stream-Pipelinesystems erfolgte, ist etwas noch nie Dagewesenes. Derzeit ist es unmöglich, den Zeitraum für Reparaturarbeiten an der Gasleitungsstruktur anzugeben“, äußerte sich ein Sprecher des Betreiberunternehmens von Nord Stream 1. Eine Wiederherstellung unter den Bedingungen des herrschenden EU-Sanktionsregimes gegen Russland ist schier undenkbar, fehlen doch sowohl die dafür nötigen personellen als auch finanziellen Ressourcen und Bedingungen.

Zu den Hintergründen des Anschlages waren bereits unmittelbar danach skurrile Wortspenden aus dem EU-Raum zu vernehmen, die sich an Irrationalität geradezu überboten. Demgegenüber: Schweigen in den USA und Alarmstimmung in Russland. Dort hatte bereits vier Tage vor der Sabotage in der Ostsee der Inlandsgeheimdienst FSB einen Anschlag auf Turkstream verhindert, eine Pipeline, die vom südrussischen Anapa über das Schwarze Meer die Türkei, Serbien und Ungarn mit Erdgas versorgt.

Den ersten Vogel schoss der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ab, der hinter dem Anschlag in der Ostsee sogleich eine russische Sonderoperation ausmachte.

Was Moskau dazu veranlassen sollte, seine eigene Pipeline, die ihm eine gewisse Verhandlungsmacht gegenüber der Europäischen Union und insbesondere Deutschland beließ, zu sprengen, darüber kamen die seltsamsten Theorien zum Vorschein.

Im Wochenblatt Spiegel wird EU-Außenbeauftragter Josep Borrell zitiert, der „robuste und gemeinsame Reaktionen“ Brüssels auf die „vorsätzliche Handlung“ ankündigt und damit, ohne es zu sagen, weitere Sanktionen gegen Russland fordert. Auch der Berliner Tagesspiegel mutmaßt eine „False-Flag-Operation“ Moskaus, die angeblich zum Ziel hätte, „Verunsicherung zu schüren“ und „den Gaspreis noch mehr in die Höhe zu treiben“.

Die Logik dahinter erschließt sich freilich nicht, denn der höhere Gaspreis kann ja nun mangels funktionierender Pipeline für Moskau nicht mehr realisiert werden. Ähnlich grenzwertig argumentiert Springers Welt. Auch sie hat den Täter in Moskau ausgemacht, weil dieser damit verhindern will, dass Deutschland die Restmenge an Gas, die in den Leitungen vorhanden ist, abzapfen kann.

Schon das Einmaleins eines Volksschülers hätte ausgereicht, diese Theorie ins Eck einer Verschwörung zu stellen; denn die Gasmenge, die zwecks Aufrechterhaltung des Drucks in den Leitungen lagert, beträgt nur einen geringen Bruchteil dessen, was Tag für Tag ohne Leck durchfließen könnte.

Staatsterror

Einig ist man sich in der Einschätzung des Urhebers darin, dass es sich dabei nur um einen staatlichen Akteur — und damit staatlichen Terrorakt — handeln kann. Denn für die Aktion der Sprengung in 40 Meter Tiefe benötigt man ein U-Boot und Kampftaucher, die entsprechendes militärisches Know-how mit sich bringen. Nur wenige Staaten auf der Welt besitzen beides.

Russland hätte so eine Marine, allerdings fehlt — wie gerade argumentiert — das politische Motiv und das wirtschaftliche Interesse. Auch Deutschland — auf der anderen Seite der Röhre liegend — kann man aus ähnlichen Gründen getrost als Täter ausschließen. Polen wiederum, das immer wieder lautstark gegen Nord Stream verbal zu Felde zog, wäre für eine solche Aktion kaum in der Lage. Einem einzigen U-Boot aus sowjetischer Bauart fehlen dem Vernehmen nach die Kampftaucher. Kiew passt ein solcher Anschlag ins politische Konzept, technisch dazu in der Lage ist es aber nicht.

Bleibt als einzige logische Erklärung für den Anschlag eine Tat, die das Weißen Haus in Washington zu verantworten hat. Die zur Explosion gebrachten Sprengladungen besiegelten das Ende der deutsch-russischen Energiekooperation. Diese war den USA schon immer ein Dorn im Auge. Und US-Präsident Joe Biden war sogar so ehrlich, den Anschlag anzukündigen. Auf der letzten Pressekonferenz, die er zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022 in Washington abhielt, meinte er vorausschauend: „Wenn Russland die Ukraine überfällt, dann wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden sie zu einem Ende bringen“. Auf Nachfrage einer Journalistin, wie dies denn vonstattengehen soll, lächelte Biden süffisant und setzte nach: „Ich verspreche, wir werden dazu in der Lage sein.“

Dass es Monate gedauert hat, bis Biden sein Versprechen einlösen konnte, hängt vielleicht nicht nur mit den technischen Möglichkeiten zusammen, sondern auch damit, dass sich die Stimmung für eine Öffnung von Nord Stream 2 in Deutschland drehen könnte, wenn es einmal so richtig kalt wird. Dem wurde nun mit Sprengladungen vorgebeugt.

Letztlich war es ein prominenter Pole, der klar aussprach, wen er für den Staatsterror in der Ostsee verantwortlich macht. Niemand geringerer als der langjährige Verteidigungs- und Außenminister sowie Parlamentspräsident und derzeitiger EU-Abgeordneter, Radosław Sikorski, einst einer der Verhandlungsführer zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und dem rechten Maidan im Februar 2014, twitterte zwei Tage nach dem Anschlag: „Danke USA“.

Die Konsequenzen

Mit dem aller Wahrscheinlichkeit nach von den USA durchgeführtem Anschlag auf die beiden Pipelines hat das Weiße Haus den von Russland durch seinen Einmarsch in die Ukraine internationalisierten Krieg auf eine neue Eskalationsstufe gehoben. Bislang beschränkte sich die Einmischung der USA und mit ihr fast aller anderen NATO-Länder auf Waffenlieferungen sowie logistische Unterstützung für die Ukraine sowie einen immer mehr Bereiche umfassenden Wirtschaftskrieg gegen Russland. In diesem sind die Möglichkeiten so gut wie ausgeschöpft. Staatsterror gegen russische Einrichtungen wie die Gazprom-Leitungen sollen nun offensichtlich die bereits bestehenden Kampfmittel ergänzen.

Im Konkreten folgt Washington damit der altbekannten geopolitischen Weisung des vielfachen US-Präsidentenberaters Zbigniew Brzeziński, der die US-amerikanische Strategie für Eurasien vorgab. Der zufolge geht es zwecks Aufrechterhaltung der USA als Weltmacht in diesem Raum vor allem darum, eine deutsch-russische Achse um jeden Preis zu verhindern. Diesmal um den Preis der Zerstörung einer energetischen eurasischen Schlagader.

Damit ist es gelungen, neben dem auf ukrainischem Territorium stattfindenden Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland, auch einen möglichen deutschen Konkurrenten am Weltmarkt, der zuletzt, zum Beispiel beim Zerfallsprozess Jugoslawiens, auch geopolitisch immer mehr Präsenz zeigte, zurückzudrängen und klein zu halten.

Mit dem Anschlag auf Nord Stream 1 und 2 verlieren zudem die Forderungen nach Aufhebung der antirussischen Sanktionen, wie sie auch in Deutschland immer populärer werden, an Wirkungskraft.

Denn die damit implizit verbundene Hoffnung, einem Energiekrisenwinter zu entkommen, indem Russland das Gas wieder verstärkt fließen lässt, ist durch den Terrorakt — zumindest vorerst — erloschen. Dies umso mehr, als dass bis zuletzt Gaslieferungen aus Russland offiziell nicht unter EU-Sanktionen standen.

Die schiere Macht der Sprengung schwächt die Möglichkeit einer Alternative zum „Frieren für die (ukrainische) Freiheit“, spricht: Frieren für den Krieg. Desgleichen büßte auch Russland an Verhandlungsmacht ein und kann nun die Energiekarte für oder gegen den Westen nur mehr sehr beschränkt ausspielen.

Die Gewinner des Anschlags sitzen allesamt in den USA. Das sind zuerst die Frackingunternehmen, die Gas aus den Tiefen der Erde holen, um es in Flüssiggastransportern zu teuren Preisen über den Ozean zu schippern. Auch der von Washington seit mehr als einem Jahrzehnt betriebenen Herstellung eines Gasweltmarktes ist man mit der Sprengung von Nord Stream ein gutes Stück nähergekommen.

Bis vor Kurzem war Gasverkauf ausschließlich an Pipelines gebunden, was langfristige Investitionen und Kooperationen erforderlich macht. Dem steht nun die Volatilität und Unsicherheit des Weltmarktes entgegen.

Zum wirtschaftlichen Profiteur mächtiger US-Konzerne gesellt sich ein geopolitischer Sieg Washingtons. Mit den drei Sprengungen in der Ostsee traf man nicht nur Russland, sondern auch die Europäische Union, insbesondere deren führende Wirtschaftsmacht Deutschland.


Von Hannes Hofbauer ist zum Thema in 7. Auflage erschienen: „Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung“.


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