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Kicken ohne Kick

Kicken ohne Kick

Noch nie hat man so technisch versiert und athletisch ausgereift gekickt. Und noch nie war Fußball so dröge und beliebig.

Als man damit begann, das Land unter die Knute der Coronamaßnahmen zu versetzen, der Ball in den Stadien nicht mehr rollte, entschied sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen, alte Fußballspiele zu wiederholen. Unter anderem auch das Jahrhundertspiel. Das fand 1970 zwischen Deutschland und Italien bei der Weltmeisterschaft in Mexiko statt. Es endete 4:3 nach Verlängerung für die Squadra Azzurra. Das Spiel gilt nach wie vor als Inbegriff der Spannung und Fußballkunst. Betrachtet man es jedoch heute, wirkt es unglaublich statisch – fast glaubt man, Standfußballern dabei zuzusehen, wie sie Laufwege um jeden Preis vermeiden.

Mitte der Achtzigerjahre stritt sich Franz Beckenbauer im ZDF-Sportstudio mit Harry Valérien: Das Jahrhundertspiel sei rückblickend gar kein besonders gutes Spiel gewesen, sagte der damalige Teamchef dem Reporter – und auch: Heute kickten die Jungs viel besser, sie seien dynamischer und auch technisch filigraner. Führt man sich Spiele aus jener Zeit zu Gemüte, begreift man zwar, was der Kaiser meinte. Aber im Vergleich zu heute war auch das ein behäbiger Kick.

Ob man in einem halben Jahrhundert auf den heutigen Fußball zurückschauen wird und dann urteilt: „War das ein langsames Spiel, damals 2024!“ Vermutlich werden die Unterschiede nicht so groß sein wie von 1970 auf heute – denn nie spielte man so schnell, so ausgereift, so technisch versiert wie in unserer Zeit. Aber auch nie zuvor war Fußball so öde.

Die Schmieden der Langeweile

Talentierten jungen Kickern weist man seit geraumer Zeit den Weg in die Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der großen Vereine. Die entstanden sukzessive vor etwa 20 Jahren. Anfang des Jahrtausends wähnte sich der deutsche Fußball in einer tiefen Krise, man hatte den Kontakt zur Weltspitze längst verloren – bei den Europameisterschaften 2000 und 2004 schied man schnörkellos in der jeweiligen Vorrunde aus. Klar war in diesem Moment, dass man den Jugendfußball reformieren wollte, um junge Talente schneller zu entdecken. Der Bolzplatz galt in den Jahren davor noch als Empfehlung auch des DFB: Junge Sportbegeisterte sollten sich eine Wiese oder einen Parkplatz suchen und kicken – Talente würden von dort aus schon ihren Weg gehen. Mit der Etablierung der Nachwuchsleistungszentren war der Bolzplatz als Talentschmiede abgelöst.

Im Moment gibt es 58 solcher NLZ in ganz Deutschland. Alle Bundes- und Zweitligisten führen ein solches Zentrum; dazu noch 14 Dritt- und 18 Regionalligisten. Die Zentren werden vom DFB zertifiziert. Dabei werden mehrere Kriterien mit Qualitätssternen ausgezeichnet.

Früh galten die NLZ als Chance auf die Zukunft. Die jungen Männer sollten sukzessive auf den großen Fußball vorbereitet werden – und nebenher Unterricht erhalten. Straßenfußballer gibt es heute in der Bundesliga keine mehr. Jedenfalls nicht unter den deutschen Kickern. Die Zentren haben die totale Talentförderung und Nachwuchsarbeit übernommen. Im Laufe der Jahre etablierte sich eine Ausbildungskultur, die den Jugendbereich strikt nach Leistungsstandards auswertete – war es früher noch völlig normal, dass junge Kicker auf dem Platz Fehler machen, kann das mittlerweile schon dazu führen, im kommenden Jahr als ungeeignet für die Profimannschaft aussortiert zu werden. Die jungen Kicker verlieren dann nicht nur den Verein, sondern auch ihren Lebensmittelpunkt – sie müssen dann wieder zurück zu ihrer Familie ziehen, zurück irgendwo aufs Land, nachdem sie Großstadtluft geschnuppert haben.

Der Sportjournalist Ronald Reng hat fast ein Jahrzehnt lang drei Jugendliche auf ihrem Weg durch die NLZ begleitet. In seinem Buch „Der große Traum. Drei Jungs wollen in die Bundesliga“ zeigt er auf, wie diese Zentren funktionieren und was sie mit den jungen Leuten anstellen. Schon in jungen Jahren erleben sie den vollen Leistungsdruck des Profidaseins – viele zerbrechen daran. Marius Wolf war einer der drei Jungs, über die Reng schrieb. Er hat es geschafft, spielt Bundesliga, ist im erweiterten Kreis der Nationalelf. Die anderen, laut Autor begnadetere Fußballer als Wolf es anfangs war, sind gescheitert. Wobei diese Wortwahl schon einiges verrät: Denn vom Scheitern zu sprechen ist ignorant. Sie haben es nicht in die Auslese großer Vereine geschafft – wie vielen gelingt das denn?

Der Zufall wird abgeschafft

In den NLZ stellt man bereits die jungen Jahrgänge auf die taktischen Vorgaben ein, die die Profispieler anwenden und die damit der Trainer der Ersten Mannschaft vorgibt. Das heißt, von Anbeginn an werden die jungen Kicker in ein System gepresst, das nicht ihrer individuellen Jugendmannschaft zupasskommt, sondern höheren Vorgaben dient. Dabei werden die individuellen Fähigkeiten der Spieler zwar offiziell geschult, aber kreative Momente, die das System nicht hergibt, fallen dabei unten durch.

Ein Spieler wie Diego Armando Maradona wäre in einem solchen Betrieb grundsätzlich nicht denkbar gewesen. Entweder hätte er sich domestizieren lassen – oder aber er wäre recht früh als ungeeignet aussortiert worden.

Wie viele solcher Maradonas schon von den NLZ abgeschoben wurden, weiß wohl niemand so genau. Ausgeschlossen ist aber nicht, dass kreative Könner nur deshalb nicht im Bundesligabetrieb landeten, weil sie sich nicht in ein enges Korsett aus Internat und Taktikschulung einfügen wollten.

Den Nachwuchs schon in recht jungen Jahren einem taktischen Modell zuzuführen, passt in den Zeitgeist des Fußballs. Der Sport lebte nicht nur über Jahrzehnte davon, dass er extrem vom Zufall abhängig war – das Geheimnis des Aufstiegs des Fußballs liegt in diesem Zufall begründet. Denn diese Sportart setzt wenig voraus: Man braucht ein wenig Platz, einen Ball und irgendwas, was man als Tor markieren kann. Und dann reicht ein dummer Zufall und man gewinnt auch, wenn man seinem Gegner eigentlich unterlegen ist.

Oder es geschehen Dinge, die keiner auf der Agenda hatte: Man denke an England 1966 – ein solcher Vorfall wie damals in Wembley ist heute nicht mehr denkbar. Denn der Zufall wird abgeschafft – der Videobeweis nimmt dem Kick die Attraktivität. Natürlich geht es nun gerechter auf dem Platz zu. Aber die jungen Leute, die heute den Fußball erleben, werden nie zusammensitzen und sich über ein Tor streiten können, das fiel oder vielleicht doch nicht fiel.

Der Fußball wird durch die Ausmerzung des Zufalls merklich langweiliger. Die totale Kommerzialisierung, so könnte man festhalten, ist nicht erlangt, wenn man jeden Bereich monetarisiert hat – sie tritt ein, wenn das Spiel den Interessen der Geldgeber erliegt und zu einem Markt umfunktioniert wird, der etwaigen Eventualitäten zuvorkommen soll.

So wird Sport zu einem Produkt der Kalkulierbarkeit. Der Videobeweis ist ein Ansatz, das Spiel „sicherer“ für die Erwartungshaltung der Sponsoren zu machen – ein anderer ist es, junge Nachwuchsleute so auszubilden, dass sie nahtlos in die gerade vorgegebene Taktik eingepasst werden können.

Standardisierung ist der Kreativität Tod

Natürlich sind diese jungen Kicker viel besser ausgebildet, als es selbst ein Franz Beckenbauer war. Sie sind technisch mindestens so versiert wie jener Grande des deutschen Fußballs. Wenn vielleicht auch nicht ganz so elegant. Dafür glänzen sie mit einer Dynamik, von der Fußballer der Sechziger- oder Siebzigerjahre nur träumen konnten. Man schaue sich mal die körperliche Verfassung eines Gerd Müller oder eines „Bulle“ Roth an: Solche Spieler trifft man heute nicht mehr auf dem Platz – auch kein Pummelchen wie Maradona. Die heutigen Spieler sind dynamisch, sie sind Könner am Ball und lesen das Spiel mit einer Klasse, die früher lediglich erfahrenen Recken nachgesagt wurde.

Und dennoch: Ihnen fehlt die Größe und Präsenz auf dem Feld. Sie wurden zu Zahnrädern eines Uhrwerkes herangebildet, zu Teilen eines Kollektivs. Das mag Vorteile bieten und den Fußball auf einen qualitativ höheren Stand gehoben haben. Aber sehenswerter ist der Kick deswegen nicht unbedingt. Klar, das Spiel ist attraktiver. Aber vorhersehbar.

Und besondere Momente, Augenblicke, auf die man als Fan früher wartete: Sie werden zunehmend seltener. Denn was fehlt, sind die zentralen Figuren, die ein Spiel an sich reißen können und die auch neben dem Platz eigensinnig auftreten.

Fußball erlebt seit mehreren Jahren eine Standardisierung. Die Zufälligkeiten, die ihn früher ausmachten, gefährden heute die Anlagen der Investoren. Dem kamen die Entscheider der Verbände national wie international entgegen. Die NLZ waren sicherlich nicht darauf angelegt, dem Investorenfußball mehr Sicherheit zu garantieren. Die Grundidee hatte eine andere Motivation: Junge Leute gut auszubilden, um den deutschen Fußball voranzubringen. Aber die Zentren stehen unter starkem finanziellen Druck, als Stätten der Kreativität sind sie schlecht vermittelbar.

Dort lehrt man Fußball – man lebt ihn nicht. Man verwaltet den Nachwuchs. Das ist der Tod der Kreativität.

Nun haben wir die Europameisterschaft in Deutschland. Die Vorfreude im Land war verhalten. Auch das hat sich geändert. Auch die Fans verwalten ihre Stimmung. Der Fußball der Herzen ist lange tot. Als 2006 die Weltmeisterschaft nach Deutschland kam, das Land schon ein Jahr vorher in Stimmung kam, spürte man noch die Ausläufer des alten Fußballs, der noch Anteile am wilden Kick hatte – damals hatten noch nicht Trainergurus Matchpläne und die totale Taktik ausgerufen. Fußball konnte noch überraschen. Das tut er heute immer weniger. Die Jungs auf dem Platz kicken von der Stange. Sie tun das in großer Meisterschaft. Aber viele Interessierte spüren, dass es kein authentisches Spiel ist – der standardisierte Fußball ist nur noch die Simulation eines Spiels, das einst von der Welt geliebt wurde, aber so nicht mehr existiert.


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