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Die Suizidgesellschaft

Die Suizidgesellschaft

Will die Menschheit überleben, muss sie sich zu einer ökologischen Weltpolitik durchringen.

„Wenn die privatwirtschaftlichen Konzerne im Westen ihre Fusion beendet haben, werden sie sich im Schmelztiegel des gemeinsamen Weltbildes, des Materialismus, mit den Staatskonzernen des Ostens zur globalen Technokratie legieren. Unter der Diktatur eines solchen Faschismus (dessen Farbe noch proklamiert werden muss) werden keine nationalen Eigensinnigkeiten mehr den Lauf der apokalyptischen Maschine stören“ — Max Thürkauf.

Dies ist die Ära des beschleunigten Fortschritts. Vielleicht ist es die Ahnung vom angebrochenen Wassermann-Zeitalter, die uns ängstigt und in die Arme der Wissenschaft zurücktreibt. Vielleicht ist es das schlechte Gewissen gegenüber Klimakatastrophe und sterbender Natur, das uns zu technischen Höchstleistungen anspornt. Vielleicht haben wir auch ganz einfach genug von Gesellschaftskritik und apokalyptischen Visionen und möchten wieder einmal entspannen, genießen, zufrieden sein. Vielleicht wirft uns gerade das Bewusstsein vom neuen, ganzheitlichen Weltbild mit voller Kraft zurück auf die alten Gewohnheiten.

Jedenfalls suchen wir weiterhin nach dem Sinn der Technik, indem wir ihr immer mehr Macht einräumen: Wir dienen und huldigen dem Gott, auf dass er uns verschone. Aber dieser Gott kennt keine Barmherzigkeit, was wir immer grausamer zu spüren bekommen. Wenn technologisch bedingte Umweltkatastrophen uns existentiell bedrohen, erhoffen wir Hilfe von neuen Technologien. Wir beten zu einem Götzen, einer Maschine ohne Herz, und flehen um Gnade.

Die Digitalisierung verspricht ein angenehmeres Leben. Algorithmen bringen Informations- und damit Machtgewinn. Die Künstliche Intelligenz soll die Entwicklungspolitik revolutionieren und für die Energieversorgung der Zukunft sorgen. Wir sind zuversichtlich, weil wir Verstand und Logik den Gefühlen vorziehen. Wir sind skrupellos, weil wir unsere Unsicherheit verdrängen. Wir glauben, alles im Griff zu haben. Doch Wachsen und Wissen fordern einander heraus und zwingen uns in die Risikospirale des Wohlstands. Wir gehen mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit auf dem schmalen Grat zwischen Dekadenz und Katastrophe.

Am Anfang des neuen Jahrtausends stehen wir an der Schwelle zum Zeitalter der Gentechnik. Und wieder erliegen wir dem bekannten Irrtum — die neue Technologie wird zum Hoffnungsträger. Genmanipulierte Kleinstlebewesen sollen uns die Probleme vom Hals schaffen. Aber werden Nutzpflanzen, die gegen Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel resistent sind, unsere Ernährung sichern? Werden in Computern Bio-Chips, Schaltelemente aus Proteinmolekülen, arbeiten? Werden Bakterien Krankheiten wie Krebs und Demenz besiegen? Werden Mikroben Umweltschäden beheben und sich durch Plastikmüll und Ölteppiche fressen? Werden Mikroorganismen in Bergwerken Erz fördern? Die Hoffnung blendet selbst Skeptiker.

Fröhlich und unbekümmert sind vermutlich nur noch jene, die sich der Entwicklungsdynamik von Wissenschaft und Technik noch nicht oder nicht mehr bewusst sind: Ahnungslose und Abgebrühte. Den anderen kann einleuchten, dass wir dieser rasanten Entwicklung hilflos ausgeliefert sind. Und wer zusätzlich begreift, dass menschliche Erfindungen niemals zuverlässiger sein können als ihre Urheber, hat allen Grund, sich zu sorgen.

Profit ad absurdum

Ökonomische Interessen begründen die Bejahung des Wirtschaftswachstums. Es geht vorerst nicht um das Gemeinwohl, sondern um das eigene Sicherheitsbedürfnis, das mit Geld und dessen Wirkung befriedigt wird: Am Anfang steht das Kapital. Zielstrebig — und mit ideologischen Scheuklappen versehen — legen wir uns ins Geschirr. Wachstum um jeden Preis, im persönlich-individuellen wie im öffentlich-gesellschaftlichen Bereich. Wir fördern die Forschung, bejubeln technische Schöpfungen und streichen die Gewinne ein. Dabei verlieren wir uns in einem Größen- und Machbarkeitswahn und vergessen unsere Fehlbarkeit.

Diese innere Gefährdung findet ihre Entsprechung in einer äußeren Bedrohung, denn die geschaffenen Maschinen und Systeme sind komplex und bergen ein nicht abschätzbares Katastrophenpotential.

Der leichtfertige Umgang mit Umweltschadstoffen begünstigt den verheerenden Verlauf der Dinge. Als zivilisierte Barbaren treiben wir die Hochstapelei schließlich so weit, bis großtechnologische Einrichtungen zu ökologischen Desastern weltweiten Ausmaßes führen. Jetzt beherrschen nicht mehr wir Wissenschaft und Technik, sondern diese beherrschen uns — die Luft ist verschmutzt, das Wasser vergiftet, die Erde verseucht.

Fröhlich und unbekümmert sind vermutlich nur noch Blinde und Technokraten. Munter „beheben“ sie Naturschäden und „verbessern“ die Sicherheit der havarierten Pandora-Büchsen. Doch für die zerstörte Natur gibt es keinen Ersatz. Und die neuen technologischen Spitzfindigkeiten erhöhen in erster Linie die Komplexität der Einrichtungen, die Zahl der Wirkungszusammenhänge und damit das Risiko.

Blinde Justiz

Obwohl die Zerstörung der Natur schon lange kein Kavaliersdelikt mehr ist, nimmt die Umweltkriminalität drastisch zu. Da das Strafrecht auf die aktuelle Situation nicht eingestellt ist, kommt es nur selten zur Verurteilung von Umweltsündern. Die Allgegenwart der Zerstörung schützt den einzelnen Täter — jeder sündigt, doch niemand ist schuldig. Die Vorstellung einer Gerechtigkeit, die das Zusammenspiel von Schuld und Sühne garantiert, ist hier utopisch. Sowohl eine Produktionstechnik als auch eine moderne Freizeitkultur, die nicht mit einer Belastung der Umwelt verbunden sind, scheinen undenkbar. Unsere Gesetzgebung ist weit davon entfernt, eine angemessene Umweltsteuer einzuführen, die Haftung auf industrielle Groß- und Langzeitprojekte umzustellen und Vor- und Nachsorgemöglichkeiten auf die neuen Großgefahren auszudehnen.

Die Wechselbeziehung von technokratischer Wissenschaft und gewaltorientierter Gesellschaft hat ihren gültigsten Ausdruck in unserer Arroganz gegenüber der Natur. Die auf Aggression und Eroberung getrimmte Seele macht sich die Erde untertan durch konsequenten Raubbau an deren Ressourcen. Eine solche selbstherrliche Nutzung, für die das Mittel der Megatechnik zur Verfügung steht, gefährdet den ökologischen Haushalt des Planeten. Sie und die systematische Verseuchung der Umwelt kommen einer Kriegserklärung an das Leben gleich. Der Mangel an Achtung allem Lebendigen gegenüber richtet sich letztlich gegen uns selbst: Vergehen gegen die Menschlichkeit werden zum Verbrechen an der Menschheit.

Homo suizidens

Die industrielle Technokratie hat den kapitalistischen, sozialistischen und kommunistischen Wohlstand ermöglicht. Gleichzeitig hat sie Generationen ihrer Arbeit und Freizeit entfremdet, denn ein von Maschinen bestimmter Alltag begrenzt die menschliche Selbstbestimmung, erhöht den Stress und macht gemütskrank. Aus der Wohlstandsgesellschaft ist die Konsumgesellschaft hervorgegangen, die das wahllose Verbrauchen zu ihrem obersten Prinzip ernannt hat.

Heute ist der Höhepunkt der Konsumgesellschaft längst überschritten — der Konsum beschwört den ökologischen Selbstmord. Die Natur, unsere Existenzgrundlage, ist der Tribut, den wir dem Wirtschaftswachstum zollen.

Wenn Sozialkritiker von Risiko- und Katastrophengesellschaft sprechen, meinen sie im Grunde ein System von Halsabschneidern, die weder vor Machtmissbrauch noch vor kriminellen Handlungen zurückschrecken, wenn es darum geht, eigene Scheinbedürfnisse zu befriedigen.

Ein System von Weltbürgern, die mit gefährlichen materiellen Stoffen und geistigen Kräften spielen, ohne die Folgen ihres Spiels abzusehen. Ein Weltsystem, das die vier Elemente verdirbt und die Energie und Rohstoffvorräte des Planeten plündert bis zur bitteren Neige. Sie meinen eine Gesellschaft, die sich selbst umbringt, eine Suizidgesellschaft.

Wer nun verständnisvoll lächelt und die Bezeichnung Suizidgesellschaft nur gebraucht, um die Mitschuld am Zustand der Welt an ein anonymes System abzutreten, hat nicht begriffen. Wer stumm nickt und weiterwurstelt wie bisher, wer die Stirn in Falten legt und gleichzeitig jeden Rest von Verantwortung aus dem Bewusstsein tilgt, ist ein Feigling. Als Mitglieder dieser Gesellschaft, als Teile eines Ganzen sind wir mitverantwortlich für und mitschuldig am Bestehenden. Der Einzelne spielt einen kleinen, aber wesentlichen Part im Weltendrama, das sich zur Tragödie entwickelt. Neben Haupt- und Nebenrollen füllt vor allem das Heer der Statisten die Bühne. Jene von ihnen, die sich der Erkenntnis und ihrer Folgen verweigern, machen die Suizidgesellschaft zu dem, was sie ist, zu einer Maschinerie reibungslos ineinandergreifender Zahnrädchen, zu einem organisatorischen Wunderwerk, das sich selbst zerstört:

Der Politiker

ist die Marionette von Finanzier und Unternehmer. Er sitzt in Verwaltungsräten nationaler und transnationaler Konzerne und steht in der Schuld seiner Partei, die ihrerseits nach der Pfeife ihrer Geldgeber tanzt. Er missbraucht das Vertrauen in seine Integrität, indem er Informationen, die die Öffentlichkeit betreffen, zurückbehält oder durch Auswahl, Zusätze und Auslassungen verfälscht; indem er Tatbestände verbirgt, leugnet oder verharmlost; indem er sich der demokratischen Kontrolle entzieht. Sein Eigennutz und die Loyalität zu Finanz- und Wirtschaftskreisen verunmöglichen jene zur Allgemeinheit. Der Politiker richtet sich vordergründig nach der herrschenden Meinung, da er wiedergewählt werden will. Er legt sich aber nie fest und perfektioniert — in Absprache mit Justiz und Wirtschaft — die Handlungsohnmacht des Einzelnen mittels Suggestion und Manipulation. Seine größte Lüge besteht in der Behauptung, alles unter Kontrolle zu haben, sein größter Betrug im Versprechen, die persönliche Verantwortung des Wählers zu übernehmen. Was den technologischen Fortschritt betrifft, verheißt er dem einzelnen Bürger eine Sicherheit, die er für die Gesellschaft nicht mehr garantieren kann. Umweltzerstörung wird rhetorisch abgehakt, angesichts von Katastrophen handelt der Politiker nur symbolisch.

Der Richter

ist der Büttel des Politikers. Er verkörpert den Mythos vom Recht. Als Schwert Justitias, der Hure der Mächtigen, besitzt er kein Gewissen: er führt aus, was andere verfügen. Dabei verschanzt er sich hinter dem Schild des Strafrechts und trägt die Maske der Unbestechlichkeit. Doch die Berufung auf ein dehnbares Gesetz, das die kleinen Verbrecher hängt und die großen laufen lässt, korrumpiert ihn. Der Richter verurteilt nur, wer verurteilt werden soll, vorab jene, die die bestehenden Verhältnisse verändern möchten. Das Leid, das er Einzelnen zufügt, festigt die träge Zufriedenheit der Masse.

Der Unternehmer

hält der bewährten, profitbringenden, auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft die Treue, auch wenn das Management auf grünen Hochglanz poliert werden muss. Von Habgier getrieben, schlachtet er seine Menschlichkeit nach der Devise Geschäft ist Geschäft. In diesem Sinn bemächtigt er sich der nötigen Produktionsmittel wie Maschinen und Menschen und der Produktivkräfte wie Erdöl und Elektrizität, Atomenergie und Elektronik. In diesem Sinn baut er auf eine technokratische Arbeitsorganisation mit zentraler Planung, Bürokratisierung, verstärkter Arbeitsteilung und Automatisation. In diesem Sinn presst er aus Zweiter und Dritter Welt Rohstoffe, billigste Arbeitskräfte, Schulden und Schuldzinsen heraus. Für den lukrativen Höhenflug seines Unternehmens nimmt er sogar die Erhitzung der Atmosphäre und die Zerstörung der Natur in Kauf.

Der Banker

widmet sich der Kapitalverwertung, wofür ihm jedes Mittel recht ist. Er investiert in nationale und transnationale Konzerne von Chemie, Großtechnologie, Waffenhandel und so weiter und sahnt Riesengewinne ab. Die hemmungslose Bereicherung hat eine hohe Verschuldung der Entwicklungsländer zur Folge. Die Besessenheit, Geld zu vermehren, macht nicht Halt vor Menschenrechtsverletzung und Mord. Das Bankgeheimnis deckt die Annahme von Flucht- und die Reinwaschung von Drogengeldern in Milliardenhöhe. Für den Banker ist alles käuflich — Fauna, Flora und menschlicher Lebensraum ebenso wie Vorrechte, Machtpositionen und die Gesinnung von Menschen.

Der Wissenschaftler

ist das Mündel des Unternehmers. In dessen Auftrag betreibt er seine Forschung, von dessen finanziellen Zuwendungen hängt er ab. Diese Fron des Alltags versucht er wettzumachen durch den Hinweis auf den Ausschließlichkeitsanspruch der modernen Wissenschaft. Der Glaube an die Wertfreiheit seiner Forschung entspringt der Sehnsucht nach einem materialistischen Freiraum, in dem die Grenzen von Moral und Ethik überschritten werden können. In einem Unfehlbarkeitswahn setzt er Wissen in die Welt, dessen Folgen nicht vorhersehbar sind. Er tut dies immer im Hinblick auf das Wohl der Menschheit. Auftretende Zweifel an Errungenschaften und Erfindungen verdrängt er. Gefahren, auch Großgefahren, nennt der Wissenschaftler Risiken. Und bei Katastrophen übt er sich in einer flexibleren Handhabung der Grenzwerte.

Der Beamte

ist ein typischer Angestellter: Verantwortlich für seine Schreibtischtäterschaft ist immer der Vorgesetzte, von dem er die Anweisungen erhält. Mit bürokratischer Rationalität, die jedes Gefühl ausschaltet, verwaltet er Dinge und Menschen. In seiner Gewissenhaftigkeit hält er sich eisern an Vorschriften, Anordnungen, Beschlüsse, Dekrete, Verlautbarungen, Erlasse, Gesetze und Paragrafen. Er verwaltet Risiken, Gefahren, Katastrophen. Die ökologischen Maßnahmen, die er einleitet, sind von erbärmlicher Belanglosigkeit. Er verwaltet den Mord an Bäumen, Tieren, Landschaften und den kollektiven Selbstmord der Menschheit.

Der Medienschaffende

unterliegt der Selbstzensur, da sein Medium auf Finanzspritzen von Unternehmern angewiesen ist. Seine Hauptaufgabe besteht in der Unterhaltung und Verdummung der Massen. Wo er kritisch sein darf, reagiert er auf Tatsachen. Die Berichterstattung beschränkt sich auf die Meldung von Ereignissen, von gesellschaftlichen Symptomen; selten deckt sie deren Ursachen und die tiefer liegenden Zusammenhänge auf. Der Medienschaffende verwässert Wirklichkeit.

Der Bürger

ist ein verängstigtes Wesen, das sich duckt. Aus Selbstschutz hängt er sein Mäntelchen nach dem Wind. Kleinmütig folgt er den gewohnten Bahnen des Alltags, ohne mit der Schwierigkeit einer bewussten Wahl konfrontiert zu werden. Im sozialen Verhalten sucht er der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen, was viele Vorteile bietet. Der Bürger klagt nicht an, um nicht selbst angeklagt zu werden. Er schweigt, um nicht aufzufallen. Er nickt, um seine Ruhe zu haben. Er ist gehorsam aus Egoismus. Den Mächtigen traut er alles, sich selbst nichts zu. Er steht im Abseits der Geschichte und genießt, was diese ihm an Vergnügungen bietet. Mitschuld am Bestehenden leitet er auf soziale Randgruppen ab. Der Bürger zerstört die Umwelt aus Gleichgültigkeit.

Lethargie und Dekadenz

Die Gegenwart ist geprägt von Umweltkatastrophen und ökologischen Lippenbekenntnissen. Wir zerlegen die Wirklichkeit in immer kleinere Teile und verlieren so den Blick auf das Ganze. Während die Welt aus den Fugen gerät, versteigen wir uns in rührselige Kommentare. Ist von der Klimakatastrophe die Rede, kriegen wir feuchte Augen, erzählen vom letzten Waldspaziergang, vielleicht auch von Jugenderinnerungen, von damals, als alles besser war, verabschieden uns verlegen lächelnd, steigen in den Wagen und brausen davon.

Sinkt in internationalen Gewässern ein Öltanker, setzen wir die Miene der Erschrockenheit auf, hinterfragen die Reederei, bemitleiden die verklebten Fische und Vögel, schaukeln auf dem Plastikstuhl und versinken in Schweigen. Explodiert irgendwo eine chemische Fabrik, entrüsten wir uns über die freigesetzten Giftgase, bemängeln die Sicherheitsvorkehrungen, verfluchen die Chemie, kritisieren Werkschutz und Feuerwehr, schlucken eine Schlaftablette und gehen zu Bett. Mag die Nachricht noch so schlecht sein, unser Schauspiel ist gut: Phrasendrescherei zum Zeitvertreib. Empörung als Selbsttäuschung, Zuschiebung des Schwarzen Peters aus Ängstlichkeit. Das ganze Theater ist angesichts des stattfindenden Ökozids nicht nur peinlich, sondern geradezu kriminell.

Dies ist die Epoche der geistigen und gefühlsmäßigen Dekadenz. Wir sind Notebook- und Smartphone-Benutzer mit einem überdimensionierten Gehirn, einem geölten Mundwerk und einem winzigen Herzen.

Die Lippen bewegen sich, aber die Hände packen nicht an — ganzheitliche Wahrnehmung im Theoretischen, ökonomisch bestimmtes Verhalten im Praktischen. Umweltschutz wird besprochen, doch nicht verwirklicht. Wir drücken uns vor der Freiheit und ihrer Verantwortung und berufen uns auf Sachzwänge und Verhältnisse.

Da die grüne Welle nicht mehr ignoriert werden kann, wird sie sogar von Surfern aus Industrie, Forschung, Management und Politik geritten. Alle möglichen Ausreden müssen herhalten für unsere Unfähigkeit, den großen Worten Taten — nicht Gesten — folgen zu lassen. Lauter Vorwände für fehlende Hintergründe. Das Klima der allgemeinen Oberflächlichkeit und Lethargie ist die eigentliche Klimakatastrophe dieser Zeit.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte die Gegensätzlichkeit von Theorie und Praxis derart grauenhafte Folgen. Wir — selbst Teil der Natur — sind aus deren Kreislauf ausgebrochen und zu unserem eigenen Feind geworden. Die Verwüstungen, die wir anrichten, sind Verwüstungen des menschlichen Lebensraums. Zerstörung und Selbstzerstörung sind heute eins.

Wird Illegalität legitim?

Tatsache ist: Die alttestamentarischen Geschichten haben uns eingeholt. Der Tanz ums Goldene Kalb wird ekstatisch, der Turmbau zu Babel ist in vollem Gang, die Sprachverwirrung ist Alltag. Nur die Arche Noah ist noch nicht gezimmert. Tatsache ist: Wir laufen Amok. Besitz- und Profitsucht, Gigantomanie, Exzesse von Genuss und Verschwendung, Gewaltherrschaft über alles, was uns unterlegen scheint, Gier nach Ersatzbefriedigungen für ein vertanes Leben, Selbsthass und Vernichtungswut finden ihren Höhepunkt in der Vergewaltigung und der totalen Erschöpfung der Natur. Tatsache ist: Die Vergiftung der Biosphäre stellt den Fortbestand der menschlichen Spezies infrage.

Die große Masse kehrt diese Wahrheit unter den Teppich der Ahnungslosigkeit — sie erträgt den Blick in den Spiegel nicht. Doch eine Minderheit verweigert sich dem Blindekuh-Spiel und leistet Widerstand auf breiter Front. Ich spreche jetzt nicht von der jugendlichen Fridays for Future-Bewegung.

Der Protest von Menschen jeden Alters, jeder Parteizugehörigkeit und aller Berufszweige reicht von phantasievollen Einzelaktionen, Mahnwachen, Sitzblockaden, Demonstrationen, Sternmärschen, Menschenketten und Festen bis zu sämtlichen Formen bürgerlichen Ungehorsams. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace stellen sich mächtigen Umweltsündern in den Weg und machen mit spektakulären Einsätzen auf Missstände aufmerksam: Spezialtrupps hissen riesige Transparente an Fabrikschloten, ketten sich an zu fällende Bäume, verstopfen Abflussrohre von Atomanlagen, stören Chemietanker beim Verklappen von Dünnsäure, hindern Fischer am Walfang und so weiter. Viele Menschen beginnen, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen.

Vermehrt wird der Kampf auch mit den Mitteln der Gewalt geführt. Illegalität wird legitim, das gewalttätige System rechtfertigt die Gegengewalt. So gehen Jugendliche auf die Straße, pöbeln Autofahrer an und zerkratzen Karosserien. Auf Parkplätzen werden Autos beschädigt, Antennen abgebrochen, Pneus aufgeschlitzt, Scheiben eingeschlagen. Tierschützer befreien Versuchstiere aus Labors.

Demonstranten setzen sich gegen anrückende Polizei mit Pflastersteinen, Brechstangen, stählernen Wurfeisen, Präzisionsschleudern und Molotow-Cocktails zur Wehr. Die Energiewirtschaft zittert vor Einzeltätern und Gruppen, die mit Säge, Schweißgerät und Sprengstoff Hochspannungsmasten zu Fall bringen. Brandstifter legen umweltfeindliche Betriebe in Asche. Angst und Ohnmacht des Einzelnen versteigen sich in spontane und geplante Anschläge auf Fabriken, Firmen, Banken und Regierungsgebäude. Das Feuer, das unter der Oberfläche der bürgerlichen Gleichgültigkeit schwelt, lodert auf im bewaffneten Angriff.

Wie verständlich diese defensive Gewalt auch sein mag, die Antwort von Wirtschaft, Finanz, Justiz und Polizei lässt nicht lange auf sich warten und schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die staatliche Repression richtet sich gegen militante wie friedliche Umweltschützer. Richter durchstöbern die Gesetzbücher nach Paragrafen, mit deren Hilfe Sitzblockaden und ziviler Ungehorsam zu Straftatbeständen gemacht werden könnten.

Wo die gesetzliche Grundlage fehlt, fordern Politiker Gesetzesverschärfungen, die heftige innenpolitische Diskussionen auslösen: Vermummungsverbot, Vorbeugehaft für Wiederholungstäter, Einschränkung der Presseberichterstattung mit Terrorparagrafen, Gebrauch von umstrittenen Waffen und härteres Vorgehen bei Polizeieinsätzen. Organisationen und Privatpersonen, die Landschaften vor der Zerstörung und Tiere vor der Ausrottung bewahren, werden verleumdet und in ihrer Arbeit behindert. Menschen, die ihrem Unmut in bewilligten Demonstrationen Luft machen, werden mit bewaffneten Straßenkämpfern — so genannten Autonomen — gleichgestellt und kriminalisiert. Minderheiten und gesellschaftliche Randgruppen wie grüne Bürgerverbände, Hausbesetzer und ökologische Einzelaktivisten werden härter rangenommen.

Doch die Mächtigen lassen es nicht bei solchen Schikanen bewenden. Knüppel und Tränengas sind nur milde Reaktionen auf das erwachende Umweltbewusstsein in der Bevölkerung. Die Strategie jener, die ein finanzielles Interesse an der Zerstörung der Umwelt haben, macht nicht halt vor Einschüchterung, Rufmord, Erpressung, Körperverletzung und Mord. Seit kurzem beginnen nun auch einzelne Umweltschützer, sich dieser Mittel zu bedienen.

Die Suizidgesellschaft ist eine geteilte Gesellschaft. Ausmerzung von Fauna und Flora und Vergiftung des menschlichen Lebensraums lassen im Grunde bloß zweierlei zu — Befürwortung oder Ablehnung.

Je schwerwiegender die Katastrophen sind und je größer die Umweltschäden werden, desto klarer beziehen wir innerlich Stellung. Die Hände der einen greifen nach den Schätzen der Erde, die Herzen der anderen schlagen für die geschundene Natur. Was sich im Weltanschaulichen gespalten hat, bahnt sich nun einen Weg in den Bereich des Handelns. Die Polarisierung der menschlichen Gemeinschaft nimmt konkrete Formen an, der Konflikt wird sichtbar und vermehrt auch offen ausgetragen.

Ökologischer Bürgerkrieg

Wir haben der Natur den Krieg erklärt und damit den Samen gesät für den künftigen Krieg zwischen den Menschen. An der Öko-Front stehen sich Umweltschützer und -zerstörer gegenüber. Hin und wieder fallen Schüsse, vereinzelt explodieren Bomben, ein paar Schiffe werden ausgeschaltet, ein paar Anschläge verübt und hin und wieder muss ein Mensch dran glauben. Noch sind die Armeen nicht aufgestellt, die Führer bleiben unentschlossen, noch ist die Schlacht nicht ausgebrochen. Aber die Gräben sind ausgehoben, die Stellungen eingerichtet und die Grenzen abgesteckt. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die verfeindeten Parteien sich organisieren und aufeinander stürzen.

Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Öko-Kollaps, wird staatliche Maßnahmen notwendig machen. Maßnahmen, die vom Einzelnen die Bereitschaft zum Umdenken fordern werden. Maßnahmen, die materielle Einschränkungen mit sich bringen, die die Opferbereitschaft aller auf die Probe stellen werden. Wer aber diese Voraussetzungen, die es zur Bewältigung der Wirtschaftskrise braucht, nicht besitzt, wird sich zur Kollaboration mit den Umweltzerstörern entschließen.

Die staatlichen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft, die über die legitime Handlungsfähigkeit demokratischer Regierungen hinausgehen, werden die Gefahr des Totalitarismus in sich bergen. Sogar jene, die heute an der Macht sind und die Geschicke der Welt bestimmen, werden die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Umweltschützern und -zerstörern noch erleben. Der ökologische Bürgerkrieg wird die schwierige Situation erheblich verschärfen und dem Polizei- und Überwachungsstaat Vorschub leisten. Der Weltfrieden wird in Gefahr sein.

Was das Morgen bringt, hängt vom Heute ab. Die Erstarrung demokratischer Strukturen im neoliberalen Kapitalismus, wie wir sie heute erleben, leitet die Selbstauslöschung der Menschheit ein. Die Überzeugung der Politiker, sich nach den Überzeugungen der Mehrheit zu richten, ruiniert den Charakter der Regierenden und die Konfliktfähigkeit der Bevölkerung. Und die Duckmäuserei der Wähler und ihr stummes Ignorieren der Zeichen tragen das Ihre zum Anfang vom Ende bei. Zivilcourage ist das Gebot der Stunde. Es geht jetzt nicht mehr darum, nach immer wirtschaftlicheren Lösungen für die Umweltprobleme zu suchen, sondern darum, die schon gefundenen Lösungen sofort und ohne Skrupel in die Tat umzusetzen. Die verdrängte Schuld schreit nach Sühne.

Und Sühne entspricht einer Verpflichtung. Sühne heißt Rückzug aus der Verfilzung von Politik, Finanz und Wirtschaft; heißt Boykott einer Wissenschaft, die ohne Aufmerksamkeit auf die Folgen ihres Tuns voranschreitet. Sühne bedeutet nicht wirtschaftliche Stagnation, aber Wandlung; bedeutet nicht Nullwachstum, aber Wahl einer Technik, die eine aktive Partnerschaft mit der Natur unterhält. Sühne fordert materielle Bescheidenheit, die uns in den natürlichen Kreislauf integriert; fordert Verzicht im Jetzt, damit uns die Zukunft erhalten bleibt.

Bankrott der Zivilisation

Hat der jahrzehntelange friedliche Einsatz für die Natur die Umweltzerstörung zu verhindern oder auch nur zu bremsen vermocht? Haben die zahlreichen Demonstrationen die politische und wirtschaftliche Praxis der Industrienationen beeinflussen können? Hat die Aufklärungsarbeit der Umweltschutzorganisationen das Bewusstsein der Massen geschärft? Hat die Berichterstattung der Medien das Gewissen des Einzelnen geweckt? Haben die Katastrophen dessen Verhalten verändert?

Das Verbrechen wird täglich begangen. Paradiesische Landstriche werden in Wüsten verwandelt, unberührte Strände in ölige Schlammgründe, ganze Meere in Plastik-Kloaken. Der Acker wird verseucht, die Atmosphäre verpestet, der Wald gerodet, die Ozonschicht zerrissen. Ob vorsätzlich oder nicht, die Erde wird erobert, geschändet, geplündert, vernichtet. Das neue Jahrtausend verheißt den ökologischen Zusammenbruch des blauen Planeten. Der Bankrott unserer Zivilisation steht bevor.

Jene, die den Ernst der Lage erkennen, werden aufgerieben vom Konflikt zwischen dem Anspruch auf privates Glück und der kollektiven Verantwortung. Und jene, die sich dieser Verantwortung und ihren Konsequenzen stellen, kommen um die Gretchenfrage der Gewalt nicht herum. Ist es an der Zeit, militanten Widerstand zu leisten, um den Planeten vor der Vernichtung zu bewahren? Müssen umweltfeindliche Maschinen, Betriebe, Konzerne, Organisationen und Regierungen mit Waffen bekämpft werden? Ist der Gewalt der Mörder mit Gewalt entgegenzuwirken? Muss das Überleben der Menschheit mit dem Blut von Menschen erkauft werden?

Es ist die uralte Frage „Evolution oder Revolution?“, die allerdings noch nie so aktuell war wie heute. Ging es bisher um Expansionskriege, politische Machtkämpfe, soziale Reformen oder gesellschaftliche Umwälzungen, steht heute der Fortbestand der Menschheit auf dem Spiel. Während früher das Tempo der Entwicklung für den Ausgang des Geschehens kaum ausschlaggebend war, befinden wir uns heute in einem gnadenlosen Wettkampf mit der Zeit. Zu fragen, ob der Zweck diesmal die Mittel heilige, ist deshalb kein rhetorischer Kunstgriff, sondern bittere Erfordernis.

Gewalt provoziert Gegengewalt

Die Geschichte lehrt, dass die Anwendung von Gewalt umfassende Veränderungen bewirkt hat. Moden, Steuern, Verfassungen, Kolonien, Religionen, ja ganze Staaten wurden so aus der Taufe gehoben oder zu Grabe getragen. Die weltweite Verbreitung des christlichen Glaubens ohne Kreuzzüge? Unwahrscheinlich. Die Französische Revolution und ihre Neuerungen ohne Guillotine? Unvorstellbar. Die Bezwingung des Dritten Reiches ohne Blutvergießen? Völlig undenkbar. Diejenigen, die die Welt verändert haben, sind gewöhnlich — sei es mit guten oder schlechten Absichten — über Leichen gegangen. Ob sie aber den Lauf der Geschichte zum Besseren hin korrigiert haben, sei mit einem Blick auf die nachkommenden Ereignisse angezweifelt: Religions- und Unabhängigkeitskriege in (ehemals) christlichen Ländern und Kolonien; freie Marktwirtschaft und unmenschlicher Kapitalismus in westlichen Demokratien; Kalter Krieg und atomare Aufrüstung zwischen Ost und West nach 1945.

Geschichtlich betrachtet mag Gewalt notwendig sein, weil Not beendend. Geschichtlich mag Aggression gerechtfertigt sein, menschlich ist sie es nie. Aggression ist ein untrügliches Zeichen für Schwäche. Mit Nötigung, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und Terror wird das Böse nicht überwunden, sondern einverleibt. Ruhe und Ordnung kehren ein, doch der Sieger nimmt Schaden an seiner Liebesfähigkeit, und der gesäte Hass weckt die negativen Kräfte des Besiegten. Der Gewalttätige ist kurzsichtig, der eingeleitete Frieden kurzfristig. Gerade die Unterdrückung der Opposition macht das neue Herrschaftssystem anfällig für erneute Revolte und Revolution.

Die Suizidgesellschaft, die auf den tönernen Füssen der Gewalttätigkeit steht, ist das Ergebnis einer geschichtlichen Verblendung. Über Hunderte von Generationen hinweg haben wir geglaubt, Siegen sei das höchste Ziel im Leben.

Wir haben die vier Elemente gebändigt, Tiere gezähmt und der Flora Nutzpflanzen abgerungen. Wir haben Länder erobert und Völker unterworfen, Ureinwohner versklavt und Rassen ausgerottet. Wir haben Andersdenkende, Minderheiten und die Frauen diskriminiert. Wir haben Erze und Metalle zu Maschinen verarbeitet, die Schwerkraft überlistet, aus den Tiefen der Erde Öl gefördert und Atomkerne gespalten. Nachdem wir die Schöpfung bezwungen haben, vernichten wir sie nun. Aber diesmal werden wir als Sieger leer ausgehen.

Obwohl der bewaffnete Kampf gegen die offensichtlichsten Umweltverschmutzer für manche die letzte Möglichkeit scheint, die globale Katastrophe abzuwenden, ist doch auch dieser Streit der geschichtlichen Tradition von Gewalt und Gegengewalt verhaftet. Auch er will zerstören, statt zu bewahren, und ist darum ebenso wahnwitzig und sinnlos wie die Umweltzerstörung.

Weltpolitik jetzt!

Wir sitzen alle im selben Boot. Was im Zeitalter der Klimakatastrophe in irgendeinem Land der Welt geschieht, ist auf die eine oder andere Weise auch Sache der anderen. Von der Brandrodung des Regenwaldes, dem Verschwinden der Gletscher und dem Abschmelzen der Polkappen sind alle betroffen. Wenn wir überleben wollen, müssen wir das nationalstaatliche Denken über Bord werfen und uns zu einer Weltpolitik durchringen, die den gesamtmenschlichen Werten wie internationale Solidarität und Zusammenarbeit konkrete Priorität einräumt.

Wir sind aufeinander angewiesen. Diese Erkenntnis muss uns ein für allemal davon überzeugen, dass der Wille zur gegenseitigen Beherrschung und jener der Natur ein großer Irrtum ist. Nur die Besinnung auf die Kraft der Kommunikation, auf Versöhnung, Mitgefühl, Fürsorge und Partnerschaft kann den Weg ebnen aus der zwischenmenschlichen wie ökologischen Krise.


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