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Die Entseelten

Die Entseelten

Manche Sachbearbeiter behandeln Sozialleistungsempfänger mit solcher Eiseskälte, dass man die Frage stellen muss, was in sie gefahren ist. Exklusivabdruck aus „Herr Sturm und die Farbe des Windes“.

Bischoffs Liste. Nr. 8

Montag, 12. Oktober, 14:30 Uhr Tommy Strenzel, Senefelderstraße 13, Berlin, Prenzlauer Berg

Berlin. Wachsende Megacity, ehemals bekannt für kunterbunte Subkultur, inzwischen eher bekannt für teure und entseelte Hipster-Wohnviertel und teure, große Flughäfen, die nicht fertig wurden. Adresse und Name auf meiner Liste verrieten mir wie üblich nur, dass mein Gesprächspartner Tommy Strenzel hieß und in der Senefelderstraße wohnte. Prenzlauer Berg. Ehemaliger Ostteil der Stadt, mittlerweile von den Ur-Anwohnern sarkastisch „Neuschwabenberg“ getauft, weil die Mieten stiegen und Spießerfamilien das ganze Gebiet besetzt hatten.

Mir war so was ziemlich egal. Es gab neben den vielen neuen Protzbauten noch reichlich nette alte Häuser hier. Und interessante Seitenstraßen. Gegenüber dem Eckhaus mit der Nummer 13, an dem ich gleich zu klingeln gedachte, befanden sich eine Tierarztpraxis, ein Bioladen und ein Schwulen- und Lesbencafé. Also alles was man brauchte, wenn man entweder kränkelnde Haustiere besaß, gern so tat, als würde man sich gesund ernähren oder halt schwul oder lesbisch war und überraschenderweise dabei auch noch gern Kaffee trank.

Ich begutachte die Klingelschilder. Tommy Strenzel. Klang tatsächlich nach schwäbischer Herkunft. Ich drückte den Klingelknopf. Es summte überraschend schnell. Ich betrat einen Hausflur, durch den ich flott in einen hübschen Innenhof gelangte, überquerte den von Fahrrädern und Blumenkästen gesäumten Hof und ging schnurstracks in das Treppenhaus des Hinterhauses. Zweiter Stock. Strenzel öffnete die Tür, ohne mein Klopfen abzuwarten.

„Herr Sturm, ja?“ „Ja. Herr Strenzel, richtig?“ Vor mir stand ein Mittvierziger, der sich einer interessanten Vergangenheit in der Subkultur zumindest verdächtig machte. Er bewegte sich merkwürdig huschig, trug Jeans, ein verblichenes schwarzes Shirt, auf dem „Free your Soul“ stand, hatte schütteres, braun-graues Haar und wirkte auf den ersten Blick trotz einiger amateurhafter Totenkopf- und Symboltätowierungen auf seinen Unterarmen recht freundlich. Und nervös. Und auf merkwürdige Weise traurig. Es war, als hinge eine sehr dunkle Wolke direkt über seinem Kopf.

„Es ist natürlich etwas schräg, dass wir uns auf diese Weise begegnen“, sagte ich. Ich hatte mich durch die vorangegangenen Treffen schon ein bisschen daran gewöhnt, fremde Menschen zu treffen. Doch die Reise in eine fremde Stadt hatte mir recht drastisch verdeutlicht, dass ich für dieses Buch meine Komfortzone verließ, was mir noch vor wenigen Wochen völlig unmöglich gewesen wäre.

„Schräg. Ja, das find ich allerdings auch“, sagte Strenzel und bat mich in seine Wohnung, eine kleine, sofort überschaubare Behausung mit winziger Küche, Zwischenraum und einem halbeinsehbaren, mittelmäßig geräumigen Wohnzimmer, in dem sich wahrscheinlich auch sein Bett befand.

„Lassen Sie uns in der Küche bleiben“, sagte er und wies mir mit nervösem Fingerzeig sofort einen Platz am Fenster zu. Anschließend fuchtelte er mit den Armen, als wären ein paar Bienen unter seinen Achselhöhlen eingeklemmt.

„Danke“, sagte ich und setzte mich.

Er stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch und schenkte uns aus einer Plastikkanne ein.

„Ich hätte diesem Treffen wohl kaum zugestimmt, wenn in dem Brief, den ich von Herrn Bischoff erhalten habe, nicht ein Zweihundert-Euro-Schein gewesen wäre.“ „Ah, ok“, sagte ich. „Kennen Sie Herrn Bischoff denn?“, fragte ich, mittlerweile mehr aus Routine, denn aus Neugierde. „Nein, nicht wirklich“, sagte Strenzel. „Ich bekam zwei Briefe von ihm. In dem ersten fragte er mich, ob es für mich möglich sei, mich für ein kleines Salär mit Ihnen zu treffen. Das kam mir zwar vollkommen ungewöhnlich vor, aber ich schrieb ihm zurück und ein paar Tage später kam dann der Brief mit dem Geld, dem Termin, Ihrem Namen und der Bemerkung, dass es nicht länger als eine Stunde dauern würde. Gute Bezahlung.“

„Hm, verstehe“, nickte ich und nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse. Ich war erleichtert: Aha, es gab also doch noch schlechten Kaffee auf der Welt. Dann konnte ich dem Impuls nicht widerstehen, erneut die Frage zu stellen: „Ähm. Wann etwa kam denn der erste Brief von Herrn Bischoff?“

„Das ist ziemlich verrückt. Es war vor genau einem Jahr. Auf den Tag genau.“

Ich wurde blass.

„Vor einem Jahr?“, fragte ich sicherheitshalber nach. „Und Sie sagten, in dem Brief stand mein Name?“

„Ja. Sturm. Er schrieb, Herr Sturm würde kommen und ein paar Auskünfte darüber wollen, an was ich glaube.“

Das setzte dem Rätsel die Krone auf. Vor einem Jahr? Ich kannte Bischoff doch erst seit einigen Wochen.

„Alles klar im Oberstübchen?“, fragte Strenzel in meine stille Verwirrung, die ihm wohl nicht entgangen war.

„Jaja“, wiegelte ich ab und vertagte die ganze interne Zweifelei erneut, „dann ... ähm ... erlaube ich mir, Sie genau das zu fragen: Was glauben Sie?“

„Wirklich eine, ähm, ja also, ’ne merkwürdige Situation, oder?“ gab Strenzel zögernd zurück. Er wirkte ziemlich verwirrt. „Sagen Sie mal, ist es ok, wenn wir uns duzen? Sie sehen nämlich aus wie jemand, den ich duzen würde, wenn ich ihn in der Kneipe treffen würde.“

„Ja klar, gerne“, sagte ich. „Richard.“ Ich reichte ihm zum zweiten Mal die Hand.

„Richard, wieso Richard? Ich heiße Tommy“, sagte Tommy. „Nein, ich heiße Richard“, sagte ich. „Ah, ach so, ja klar, also ich bin Tommy“, wiederholte er fahrig, lachte kurz, schüttelte meine Hand heftig und fügte schnell an: „Das ganze Ding mit dem Glauben ist ja ... naja... irgendwie sehr privat.“

Ich nickte. Und überlegte kurz, ob ich mein Diktiergerät, das ich vorsichtshalber mitgenommen hatte, auf den Tisch stellen und anschalten sollte, sortierte diesen Gedanken aber schnell wieder aus. Es passte nicht.

„Also, Herr... äh, nein, quatsch, Tommy. Was glaubst du?“

„So ganz allgemein jetzt? Oder mehr so speziell?“

„Ähm, eher so speziell“, sagte ich und bemerkte dabei, dass ich den Unterschied gar nicht wirklich verstand.

„Aha. Ok. Dann will ich ganz offen sein.“

„Ja, bitte.“

Die Wolke über Tommys Kopf wurde dunkler.

„Ich glaube ... also ... ja“, zögerte er. „Ich glaube an Außerirdische, daran, dass sie hier leben. Hier in der Stadt, mitten unter uns. Verdammt nochmal, sie leben überall. Gott hat sie geschickt. Sie sind Engel des Todes.“

„Außerirdische?“, wiederholte ich und stammelte leicht. „Von Gott geschickt?“

„Von Gott, ja. Sie sind wohl selbst sowas wie Götter. Untergötter. Was weiß ich. Mächtige Engelgötter!“, spuckte Strenzel die Worte fast heraus, „Dämonen! Geschöpfe eines Gottes, der mit dem Gott, an den viele glauben, nicht die Bohne zu tun hat, ein Beweis, dass Gott die Schnauze von uns voll hat. Wusstest du übrigens, dass schon in der Bibel zu lesen ist, dass Außerirdische sich unrechtmäßig mit den schönsten Frauen der Menschen gepaart haben?“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

„Steht ganz vorne in der Bibel irgendwo, im ersten Buch Dingsbums. Echt wahr.“

Strenzel spielte mit dem Zucker auf dem Tisch herum.

„Wirklich?“, fragte ich ungläubig nach. Es kam mir ziemlich absurd vor. Da ich aber das erste Buch Dingsbums nicht gut genug kannte, hinterfragte ich es nicht weiter. Strenzel reagierte eh nicht auf meine Nachfrage.

„Es ist so absurd, dass der Einfluss der Aliens immer wieder geleugnet wird. Aber es gibt dafür einen guten Grund“, fuhr Strenzel fort.

„Eine Verschwörung?“, fragte ich nach und konnte Strenzel und dieses ganze Gespräch immer weniger ernstnehmen.

„Jaja, natürlich“, zischte er. „Eine abgrundtief böse Verschwörung. Eine Verschwörung nicht-irdischen Ursprungs.“

„Du scheinst dir sehr sicher zu sein, oder?“ Ich nahm ihm seine Entschlossenheit ab.

„Oh, meine Güte, natürlich! Das liegt nicht nur an den Beweisen — von denen es unzählige gibt, gut versteckt und schwer zugänglich. Nimm nur den Report von Edward Condon, das war ein amerikanischer Wissenschaftler, den die Regierung 1966 mit einer halben Million Dollar eingekauft hat, um die UFO-Phänomene und -Sichtungen seit den vierziger Jahren zu untersuchen. Der Bericht war ganz offensichtlich manipuliert. Condon kam auf Geheiß der teuflischen amerikanischen Regierung zu einem Schluss, der nur dazu diente, den zuständigen Behörden zu bestätigen, dass wir nichts zu befürchten hätten. Aber was wurde in dem Bericht nicht alles beschrieben, vieles davon mit bedrückenden Indizien: Die Fotos der Aliens in Area 51, Tausende von Kornkreisen, geheimnisvolle nächtliche Viehverstümmelungen, sogar die Berichte von Menschen, die von Ufos entführt und wieder freigelassen wurden und die allesamt einem Lügendetektorentest standgehalten haben.“

Strenzel hatte für sein müde-lethargisches Verhalten ein enormes Sprechtempo aufgenommen. „Ich habe mich damit beschäftigt, bis es mir aus den Ohren herauskam. Stonehenge, die Architektur und der Bau der ägyptischen Pyramiden, das alles ist den Menschen damals allein ganz unmöglich gewesen, alles total offensichtlich! Dann die vor Jahrhunderten von Außerirdischen in die südamerikanische Pampa gemauerten und nur vom Flugzeug aus zu erkennenden Symbole von Schlangenwesen, alles Zeichen fremder, finsterer Kulturen.“

Ich lauschte. Das alles klang für mich nach einer ganz miesen Mystery-Doku auf RTL.

„Du hältst mich sicher für verrückt. Wie alle. Ihr armen Ignoranten. Auch heute sind die Geheimdienste noch mit ganzen Hundertschaften dabei, all diese Phänomene zu erforschen und zu durchleuchten. Stephen Hawking, das Superhirn unter den Superhirnen, sollte von den internationalen Regierungen für Forschungen gewonnen werden, schreckte davor zurück, hat aber wenigstens verkündet, dass wir alles, wirklich alles, tun sollten, um gar nicht erst von Außerirdischen entdeckt zu werden, falls das nicht längst geschehen sei. Er erinnerte mahnend an Columbus und an das, was mit den amerikanischen Ur-Einwohnern geschehen ist.“

Strenzel wurde rot und zitterte leicht. Ich staunte. Abgesehen von meinem wirren Gegenüber — das war mal wieder so ein Thema, von dem ich nicht den Schimmer einer Ahnung hatte.

„Aber weißt du was? Das ist alles egal“, brach Strenzel ab. „Die Frage ist nicht, ob es Außerirdische gibt. Sie sind längst da. Da draußen sind Aliens, überall. Ich sagte es ja schon: von Gott gesandte Engel des Todes. Sie haben das von Anbeginn der Zeit an geplant.“

Strenzel wurde nun wieder sehr fahrig: „Ja, ja, ich weiß, welche Frage jetzt kommt. Und nein, ich kann dir das natürlich nicht beweisen, aber ich weiß es. Wer Augen hat, der sehe!“

Sein glasiger Blick verriet, dass er gerade mit Lichtgeschwindigkeit zwischen den Planeten Vernunft und Irrsinn hin- und herreiste.

„Bitte erzähl weiter. Ich werde versuchen, dir zu folgen“, ermunterte ich ihn.

„Die Aliens sind uns überlegen“, fuhr Tommy fort, „sogar ganz extrem überlegen. Ihre Gedanken sind für uns nicht nachvollziehbar, sie sind gekommen, um uns perfide zu überlisten.“

Es war merkwürdig, Tommy Strenzel wirkte trotz seiner huschigen, in Dunkelheit getunkten Nervosität nicht wie ein Verrückter.

Naja, aber wer wirkte schon so.

„Ich rede nicht oft darüber. Aber du hast gefragt. Es ist dramatisch. Sie sind nicht mit friedlicher Absicht gekommen, so viel steht fest“, fuhr er leise und mühsam beherrscht fort.

„Ja, bitte verrate mir mehr Details“, bat ich ihn, nun ebenfalls konspirativ flüsternd, und widerstand dabei dem akuten Impuls, aufzustehen und sofort wieder zu gehen. Leute, die an Außerirdische glaubten: in Ordnung. Leute, die sich trauten, anderen Leuten zu erzählen, dass sie an Außerirdische glaubten: nicht in Ordnung. Ich versuchte, meine Gedanken zu unterdrücken und offen zu bleiben.

„Ich muss etwas ausholen, wenn du erlaubst, äh, Richard“, sagte Tommy nun vertraulicher und schüttete dabei mit zitternden Hand einen Löffel Zucker halb in und halb neben seine Kaffeetasse. „Sie geben sich natürlich nicht zu erkennen. Ich weiß auch nicht, wie sie ihre Interessen verfolgen, aber es muss sich um eine Art Gehirnwäsche handeln, die uns alle zu lethargischen Lemmingen macht.“

Ich konnte meine Nachfrage nicht verhindern: „Entschuldige Tommy, aber was ist das Interesse dieser außerirdischen Engelkreaturen? Warum machen die das denn? Und was denn überhaupt?“

„Unsere Seelen, Richard, sie wollen unsere Seelen. Ich weiß nicht, ob sie sie für Forschungs- oder Nahrungszwecke brauchen, wahrscheinlich beides, aber sie sammeln sie, das spüre ich. Und eines Tages werden sie das, was von uns übrig ist, in ihre Raumschiffe verladen und zack, weg, vorbei, finito. Das läuft dann übrigens nicht so niedlich ab wie in diesen Science-Fiction-Filmen, das wird alles viel fieser. Sie stehlen Seelen, sie machen uns zu Zombies, aber sie gehen sehr geschickt dabei vor, langsam, geradezu behutsam. Sie saugen uns im Schneckentempo aus. Vielleicht sind sie so was wie die Heuschreckenplage aus der Offenbarung.“

„Verstehe“, tat ich so als ob.

„Ok, ich werde dir erzählen, wie ihr tödliches Virus sich ausbreitet, Richard. Denn genau das verwenden sie! Ein Virus. Sie stecken uns irgendwie an. Und die Krankheit verbreitet sich schnell. Weltweit. Ich schätze, dass allein in den letzten 25 Jahren etwa drei Milliarden Menschen erkrankt sind. Natürlich begann es schon früher, aber das Tempo hat dramatisch zugenommen. Die ersten Ansteckungen datiere ich auf etwa 1948. Und ich glaube, dass sie damals auch in Deutschland gelandet sind. In irgendeiner Kriegsruine wahrscheinlich. Aber vielleicht haben die Amerikaner sie auch eingeschleust, man weiß nie, denen ist sowas zuzutrauen. Da fehlen mir aber leider die Informationen, es ist schwer, an Details zu kommen, zumal es nicht viele Eingeweihte gibt.“

„Wie kommst du darauf, dass sie in Deutschland gelandet sind?“

„Sie benehmen sich exakt wie Deutsche! Das ist Teil ihrer Programmierung.“

„Aha. Du meinst ... diszipliniert?“

„Nein, ich meine kaltblütig.“

„Ah“, nickte ich unbeholfen. „Und du sprachst gerade von wenigen Eingeweihten? Wie viele davon gibt es denn genau?“ Stenzel schenkte sich nun nochmal Kaffee nach, obwohl er noch keinen einzigen Schluck getrunken hatte. Zum Glück war noch etwa ein Millimeter Platz in seiner Tasse. „Zwei.“

„Zwei? Äh. So viele?“

„Ja, mich und meinen Freund Ingo. Wir haben früher mal zusammen Musik gemacht, weißt du.“

Ich hätte mich jetzt lieber ganz allein in das Schwulen- und Lesbencafé nebenan oder als Katze oder Huhn verkleidet in die Tierarztpraxis geflüchtet, als weiter zuzuhören, nickte ihm aber dennoch aufmunternd zu.

Tommy fuhr fort.

„1948 also. Da haben sie das Virus ausgesetzt und ganz langsam verbreitet, wie eine Psychodroge. Richtig los ging es dann mit der Wiedervereinigung. Der Mauerfall war der absolute und letzte Knackpunkt. Vorher war es, soweit ich weiß, ein rein westliches Phänomen, seitdem verbreitet es sich mit erschreckender Rasanz über die ganze Welt. Der Osten. Russland. Afrika.“

„Aber was genau geschieht denn dabei bei dieser Krankheit? Wie wirkt sich das Virus denn aus?“

„Ich erzähle das nicht gern und bitte dich, nicht zu erschrecken“, sagte Tommy.

Ich fühlte mich nicht besonders gefährdet. Also nickte ich nur. „Ich selbst trage das Virus in mir.“ Tommy machte eine Pause, die seiner Feststellung deutliches Pathos verlieh. Dann schenkte er sich erneut zitternd Kaffee nach. Es schwappte über den Tassenrand.

„Oh“, sagte Tommy plötzlich, als sei ihm etwas eingefallen. „Entschuldige bitte, ich habe nicht gleich daran gedacht.“

„An was gedacht?“

„Ich weiß nicht genau, auf welche Weise es ansteckend ist. Aber ich möchte dich bitten... zu deinem eigenen Schutz ...“

Er stand auf und holte einen großen, zerschnittenen Plastiksack aus dem Küchenschrank.

„Bitte zieh das an. Also ... wirf es dir einfach über ...“

Mir fehlte die innere Kraft, mich zu wehren. Ich legte mir den Plastiksack über die Beine und die halbe Brust, als wäre das Ding ein großes Lätzchen.

„Nein, nein, du musst es über den Kopf stülpen. Vielleicht überträgt es sich über die Atemwege.“

Das Lächeln, das über meine Mundwinkel huschte, muss gequält ausgesehen haben.

„Bitte, Richard“, insistierte er. Ich zog mir den Plastiksack über den Kopf. „Danke“, sagte Tommy erleichtert. „Früher war ich ein sehr lebendiger Typ, weißt du. Ich war ein neugieriges Kind. Meine Eltern waren 68er, richtige Hippies, freier Sex für alle, Blumenjäckchen, antiautoritäre Erziehung und der ganze Kladderadatsch. Ich fand es schön. Ich interessierte mich als Kind für so vieles. Für die Natur, für Frösche, Vögel, Musik, für die Wolken, den Himmel, Bücher, für Menschen. Ich liebte Mark Twain. Ich las alles von ihm. Huckleberry Finn war mein Vorbild. Den fand ich toll. Wenn mich jemand fragte, was ich mal werden wollte, sagte ich immer gleich: Huckleberry Finn.

Als Jugendlicher erwachte ihn mir die Lust an der Rebellion. Keine Ahnung warum, ich war eigentlich ganz glücklich. Ich verschrieb mich den Künsten und fand Gefallen an linker Politik. Ich gründete damals sogar eine Partei in der Schule. Wir hießen IP. Das stand für Indianer-Partei, wir wollten damit signalisieren, dass wir den Ausgestoßenen und Unterdrückten eine Plattform geben wollten. Und das gelang uns auch. Wir hatten siebzehn Mitglieder, lauter Einäugige und Bucklige, wenn du verstehst, was ich meine. Und ich gründete die Band: „Aufbruch“. Blöder Name, ich weiß, aber er drückte aus, was wir erreichen wollten. Wir wollten die Welt verändern und ich glaube, wir hätten es auch geschafft, jedenfalls ein Stück weit, wenn nicht ...“

Tommy zögerte. Er schaute einen Moment mit leerem Blick auf seine randvolle Kaffeetasse. Und schenkte dann nochmal satt nach. Der Kaffee kroch nun Richtung Tischkante und begann von dort langsam auf den Fußboden zu tropfen.

„Wenn nicht?“, fragte ich vorsichtig nach. „Wenn das Virus mich nicht erwischt hätte.“ „Was ist geschehen, wie hast du es bemerkt?“ „Das ist es ja. Ich habe es nicht bemerkt. Jedenfalls nicht, solange noch die Möglichkeit auf Heilung bestand, naja, vielleicht, womöglich, ich weiß nicht.“

„Wie meinst du denn das?“

„Sie haben mir meine Seele genommen. Der Junge, der ich war, der abenteuerlustige Bursche, der Huckleberry Finn, er ist längst fort. Sie haben ihn erwischt. Ich war lebendig. Sie haben mir die Lebendigkeit genommen. Ich hatte ein warmes Herz. Ich hatte Träume. Sie haben sie rausgesaugt, aus dem Zentrum meiner Seele. Jetzt bin ich fast leer. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich an den Folgen der Leere zugrunde gehe. Die Neugier, die in mir war, die Freude an Veränderung, der Mut, die Welt verändern zu wollen, all das ist weg. Ich sterbe. Und wenn ich sterbe, werde ich leer sein, bis auf dieses schreckliches Gefühl von Schuld, das mir bleibt. Meine Seele ist fort. Und das haben sie zu verantworten, sie allein.“

„Wie ist das denn passiert? Woran merkst du, dass jemand an dir saugt?“, sagte ich, und merkte, dass mich Tommys Worte seltsam berührt hatten. Das schreckliche Gefühl von Schuld, das ich selbst so gut kannte. Ich konnte nachfühlen, was er beschrieb und sagte, wenngleich ich den Zusammenhang mit den Außerirdischen nicht so recht begreifen konnte und alles mehr als überspannt fand. Aber seine Traurigkeit war nun fast mit Händen zu greifen. Es ging hier um viel mehr als die wirren Theorien eines psychisch sehr angeschlagenen Menschen, der immerhin mutig genug war, sich einem Fremden zu offenbaren.

„Es ist die Liebe für das Leben, die sie mir genommen haben, Richard. Teil meines Wesens war stets, dass ich etwas liebte. Es begann mit der Figur des Huckleberry Finn, der natürlich nur ein Symbol war. Ich liebte Schmetterlinge. Ich liebte Ideen, die Fantasie. Jules Verne. George Orwell. Ich liebte es, mit Freunden zu philosophieren, mir Gedanken zu machen, wie man die Welt verbessern könnte. Nach dem Abitur begann der Prozess. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Studieren? Wenn ja, was? Ich beschäftigte mich mit verschiedenen Möglichkeiten. Philosophie schien ein Weg. Oder Theologie. Oder Soziologie. Aber je näher ich mich mit dem Studium befasste, desto unsinniger schien es mir. Da war eine Stimme, die sagte: Quatsch, Tommy, Philosophen sind alle arbeitslos, Theologen beschäftigen sich mit diesem ganzen historisch-kritischen Schwachsinn und Soziologen sind sowieso nur bessere Statistiker.

Ich glaubte der Stimme und beschloss, zunächst mal auf meine Weise zu studieren: Ich würde einfach alles lesen und durcharbeiten, was mich persönlich interessierte und dann weitersehen. Blieb nur noch die Frage nach dem Geldverdienen. Ich heuerte in einer Kneipe an, stapelte tagsüber Bierfässer und stand abends am Tresen. In dieser Kneipe haben sie mich aufgespürt und mich endgültig angesteckt. Und ich habe es nicht gemerkt. Im Gegenteil, es schien sogar eine Weile richtig gut zu laufen. Ich lernte Margie kennen. Sie war ein total verrücktes, tolles Mädchen. Ich weiß nicht, ob wir wirklich verliebt ineinander waren, aber wir haben geheiratet. Und wir haben einen Sohn.“

„Wo sind die beiden?“, fragte ich nach.

„Margie ist wieder verheiratet. Mit so einem Börsenmakler-Arschloch. Und Tim, mein Sohn, ist ...“ Tommy zögerte. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Er ist ein Junkie. Nein, das ist nicht ganz richtig, er war ein Junkie. Lebte in einem besetzten Haus im Ruhrpott. Vor etwa einem Jahr hat er sich das letzte Mal bei mir gemeldet. Da rief er mich an und fragte, ob ich ihm Geld schicken könnte. Aber wie konnte ich? Meine Stütze war gekürzt worden und reichte grade mal für Miete, Kaffee, Tabak und ein bisschen Bier.“

In Tommys Stimme klang plötzlich neben Verzweiflung auch Wut mit.

„Und ich hatte ihm sowieso schon viel zu viel gegeben. Ich habe meine Stütze immer mit ihm geteilt. Dauernd habe ich ihm was geschickt. Und er hat es immer in Heroin angelegt.“

„Das tut mir leid“, sagte ich und bemerkte einen Kloß in meinem Hals. Und dass Strenzel nun zu dem kam, was er eigentlich erzählen wollte.

„Dann bin ich irgendwann einem Alien begegnet. Er hatte einen Menschen ganz übernommen. Der Mensch war nur noch Hülle. Er griff mich an. Es war ... so grausam.“

„Wo war denn das?“, fragte ich.

„Im Hartz-IV-Amt“, sagte Tommy. „Ich hatte am Montagmorgen einen Brief in der Post, der mich aufforderte, um 9 Uhr im Arbeitsamt zu sein — und die Post war um 9:30 Uhr gekommen! Sollte ich den Termin verpassen, würden mir 30 Prozent meiner Stütze gestrichen. Du verstehst: Der Brief wurde um 9:30 Uhr zugestellt, eine halbe Stunde nach Terminbeginn. Als ich dem Sachbearbeiter das zu erklären versuchte, sah ich, dass seine Seele bereits fort war. Er lächelte nur gemein und sagte, dass nun die angekündigten Sanktionen greifen würden.

Die Kälte seiner Entseelung war so spürbar, es war wirklich schrecklich. Ich bat ihn höflich, diese Entscheidung zurückzunehmen, sagte ihm, dass ich das Geld dringend brauche und wie ungerecht und gemein das alles sei. Er schüttelte nur den Kopf und tippte etwas in seinen Computer. Dann schaute er wieder zu mir und sagte kalt: ‚Tja, so sind nun mal die Regeln.‘

Ich bettelte, aber er schüttelte nur ganz langsam den Kopf und sagte, das alles sei nur im Sinne des Allgemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit.

Und dann, ich weiß nicht, vielleicht war es das letzte menschliche Aufflackern in mir, vielleicht ein verzweifeltes Buhlen um Mitgefühl, das mich zu dieser Ungeschicklichkeit reizte, dann erzählte ich ihm, dass ich in den letzten Monaten meinem Sohn von meiner sogenannten Lebensunterhaltssicherung Geld abgegeben habe und deshalb erst recht nicht mehr klar käme.

Der Alien schaute mich nun mit der Temperatur eines Gefrierbeutels an und fragte mich nach dem Namen meines Sohnes. Ich gab ihm die Auskunft. Er schaute im Computer nach und fand ihn. Dann sprach er leise und kühl vor sich hin: ‚Aha, Tim Strenzel, hier haben wir ihn, wohnhaft in Bochum. Ich notiere mal: Unerlaubter und nicht deklarierter, massiver Erhalt von Sonderzuwendungen aus der Familie, vom Vater, ebenfalls Leistungsempfänger. Ein Verfahren wird eingeleitet. Amtshilfe für Herrn Tim Strenzel wird mit sofortiger Wirkung gestrichen.‘ Er schaute mich lächelnd an. ‚Hätten wir das auch‘, sagte er.

Dann fügte er an, dass ich mich wissentlich einer Straftat schuldig gemacht habe. Er werde den Vorfall an die entsprechende Rechtsabteilung weitergeben, über die Konsequenzen würde ich informiert, auch eine Freiheitsstrafe sei möglich. Er ließ mich etwas unterschreiben, dann schickte er mich raus wie einen nassen Hund.

Es war so entsetzlich, Richard, ich saß in der Hölle und lernte, dass sie nicht aus Feuer ist, sondern vielmehr eine ewige Kälte, die die Herzen umklammert, sie würgt, sie ausquetscht, sie als feuchte Luft ausatmet. Seine Augen waren so leblos. Seine Haut grau. Sein Wesen erloschen. Und ich hatte keine Chance. Aber das Schlimmste war, dass ich auf dem Heimweg merkte, dass sie auch von mir endgültig Besitz ergriffen hatten.“

„Wie meinst du denn das?“, sagte ich und war unter meinem Plastiksack mittlerweile den Tränen nah. Nicht Tommys Interpretation, aber seine Geschichte berührte mich tief.

„Sie saugten mich aus. Nach all den Jahren der schleichenden Vorbereitung griffen sie nun zu. Das war mir bewusst, aber es war zu spät. Ich konnte mich nicht mehr wehren. Da war kein Aufbruch mehr. Keine Indianerpartei. Kein Wunsch nach Philosophie und Schmetterlingen. Weißt du, ich hatte eigentlich immer Hoffnung gespürt. Ja, die Hoffnung, sie war wirklich ... doch ... ich wurde ... wie sie.“

„Was lässt dich das denn glauben?“, fragte ich leise und fühlte tiefes Mitleid.

„Als ich zuhause war, trank ich eine halbe Flasche Schnaps. Dann schrieb ich meinem Sohn einen Brief, von dem ich bis heute nicht einmal weiß, ob er ihn je gelesen hat, denn alles was ich noch erfuhr, naja, er war in diesem besetzten Haus, als er ...“

„Als er was?“

„Als er starb. Einer seiner Freunde schrieb mir einen Brief und informierte mich. Er hatte meinen Brief gefunden und mir geantwortet, weil ja meine Adresse draufstand.“

„Er ist ... gestorben?“, fragte ich völlig erschüttert nach.

„Ja. Er starb an einer Überdosis. Sein Freund schrieb mir, dass kurz nach meinem Besuch auf dem Amt seine Unterstützung eingefroren worden war und er sich wochenlang nichts mehr zu essen kaufen konnte. Sein letztes Geld hat er genommen, um sich Stoff zu kaufen, billigen, gestreckten Stoff. Und ich bete und hoffe seither, dass er meinen Brief nicht mehr gelesen hat. Aber wahrscheinlich hat ihn der furchtbare Brief ebenso getötet wie die Kälte dieser grausamen Welt, in der keine echten Menschen mehr leben.“

„Was stand in dem Brief?“

„Oh Gott. Ich war so ... ich war so außer mir ... ich war wie von Sinnen ... so ohnmächtig. Ich schrieb ihm, dass er an allem schuld sei, was unserer Familie passiert ist, dass nur seine verdammte Drogensucht uns alle in diese Situation gebracht habe. Ich fragte ihn, ob er nichts Besseres zu tun habe, als mich mit seiner beschissenen Lebensunfähigkeit zu demütigen, mich zu quälen. Ich schrieb ihm, dass er auch schuld sei am Ende der Ehe seiner Eltern. Und ich beendete den Brief mit der Aussage, dass er von nun an nicht mehr mein Sohn ist.“

Ich schluckte.

Tommy fuhr mit tränenerstickter Stimme fort. Die Wolke über seinem Kopf war nun pechschwarz. „Und, mein Gott, Richard, dieser Brief hatte doch nichts mit mir zu tun, er hatte nichts mit dem Menschen zu tun, der ich einst war. Ich liebte ihn doch. Ich liebte ihn so sehr. Er war mein Sohn. Das war alles nur passiert, weil ich so schrecklich verzweifelt war wegen dieses Aliens. Das waren sie. Sie stecken uns alle an. Die Welt mit ihrer brutalen Stumpfheit, diesen geschlossenen Augen im Angesicht der Grausamkeiten unserer eigenen Seelen, das ist nicht zu glauben, es ist unerträglich, es ist absurd. Keiner von uns hat doch genug sadistische Bösartigkeit in sich, um sich so zu benehmen, wie dieser entseelte, ausgesaugte Mann im Amt ...wie ich ...“

Tommy sprach nun leise, fast unhörbar.

„Das ist nicht menschlich. Niemand bei seelischer Gesundheit erfindet diese höllischen Gesetze, die den Einzelnen nur erniedrigen wollen, die alle zerstören, die sich doch nur nach etwas Würde... nach Halt und Mitmenschlichkeit sehnen ... kein Mensch hat genug Bösartigkeit in sich, einen solchen Brief an seinen eigenen, so sehr im Leid versunkenen Sohn zu schreiben ...“

Tommy Strenzel schenkte noch mehr Kaffee in seine überlaufende Tasse und begann leise zu weinen. Ich saß da und schwieg. Und kämpfte mit meinen eigenen Tränen. Mir gegenüber saß ein erwachsener Mann. Er schluchzte und saß nun ganz zusammengesunken da, weinte in seine auf dem Tisch verschränkten, schlecht tätowierten Arme.

Ich stand nicht auf, um Tommy Strenzel zu umarmen, obwohl alles in mir mich drängte, es zu tun.

Stattdessen stand ich auf und streichelte nur flüchtig über seinen Kopf.

„Es tut mir leid“, sagte ich unbeholfen, bevor ich Richtung Tür und Ausgang floh.

Er sagte nichts. Er weinte nur.

Ich ging. Nahm Tempo auf, als ich die Treppen hinab und zurück durch den schönen Hinterhof Richtung Straße hetzte.

Die Plastiktüte hatte nichts genützt. Ich war ebenfalls infiziert. Und ich war immer noch ein Feigling. Draußen auf der Straße sah ich ein Wahlplakat. Ein Bild unseres Finanzministers war darauf zu sehen. Und ein Wahlspruch.

Das wirtschaftliche Wachstum unserer Gesellschaft ist alternativlos, war da zu lesen.

Und in diesem Moment sah ich die Aliens hinter den photogeshoppten Augen des Mannes auf dem Plakat.

Ich begann zu laufen. Nicht äußerlich. Innerlich. Ich lief schnell. Ich lief im Kreis.

Die Geschichte von Tommy Strenzel hatte mich erschüttert, zu sehr ähnelte sie meiner eigenen.

Er war nicht verrückt.

Er war tödlich verletzt.

Ruhe in Frieden, Huckleberry Finn.


Redaktionelle Anmerkung: Das Buch ist derzeit leider ausverkauft und der Autor auf der Suche nach einem neuen Verlag dafür. Als E-Book ist es auf jensboettcher.net erhältlich.

Von Jens Böttcher sind seither zwei weitere Bücher erschienen: „Der Tag, an dem Gott nicht mehr Gott heißen wollte“ und „Das Leben ist sinnlos, wenn du nicht liebst“.


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