Ich habe neulich jemanden sagen gehört: „Ein Kriegsverbrechen rechtfertigt nicht das nächste.“ Als Verfechter des Friedens hatte ich zunächst den Reflex, der Aussage zuzustimmen, aber etwas ließ mich innehalten. Es ist zunächst eine grammatikalische Ungereimtheit, aber das ist nicht alles.
Menschen sind die einzigen Wesen auf der Erde, die dazu fähig sind, etwas zu rechtfertigen.
„Kriegsverbrechen“ können diese Handlung nicht ausführen. Die obige Aussage soll in etwa ausdrücken: „Es ist nicht legitim, ein Kriegsverbrechen mit einem anderen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen.“ Und was heißt hier „legitim“? Es ist ein Platzhalter für gerechtfertigt. Es ist nicht gerechtfertigt, ein Kriegsverbrechen mit einem anderen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen. Wir befinden uns am Rand einer endlosen Regression, die davon handelt, den subjektiven Akt des Rechtfertigens in ein objektives Gut zu verwandeln — als könne man alle Handlungen durch ein moralisches Sieb filtern und es dabei in zwei Kategorien aufteilen: die falschen und die richtigen.
So gesehen ist die Aussage vom Beginn dezidiert falsch. Menschen nutzen tatsächlich das eine Kriegsverbrechen, um ein anderes zu rechtfertigen. Alle Kriege und fast jede Gewalttat — mit Ausnahme von Affekthandlungen, die wir typischerweise im Nachhinein rechtfertigen — beginnen mit einer Rechtfertigung. Die Gräueltaten der Anderen sind hochpotenter Treibstoff für die Rechtfertigungsmaschinerie.
Im objektiven Sinn eines ethischen Prinzips können wir darüber diskutieren, ob dieser oder jener Krieg gerechtfertigt war. Aber im Rahmen der rhetorischen Handlung des Rechtfertigens, die wir Menschen vollziehen, sind alle Kriege gerechtfertigt. Jemand rechtfertigt sie.
Deswegen müssen wir aus der Diskussion darüber, was gerechtfertigt ist, aussteigen, wenn es im Heiligen Land je Frieden geben sollte. Das habe ich in meinen Essays der vergangenen Wochen immer wieder betont.
Was ist Rechtfertigen überhaupt? Buchstäblich bedeutet es, eine Handlung zu einer „richtigen“ oder „rechtmäßigen“ Handlung zu machen. Wir nehmen etwas, das aus Eigeninteresse oder ohne Nachdenken getan wurde, und machen daraus etwas „Richtiges“. Es ist so viel einfacher, den Widerstand im Herzen zu übergehen und anderen Leid zuzufügen, wenn uns eine Geschichte darin bekräftigt, dass es „rechtens“ ist.
Beide Seiten im Gaza-Konflikt wähnen sich im Recht. Sowohl die Hamas als auch die israelische Regierung rechtfertigen Bluttaten. So war es schon immer und so sei es bis in Ewigkeit. Um dem ein Ende zu setzen, müssen wir uns auf etwas außerhalb des Bereiches dessen, was gerechtfertigt ist, berufen. Auf etwas jenseits von Recht und Unrecht.
Wenn du mich zwingst, mich im Bereich von Recht und Unrecht zu bewegen, dann würde ich sagen: Ja, es ist unrecht, 4500 Kinder durch einen Bombenanschlag zu töten. Es ist unrecht, unschuldige Festivalbesucher und die Kinder eines Kibbuz zu kidnappen und zu töten. Ich will keine Gleichwertigkeit zwischen diesen beiden Seiten signalisieren. Ich verstehe die asymmetrischen Dynamiken zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem gut. Unter Zwang könnte ich sagen, welche Seite meiner Ansicht nach mehr im Unrecht ist, und welche mehr im Recht. Es ist mir sehr gut möglich, die Logik beider Seiten nachzuvollziehen und ein Urteil zu fällen, das der einen oder der anderen mehr Gültigkeit zubilligt. Aber ich habe es satt — wie viele von euch auch — aufgefordert zu werden, mein Zelt in dem einen oder anderen Lager aufzuschlagen.
Ich weigere mich, das zu tun. Und zwar nicht, weil ich — im Schutze der Umstände und meiner Privilegien — den Luxus genieße, nicht Partei ergreifen zu müssen. Ich weigere mich, weil ich ein Ende der Gewalt sehen möchte. Und das bedeutet, dass alle damit aufhören müssen, das zu tun, was sie für gerechtfertigt halten.
Ich wiederhole: Damit Frieden einkehren kann, müssen alle damit aufhören, das zu tun, was sie für gerechtfertigt halten.
Wenn ich auf einer Seite stehe, dann ist es die Seite des Friedens.
Ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin. Es gibt tatsächlich viele Menschen, die keine schützenden Umstände und Privilegien genießen und etwas ganz Ähnliches sagen. Ich habe bereits das Video „Ich will keine Rache in meinem Namen“ von Michal Helav geteilt. Ihr einziger Sohn wurde von Hamas getötet. Es gibt viele andere Beispiele. Hier zähle ich einige davon auf, die im Bericht „Hör auf die Überlebenden Israels: Sie wollen keine Rache“ veröffentlicht wurden:
- In der Trauerrede für ihren Bruder Hayim, einem Aktivisten gegen die israelische Besetzung, der im Kibbutz Holit ermordet wurde, ruft Noi Katsmann ihren Staat dazu auf, „unsere Toten und unseren Schmerz nicht dazu zu verwenden, anderen Menschen oder anderen Familien Tod und Schmerz zu bescheren. Wir fordern, dass wir den Kreislauf des Schmerzes beenden, und wir verstehen, dass der einzige Weg [nach vorne] über Freiheit und gleiche Rechte für alle führt. Frieden, Brüderlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.
- Auch Ziv Stahl, Direktorin der Menschenrechtsorganisation Yesh Din und Überlebende des Höllenfeuers in Kfar Aza, übt starke Kritik an Israels Überfall auf Gaza, wie sie in Haaretz schreibt: „Ich habe keinen Bedarf an Rache. Nichts wird die, die von uns gegangen sind, wieder zurückbringen.“ Und: „Willkürliche Bombenangriffe auf Gaza und das Töten von Zivilisten, die an diesen schrecklichen Verbrechen nicht beteiligt waren, sind keine Lösung.“
- Yotan Kipnis sagte in der Trauerrede für seinen Vater, der beim Hamas-Angriff ermordet wurde: „Schreib den Namen meines Vaters nicht auf eine Granate. Er hätte das nicht gewollt. Sag nicht: ‚Gott wird sein Blut rächen.‘ Sag: ‚Möge seine Erinnerung für einen Segen gut sein.‘“
- Maoz Inon, deren Eltern am 7. Oktober ermordet wurden, schrieb in Al Jazeera: „Meine Eltern waren Menschen des Friedens … Rache wird meine Eltern nicht wieder ins Leben zurückholen. Sie wird keine anderen Israelis oder Palästinenser, die getötet wurden, zurückholen. Sie wird das Gegenteil tun. … Wir müssen den Kreislauf durchbrechen.“
- Als Yonatan Ziegen, der Sohn von Vivian Silver, von Journalisten gefragt wurde, was seine Mutter, die als gekidnappt gilt, über das denken würde, was Israel gerade in Gaza tut, sagte er: „Es wäre eine tiefe Kränkung für sie. Denn du kannst tote Babys nicht mit mehr toten Babys heilen. Wir brauchen Frieden. Dafür hat sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet. … Schmerz ist Schmerz.“
Ich bewundere den Mut dieser Menschen. Es ist nicht leicht, dem Rufen des blutrünstigen Mobs zu widersprechen — auch des blutrünstigen Mobs in einem selbst, der dem Kummer für einen Moment entfliehen mag, indem er ihn in Hass verwandelt. Vor ein paar Wochen war ich in Kontakt mit einer Gruppe, die aus israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten bestand. „Wenn du etwas dagegen sagst, machen sie dich fertig“, sagte einer. Sie fürchteten sich davor, etwas in der Öffentlichkeit zu sagen, zu protestieren, und dachten über Möglichkeiten nach, wie sie mit indirekteren Aktionen Friedensarbeit machen könnten.
In Kriegs- und Krisenzeiten ziehen jene, die Frieden propagieren, sogar mehr Hass auf sich als die Gegner. Der Gegner ermöglicht durch seine Existenz das Drama, das die parteiische Rolle und Identität (und, im Falle eines Staates, seine Agenda der Unterdrückung und Eroberung) bestätigt. Je abscheulicher die Taten des Gegners, desto besser. Die Stimmen für den Frieden gefährden hingegen das Drama, seine Rollen und die Rechtfertigungsstrategien.
Der palästinensische Friedensaktivist Aziz Abu Sarah beschreibt, wie es sich anfühlt:
Es ist klarerweise eine sehr harte Zeit für Friedensaktivisten — viel härter als sich zu entscheiden, um welche Seite man sich mehr kümmern will. Wenn du pro-Palästina bist, dann sympathisierst du mit der palästinensischen Sache. Wenn du pro-Israel bist, sypathisierst du mit der israelischen Sache. Und wenn du ein Friedensaktivist bist, dann hast du Freunde auf beiden Seiten. Dein Schmerz wird also vervielfacht. Denn wenn ich mit meinen Freunden und meiner Familie im Westjordanland, in Jerusalem spreche — sie leben in kompletter Angst. Ich spreche mit meinen Freunden in Gaza, die flüchten und verängstigt sind. Ich spreche mit meinen Freunden in Israel, die den größten Albtraum ihres Lebens durchleben. Ich fühle mit meinen Freunden mit, die Familienmitglieder vermissen. Sie versuchen sie zu finden, höchstwahrscheinlich sind sie als Geiseln in Gaza. Ich habe Freunde, die Familienmitglieder verloren haben.
Du versuchst also, den Schmerz von beiden Seiten, von den Israelis und von den Palästinensern, aufzunehmen und damit zu leben. Und beide Perspektiven zu verstehen. Zu verstehen, wenn deine israelischen Freunde wütend sind. Sie können nicht fassen, wie du gerade über Gaza reden kannst, denn sie denken: „Was ist mit meinem Schmerz?“ Und meine Freunde in Gaza denken, dass ich ein Verräter bin, weil ich mit dem Schmerz der Israelis mitfühlen kann, mit den Menschen die in Israel ihr Leben verloren haben. Es ist sehr schwierig. Aber ich glaube auch, dass wir genau das jetzt brauchen. Jetzt ist die Zeit, aufzustehen und eine Alternative aufzuzeigen: Hass ist nicht der einzige Weg.
Das ist nicht jemand, der nur deshalb über Frieden spricht, weil er sich der Ungerechtigkeiten nicht bewusst ist, die den Palästinenser auferlegt wurden. Ebenso wenig haben die oben zitierten Israelis nur deshalb Frieden gefordert, weil sie von der Gewalt der Hamas unberührt geblieben waren.
Hass ist nicht der einzige Weg.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „War is Always Justified“ auf dem Blog von Charles Eisenstein. Er wurde von Christoph Peterseil übersetzt, von Ingrid Suprayan und Vanessa Groß korrekturgelesen und auf dem deutschen Ableger des Blogs unter dem Titel „Krieg ist immer gerechtfertigt“ zweitveröffentlicht.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.