In einem Krankenhaus entdeckte Dirk C. Fleck seine Liebe zu den Menschen wieder. Er beobachtete, wie das Personal — in blauen Kitteln — sich liebevoll, ausführlich und fast zärtlich um jeden einzelnen der Patienten kümmerte, während er, gefangen in seinem eigenen Schmerz und umgeben vom Leiden der anderen, kaum Empathie empfinden konnte. Sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte halfen ihm und den anderen, ohne angesichts all dieses Leids mürrisch oder frustriert auf sie zu reagieren. Dies löste in ihm nicht nur Dankbarkeit aus, sondern vor allem auch absolute Hochachtung vor der Leistung, die diese „Blaukittel“ in unseren Krankenhäusern jeden Tag, jede Stunde erbringen.
Dann die Fragen: Was verdienen sie für diese wichtige Arbeit? Und wie viel Geld gibt unsere Regierung für Rüstung aus? Alles in unserem System scheint darauf angelegt zu sein, Empörung zu kultivieren. Warum stehen die Menschen nicht auf?
Wie viele Videos, Artikel und Gespräche gibt es darüber, dass wir etwas tun wollen oder sollten? Aber dennoch kommen wir nicht ins Handeln, jagen stattdessen im Alltag dem Geld hinterher, das uns Sicherheit und Glück verspricht — und doch sehen die Wohlhabenderen nicht erfüllter aus als die weniger Verdienenden.
Eine Putzfrau auf Kreta verkörpert diese Illusion von Glück und Geld für Jens Lehrich: Sie arbeitet hart für extrem wenig Lohn und wirkt dennoch glücklicher als wir. Woran liegt es, dass sie eine solche Zufriedenheit und solch ein Glück ausstrahlt? Das Streben nach Geld scheint es nicht zu sein, was uns Menschen glücklich macht — sondern das Zwischenmenschliche, die Anerkennung für unser Wirken und das Dankeschönsagen.
Viele haben Angst unterzugehen, wenn sie dieses Spiel der Leistungsgesellschaft, des Systems nicht mitspielen. Doch was bedeutet ein Leben jenseits des alltäglichen Hamsterrades wirklich?
Dirk C. Fleck beschreibt seinen Weg der Bewusstwerdung, der dazu führte, dass sich in ihm eine Art Urvertrauen einstellte.
Die Last, der Leistungsdruck, unter dem er jahrzehntelang gelitten hatte, fiel von ihm ab, als er es wagte, innezuhalten und seine eigenen Wege zu gehen. Seither begegnet er seinen Mitmenschen anders. Aber viele Menschen können oft nicht mit sich allein sein. Sie haben keine Beziehung mehr zu sich selbst.
Wieso hatte Dirk C. Fleck seine Fähigkeit, die Menschen zu lieben, verloren? Seine Antwort auf diese Frage wird vielen offensichtlich scheinen:
Wir Menschen richten unseren Planeten zugrunde: Plastikabfälle im Meer, Abholzung der Urwälder, Chemikalien in Flüssen, grausame Massenschlachtung von Tieren, Kriege gegen unsere eigenen Brüder und Schwestern … Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Wir alle kennen sie zur Genüge.
„Zeuge zu werden, was hier abläuft, tut weh, wenn du Empathie empfindest, Mitgefühl für andere Lebewesen.“
Vor dreißig Jahren drückte ein Mädchen, das im Regen vor einem Friedhof stand, Dirk C. Fleck einen Handzettel für eine Demo „Gegen Menschen“ in die Hand. Diese Szene hat ihn so berührt, dass er ihn bis heute aufbewahrt: Unter dem Aufruf zur Demo sind, in schwarz-weiß gezeichnet, ein durchgestrichener Mensch unter einer erblühenden Pflanze abgebildet:
Der Erde ginge es besser ohne uns, so eine weitverbreitete Meinung. Schließen sich diejenigen, die das sagen, selbst in diese Gattung mit ein? Ist es nicht absurd, unlogisch und gegen jedes Naturgesetz, dass ein Lebewesen die eigene Ausrottung befürwortet?
Dirk C. Fleck beschreibt sein Empfinden:
„Wenn du Mitglied einer Rasse bist, der Rasse Mensch, und du siehst, was sie als Gesamtheit auf diesem Planeten veranstalten, unbewusst meist, und du kannst nichts anderes als zu sagen, ‚ich gehöre ja dazu‘ … Also ich möchte den ökologischen Rucksack, den ich über die letzten sechzig Jahre angesammelt habe, nicht sehen.“
Jens Lehrich fragt nach:
„Was können wir tun, um da rauszukommen? Weil die Natur uns Menschen ja auch irgendwie gewollt hat, sonst wären wir ja nicht da. Also, uns mit dem Negativen beschäftigen, ist wichtig, um es uns bewusst zu machen. (…) Aber was muss in unserem Kollektivbewusstsein passieren, damit wir die Matrix quasi verändern?“
Dirk C. Fleck empfiehlt:
„Ich denke, es gibt nur einen Weg. (…) Man darf, egal, was man tut (…), nie einen kurzfristigen Erfolg erwarten. Dazu ist der Tsunami der Zerstörung einfach zu gewaltig, als dass wir uns als Einzelwesen erfolgreich dagegenstemmen könnten. Aber, was das System und seine Vertreter, was die seelenlose Bagage, die uns jeden Tag in die Fresse haut, nicht weiß, ist, was Leben ist. Sie wissen nicht, was das Leben ist. Und das ist unser Vorteil. Wir wissen es.“
Tun wir das wirklich? Was bedeutet Leben für uns? Wissen Menschen, die ihren Alltag in ebendiesem System abarbeiten wie eine Maschine, was Leben ist? Fühlen sie sich lebendig?
Diese Frage kann nur jeder Einzelne für sich beantworten. Stammt die Verachtung vieler Menschen für die Menschheit als Ganzes nicht aus dem eigenen Nichtfühlen, Nichtleben? Ist es nicht an der Zeit, dass wir einen Zusammenhang zwischen Umweltschutz und Menschenliebe herstellen? Zwischen mangelnder Liebe für uns als Individuum beziehungsweise als Spezies und der Zerstörung unseres Lebensraumes?
Für mich liegt die Zerstörungswut der menschlichen Rasse als Ganzes in ihrer Abgeschnittenheit von den eigenen Gefühlen begründet. Hans-Joachim Maaz beschreibt es in seinem Buch „Die Liebesfalle“ so:
„Die Kompensation der Frühstörungen der Menschen, die ihre ungestillte Bedürftigkeit im Konsum süchtig ausleben und ihre Strukturschwäche in einem bürokratischen System gebunden haben, bleibt ein anfälliger Ersatz, solange die individuellen Defizite und unvermeidbaren Begrenzungen nicht durch Trauer ihren Frieden finden können. (…) Dass Begrenzung so hartnäckig geleugnet, in der Scheinvorstellung unbegrenzter Möglichkeiten so grandios abgewehrt und am Ende kriegerisch bekämpft wird — gegen alle Vernunft und mögliche Einsicht —, das zeugt vom Einfluss unbewusster, irrationaler, seelischer Prozesse“ (1).
Wir Menschen sind äußerst komplexe und verletzliche Wesen mit genialen Schutzmechanismen, die uns für unser Überleben hart werden lassen. Denn jeder Einzelne von uns erlitt in seiner Kindheit durch seine eigenen Eltern und deren Abgeschnittenheit von ihren Gefühlen große Verletzungen. Ein Schmerz, der dazu führte, dass auch wir uns von unseren Gefühlen abschneiden mussten. Das ist vielleicht vereinfacht ausgedrückt und betrifft einige stärker als andere, doch ich beobachte es bei vielen Menschen in meinem Umfeld. Jeder von uns reagiert vielleicht anders darauf: Einige können ganz gut damit leben, indem sie verdrängen und sich permanent mit Arbeit, Unterhaltung und Konsum ablenken. Andere dagegen können das eher nicht und verfallen in Depressionen, Süchten, erliegen der Gier oder dem Machtstreben.
„Die Verhältnisse sind immer auch ein Ausdruck des Seelenlebens der Mehrheiten. Die Innenwelt ist verantwortlich für die Gestaltung der Außenwelt. Was innen nicht vorhanden ist, kann außen nicht entstehen. Aber was innen verborgen ist und dort nicht wahrgenommen wird, stellt sich im Außen dar. Wer keine Liebe erfahren hat, kann keine Beziehungen aushalten und gestalten, aber etwa Priester werden, der Liebe predigt, statt sie zu leben, oder Soldat, der den aus Lieblosigkeit entstandenen Hass mit Waffengewalt weitergibt. (…) Früh erlittene Gewalt lässt die ehemaligen Opfer zu Tätern werden oder zu bemüht Friedfertigen, die ihre Friedensbotschaft dann oft radikal oder militant durchsetzen wollen. Für alle späteren Verhaltensweisen lassen sich frühe Quellen finden“ (1).
Die Schlussfolgerung für die Menschheit als Spezies lautet also: In unserer „harten“ Version sind wir gefühllos und zerstörerisch, doch der Kern des Menschen — unsere natürliche Menschlichkeit — will und kann mit allen anderen Wesen im Einklang leben.
Sogar trotz der erlittenen Seelenwunden, die die meisten als Kinder zwangsläufig zugefügt bekommen, da kaum ein Mensch in diesem System die „perfekte“ Kindheit voller Liebe erleben kann, ist die große Mehrheit von uns — wie zum Beispiel das Krankenhauspersonal, das Dirk C. Fleck erlebte — der lebende Beweis dafür.
Das Gros von uns möchte nicht an der Zerstörung teilnehmen. Auch wenn wir als Teile dieses Systems eine gewisse Mitverantwortung tragen, liegt der Ausweg nicht darin, uns selbst zu verteufeln, sondern darin, den Schmerz und die Trauer über die in unserer Kindheit erfahrenen Verletzungen wieder zuzulassen und auszuleben, unsere harte Schale dadurch nach und nach zu durchbrechen, uns selbst als Individuum und Menschheit anzunehmen und durch das Zulassen der Trauer und der Schmerzen Frieden in unserem Inneren zu schaffen, der sich dann im Außen zeigen wird.
Wenn wir uns als Spezies lieben und voller Mitgefühl verstehen lernen wollen, warum „wir“ so handeln, uns als verletzliche Lebewesen erkennen, die wir als Teil der Natur sind, dann finden wir ganz natürlich zu einer Lebensweise zurück, die sich wieder in den Lebensraum Erde einbettet.
Dieser Prozess verlangt jedem Individuum sehr viel Mut und Geduld ab und wird für eine Wirkung auf die gesamte Menschheit wohl noch ewig dauern. Wie Dirk C. Fleck sagt, dürfen wir keine kurzfristigen Erfolge erwarten. Doch es ist ein Weg, den jeder von uns gehen kann. Und selbst wenn wir so nicht den Planeten oder die Menschheit retten sollten, macht es doch schon das Leben desjenigen, der sich dieser schmerzhaften und befreienden Erfahrung stellt, lebenswerter als ein gefühlloses, sinnentleertes Dasein zwischen Büro und Einkaufszentrum es vermag.
Als konkreten Einstieg empfehle ich das Videogespräch mit Jens Lehrich und Dirk C. Fleck sowie die anschließende Lektüre des Buches „Die Liebesfalle“ von Hans-Joachim Maaz.
Ich befinde mich selbst mitten in diesem Prozess, durchlebe Momente, in denen mein abgehärteter Schutzmechanismus, der sich oft hinter einem strahlenden Lächeln verbirgt, Risse bekommt und ich tiefe Traurigkeit und Schmerz, im Wechsel mit Erleichterung und sanfter Liebe für uns Menschen, sowie mich selbst in all unserer „Verletzlichkeit“ empfinde — die sich in dem Moment, in dem sie herausbricht, zunächst anfühlt wie „erbärmliche Mickrigkeit“. Das setzt wiederum großes Mitgefühl für uns als Spezies frei. Wir haben uns nicht ausgesucht, so zu sein, wie wir sind. Wir können uns aber aussuchen, was wir daraus machen.
Niemand kann dies für andere tun. Diesen Weg kann nur jeder Mensch allein für sich selbst gehen und erst dann, wenn er dazu bereit ist.
„Wenn wir uns mit dem Leben intensiv verbinden, in Liebe jedem gegenüber, nicht nur jedem Menschen gegenüber, sondern jedem Tier, jeder Pflanze, dann entsteht in uns selbst eine Energie und eine Kraft, die automatisch ausstrahlt auf andere. Und je mehr solcher Wesen heranwachsen, also Bewusstheit, desto größer ist die Wirkung auf andere, (…) und diese Cluster verbinden sich irgendwann miteinander und bilden ein Kollektivbewusstsein.“
Dabei stellt sich auch die Frage, wie wir es schaffen können, Brücken zu bauen zu jenen, die wir ablehnen. Vielleicht, indem wir lernen, uns selbst anzunehmen — und aufhören, Schuldige zu suchen oder uns selbst Schuldgefühle zu machen? Dirk C. Fleck beantwortet dies für sich so:
„Es ist total spannend, an welchem historischen Platz, wir uns gerade befinden. Wir können nichts ändern. Wir können uns bemühen, das tun wir, weil‘s einem persönlich gut tut im eigenen Leben. (…) Aber wir werden gleichzeitig Zeuge — und da sollten wir die Augen offenhalten — eines Umbruchs, wie es ihn in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat, mit der Möglichkeit, dass die Menschheit dabei draufgeht. Und zwar in den nächsten hundert Jahren. (…) Du kannst auch keine Schuld festmachen. Wen willst du denn dafür schuldig sprechen? Natürlich — menschengemachter Klimawandel … Aber von den 7,5 Milliarden, die wir heute sind, sind 7,49999 unschuldig (…), weil sie gezwungen waren, sich in einem System zurechtzufinden und zu überleben, das durch teuflische Gesetze gebaut wurde. Und hier jetzt anzusetzen und über Geheimlogen und so weiter zu spekulieren, da höre ich dann auch auf.“
„Nur der Blick nach innen kann die äußeren Kämpfe entspannen. Das wirksamste Mittel gegen den Krieg ist die heilsame Kapitulation vor den innerseelischen Feinden, die da heißen: Minderwertigkeit, Unsicherheit, Entfremdung und Angst“ (1).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Hans-Joachim Maaz, „Die Liebesfalle — Spielregeln für eine neue Beziehungskultur“, dtv Verlag, München 2018.
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