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Aufbrechen, um zu verbinden

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Eiko Goldbeck begibt sich immer wieder auf den Weg ins Unbekannte und findet dabei die Verbindungen wieder, die uns aus den gesellschaftlichen Krisen heraushelfen könnten.

Elisa Gratias: Lebst du in einer Parallelwelt?

Eiko Goldbeck: Das ist eine lustige Frage. Ich würde nicht sagen, dass ich einer Parallelwelt lebe.

Und wo lebst du?

Ich lebe in einer Gemeinschaft. In Tamera in Portugal. Es ist in der Tat ein spezieller Ort, und da lebe ich jetzt schon seit über zehn Jahren.

Manova-Redakteurin Elisa Gratias traf Eiko Goldbeck in Südportugal zum Gespräch über sein Engagement. Foto: Birger Bumb



Was hat dich an dieser Gemeinschaft so sehr angezogen, dass du mit 21 gesagt hast, da ziehe ich ein?

Mein bester Freund hatte mir damals viel von Tamera erzählt. So kam ich hierher und habe viele junge Menschen kennengelernt, die sehr aktiv an verschiedensten Themenbereichen wie Aktivismus, Friedensarbeit und alternativer Lebensgestaltung gearbeitet haben.

Als ich zurück in Deutschland war, spürte ich, was Tamera für ein kraftvoller Ort ist. Vor allem bei den Kindern, die in der Gemeinschaft aufwachsen, habe ich das gesehen. Nach etwa drei Jahren stellte ich fest, dass ich meinen Lebensmittelpunkt unbewusst hierher verlegt hatte. Es hat sich ganz natürlich ergeben. Ich hatte vorher nicht den Plan, auszuwandern oder irgendwas in diese Richtung zu machen.

Inzwischen bist du 34 und arbeitest hier mit den Jugendlichen.

Genau. Ich begleite, zusammen mit einem sehr engagierten Team, Teenager und junge Erwachsene durch alle möglichen Phasen in ihrem Leben. Das kann im Einzelkontakt sein, aber wir gestalten auch Räume für Gruppen. Wir machen hier Jugendcamps, in denen wir mit jungen Menschen eine tiefe Gemeinschaftserfahrung erlebbar machen, um zu zeigen, dass es neben dem gängigen Gesellschaftsmodell noch andere Möglichkeiten zur Lebensgestaltung gibt, basierend auf gegenseitigem Vertrauen und Kooperation. Dabei ergründen wir gemeinsame Fragen: Wofür wollen wir stehen im Leben? Was sind Werte, die wir gelebt sehen wollen?

Wir wollen einen Raum aufbauen, wo junge Menschen sich inspirieren können mit interessanten, ungewöhnlichen Denkansätzen. Für mich ist das eigene Erfahren dabei ein wichtiger Baustein, wo man das Miteinander genießt, wo man bemerkt, dass das Zusammenmachen sich viel schöner und sinnvoller anfühlt als ein Leben „allein gegen den Rest der Welt“.

Aufräumaktion am Strand während des Jugendcamps 2022. Foto: Eiko Goldbeck



Ihr macht mit den Jugendlichen auch Reisen in Krisengebiete.

Ja, diese nennen wir „politische Reisen“. Für mich war dieses Lernformat eine riesige Entdeckung. Ich bin 2016 zum ersten Mal mit einer Gruppe Jugendlicher nach Sao Paulo in Brasilien gereist. Wir haben dort eine Schule besucht. Wir wollten diese Schule kennenlernen und haben einen Schüleraustausch organisiert. Unsere Kids haben zwei Wochen mit den Kindern aus der Schule und deren Familien zusammengelebt.

War das eine Schule mit armen oder reichen Kindern?

Die Kids, die dort zur Schule gingen, hatten alle möglichen soziale und ökonomische Hintergründe. Es war sehr aufregend, unsere Kinder am Ende des ersten Schultages losziehen zu lassen und zu sagen, wir sehen uns morgen wieder.

Das war ein riesiges Vertrauen, das wir als Team von den Eltern mit auf den Weg bekommen haben, und schlussendlich waren wir etwa fünf Wochen in Sao Paulo. Wir haben dann noch ein befreundetes Projekt, das „Instituto Favela da Paz“, besucht. Dort haben wir zehn Tage gelebt und es war eine unglaublich bereichernde Zeit, die allen Beteiligten viel mitgegeben hat.

Es liegt in einer Favela, wo es vielschichtige Konflikte und in der Vergangenheit eine sehr hohe Gewaltbereitschaft gab. Das würde jetzt den Rahmen sprengen, das alles zu erklären, aber wir hatten dieses Projekt besucht, weil sie ihr Viertel sehr stark mit ihrem Engagement zum Positiven verändert haben.

Bei diesen Reisen besuchen wir Orte, wo nicht alles nur schön anzusehen ist, während unsere Jugendlichen dort auch Menschen kennenlernen, die einen sehr starken positiven sozialen Einfluss haben und die richtig was bewegen in ihren Gegenden.

Es geht uns darum, dass wir lernen hinzuschauen, uns nicht zu betäuben. Wir gehen mit den Jugendlichen an Orte, die man ihnen auch zumuten kann, weil sie sehen und erleben können, dass es Menschen gibt, die an einer Lösung arbeiten.

Diese Reisen mit den jungen Leuten in Krisengebiete haben euer Weltbild verändert, aber du bist noch einen Schritt weitergegangen und allein mit dem Fahrrad von der Schweiz nach Portugal gefahren. Warum hast du das gemacht?

Ich arbeite jetzt seit vielen Jahren mit jungen Menschen und habe einige solcher Reisen begleitet. Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Batterien aufgebraucht waren. Dazu kamen Schicksalsschläge.

2019 haben wir bei einer politischen Reise nach Standing Rock in den USA einen engagierten jungen Mann kennengelernt. Er war 18 zu der Zeit, und ein paar Jahre später habe ich erfahren, dass er gestorben ist, und bis heute ist uns nicht klar, wie er gestorben ist. Es war auf jeden Fall kein natürlicher Tod. Ungefähr zur gleichen Zeit ist auch aus Sao Paulo ein befreundeter junger Mann gestorben, weil er mit der Polizei in einen Schusswechsel kam.

Das war schwierig für mich, die Verluste mitzuerleben von jungen Menschen, die wir durch unsere Jugendarbeit kennengelernt haben. Mich hat das sehr getroffen und ich konnte es auf die Weise, wie ich bis dahin gelebt hatte, nicht verarbeiten.

Ich suchte nach einem Weg, mein Inneres aufzuräumen. So fuhr ich von einem Ort nahe meiner Heimat in Süddeutschland knapp 3.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch Frankreich, über Taizé, am Pilgerweg durch Spanien entlang und bis nach Portugal.

Eiko in den Pyrenäen, auf dem Weg zum ersten großen Pass. Foto: Eiko Goldbeck



Einerseits war das für mich ein Abenteuer, aber ich hatte auch eine echte Krise in meinem Inneren und habe gemerkt, dass ich irgendwie etwas brauchte, wo ich Zeit habe, das Innere zu verarbeiten. Kurz vor meiner Abreise hatte ich auch mit meiner Partnerin einige Themen, die ich durcharbeiten musste. Die habe ich dann auch alle mit im Rucksack gehabt. Auf der Reise war es oft nicht leicht, alleine unterm Sternenhimmel zu sein und all die inneren Vorgänge zu fühlen und zu durchleben.

Man stellt sich das oft romantisch vor, aber es gab richtig Momente, als ich zum Beispiel in den Pyrenäen war, wo ich innerlich am Tiefpunkt angekommen war, wo ich einfach nur noch traurig war und mich verloren gefühlt habe. In der Nacht ist dann auch noch ein riesiger Sturm aufgezogen. Ich musste vor dem Sturm, den vielen Blitzen und dem heftigen Wind und Regen im Dunkeln flüchten. Im nächsten Dorf fand ich dann ein wenig Schutz unter einem Dachvorsprung eines Rathauses und lag die ganze Nacht wach.

Du hast draußen übernachtet?

Im Zelt. Dadurch war ich den ganzen Naturgewalten immer wieder ausgesetzt. Es war im Oktober, wo der Regen normalerweise wiederkehrt. Doch überall war die Trockenheit zu spüren, selbst in der Schweiz, als ich losgefahren war.

Ich hatte gehofft, dass ich endlich wieder in den grünen Wald komme. Dachte, die Trockenheit beträfe nur Portugal. Aber dann musste ich sehen, dass es auch in der Schweiz und in Frankreich Wasserknappheit gab.

Ich fuhr auch durch ein Naturschutzgebiet in Portugal, von dem, kurz bevor ich abgereist bin, 20 Prozent abgebrannt waren.

Ausgetrockneter See auf dem Weg nach Lourdes. Foto: Eiko Goldbeck



Hattest du das Gefühl, dass die Landschaft auch dein Inneres widerspiegelt?

Ich muss noch mal zurückspulen. Zu dem Beispiel, als ich in den Pyrenäen unterwegs war, als ich dann aus diesem Gewitter rauskam. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und ich war innerlich richtig fertig. Ich dachte: Mensch, warum mache ich das hier alles? Und dann merkte ich, dass ich so fertig war, dass ich keine Kraft mehr hatte, eine bestimmte Schicht in mir aufrechtzuerhalten, die mich von meinen Gefühlen trennte. Unbewusst dachte ich immer, ich bin stark, ich habe mein Leben im Griff.

Jetzt kamen die ganzen Sachen raus, die sich über die Zeit aufgestaut hatten. Ich fuhr quer durch die Pyrenäen und musste an dem Tag auf den höchsten Pass meiner Tour fahren, habe mich mit Gegenwind da hoch geplagt. Mit meinem ganzen Gepäck. Auf dem Weg auf diesen Berg hoch habe ich viel geweint.

Auf einmal war die Schutzschicht nicht mehr da und ich konnte weinen, auch als Mann. Ich habe nicht gelernt zu weinen. Ich habe gelernt, stark zu sein, dass man die Tränen wegdrückt und das aushalten kann.

Diese Reise hat mich sehr gereinigt. Als ich abends im Sonnenuntergang oben ankam, war da plötzlich ein riesiger Regenbogen. Es war niemand dort und ich war von einer tiefen inneren Liebe ergriffen. Da spürte ich, das Leben hilft total mit, wenn man die Kontrolle mal abgibt, also die mentale Kontrolle. Viele Umstände, die ich als Hindernisse empfand, waren eigentlich dazu da, mir zu helfen.

Jetzt nochmal zurück zu dem Brand: Als ich dann dort war, spürte ich, dass ich auch die Traurigkeit über diesen Brand immer wieder wegdrückte. Das staut sich dann an. Wir trauen uns nicht, diese Gefühle zu zeigen, vielleicht aus Gewohnheit, oder weil wir den Zugang einfach im Alltag gar nicht haben, da wir uns nicht die Zeit nehmen, damit das überhaupt hochkommen kann.

Verbrannte Hügel in der Serra da Estrela, so weit das Auge reicht. Foto: Eiko Goldbeck



Ich finde das interessant, weil du ja mit Jugendlichen arbeitest und für sie wahrscheinlich schon lange solche Räume geöffnet hast, wo sie ihre Gefühle wahrnehmen und ausdrücken dürfen, aber dich hast du lange übersehen.

Das könnte man so sagen. Eine Frau hatte mir das auch gesagt und mir geraten, mir selbst die gleichen Fragen zu stellen wie die, die ich den Teenagern und jungen Erwachsenen stelle. So kam ich überhaupt dazu, diese Reise anzutreten.

Jetzt nochmal zum politischen Aspekt dieser Reise. Du hast überrascht gesehen, dass selbst in der Schweiz Wassermangel herrscht. Von Portugal kanntest du das Problem. Aber es war für dich schon schockierend, auch in der Schweiz und in Frankreich leere Seen zu sehen.

Ja, da gab es Wasserfälle, richtig schöne große Wasserfälle, doch es war kein Wasser mehr da. Ich stand davor und es war, als wäre ich auf dem Mond.

Bäume waren alle noch da, aber da floss einfach kein Wasser mehr, obwohl es schon Oktober war, die Zeit, wo der Regen wiederkam. Es hat mir wehgetan zu sehen, dass Europa so trocken war und die Auswirkungen vom Klimawandel so zu spüren sind.

Ich glaube, viele unterschätzen das, weil uns immer die ganze CO2-Debatte ablenkt. Dann neigen einige dazu zu sagen, dass es den Klimawandel gar nicht gibt. Du fährst raus und beobachtest es selbst. Dann brauchst du keine Nachrichten und dich zu fragen, wem du jetzt glauben sollst.

Man wünscht sich doch im Urlaub, irgendwo hinzukommen und das Leben einfach zu genießen. Portugal ist zum Beispiel ein Urlaubsland, wo Leute gerne hinkommen und sich das nicht nehmen lassen wollen, in den Urlaub zu fahren und endlich mal den Stress loszulassen. Aber ich merke selber, dass es immer offensichtlicher wird. Wir können nicht mehr wegschauen, denn die intakten Orte, die Oasen, wo wir auftanken können, werden immer weniger.

Mein Eindruck ist, dass irgendwie alle hoffen, dass irgendwer dann mal was macht, wie Regierungen, obwohl wir wissen, die machen das eh nicht. Das ist schon ein merkwürdiger Zustand. Die Länder, wo es am sichtbarsten ist, sind auch meist arme Länder, die weit weg von uns in Europa liegen. Und wo wir gerade von armen Ländern sprechen: Eines der ärmsten Länder Asiens, das wir oft ausblenden aus unserem Weltbild, ist Tadschikistan, dein nächstes Reiseziel. Was erhoffst du dir von dieser Reise?

Auch dieses Jahr habe ich mich gefragt, was ich während der Sommerpause mit der Jugendarbeit machen kann, um mich einerseits wieder aufzutanken, aber auch fortzubilden und weiter zu lernen. Ich erhielt eine Einladung, gemeinsam mit einer Gruppe den Pamir Highway mit dem Fahrrad entlangzufahren. Diese legendäre Straße startet in Afghanistan, geht durch Tadschikistan und endet schlussendlich in Kirgistan. Sie führt uns durch das Pamir Gebirge bis auf 4.600 Meter über dem Meer hinauf.

Das ist eine anstrengende und herausfordernde Route. Wir nutzen das, um Prinzipien von Gemeinschaftsbildung zu erleben und zu studieren und diese Herausforderung gemeinsam zu meistern. Wir kennen uns alle vorher nicht.

Der Pamir Highway. Foto: Joan Torres



Wie viele seid ihr?

Wir sind jetzt acht Leute aus Europa und aus Indien. Wir reisen nach Duschanbe, das ist die Hauptstadt von Tadschikistan, und von dort entlang des Pamir Highways. Wir können leider nicht nach Kirgistan fahren, weil dort vor zwei Monaten etwa ein Konflikt wieder ausgebrochen ist und dadurch die Grenzen geschlossen sind. Der ganze Pamir Highway ist etwa 1.300 Kilometer lang, aber wir haben keine sportlichen Ambitionen, eine bestimmte Distanz zurückzulegen, es geht vor allem um den gemeinschaftsbildenden Prozess.

Ich habe gelesen, dass — Stand 2017 — nur 22 Prozent der Bevölkerung in Tadschikistan das Internet nutzen und frage mich, wie die Menschen dort drauf sind, wenn die allergrößte Mehrheit kein Internet benutzt. Wirst du irgendwo über deine Erlebnisse berichten?

Ja, das habe ich bei meiner letzten Reise auch gemacht. Ich habe viele Menschen gehabt, die mich unterstützt haben, weil ich die Kosten für eine solche Reise alleine nicht stemmen kann. Das ist das Schöne an einer Gemeinschaft mit einem großen Netzwerk und Freunden, die mich unterstützen.

Wenn ich eine Reise unternehme, mache ich immer eine Art Crowdfunding, und allen, die mich unterstützen, möchte ich gern etwas zurückgeben. Dadurch entstand der Blog „dusty road stories“, um Menschen daran teilhaben zu lassen, an der inneren Reise und auch an der äußeren.

Im Prinzip nimmst du sie dadurch mit.

Ja, total.

In den Medien und in der Gesellschaft sprechen wir viel über globalen Wandel und Globalisierung. Aber oft vergessen wir dabei die Existenz und die Menschen vieler Länder, wie zum Beispiel all die Staaten in Zentralasien: Tadschikistan, Turkmenistan, Kasachstan … Wir haben überhaupt keine Ahnung davon, wie es dort aussieht, wie die Menschen dort leben. Deshalb finde ich es toll, wenn sich jemand auf den Weg macht, um sie kennenzulernen und Einblicke mit den Leuten aus dem eigenen Land zu teilen. Gerade als Radgruppe kommt ihr vielleicht eher mit den Menschen vor Ort ins Gespräch als Touristen, die mit dem Reisebus durchfahren.

Ja, meine Erfahrung bestätigt, dass man dadurch in Kontakt mit vielen Menschen kommt, wo man es nie erwartet hätte. Die Erfahrung machte ich schon auf meiner Reise durch Frankreich, wo Menschen mich unerwartet bei sich aufnahmen. Nun bin ich neugierig, was in Tadschikistan auf uns wartet. Wir werden im Pamir Gebirge unterwegs sein. Das ist ein sehr dünn besiedeltes Gebiet und da gibt es Dörfer, die noch sehr abgeschnitten von den ganzen Versorgungssystemen sind und autark leben.

Bei uns ist Nachhaltigkeit ja auch ein Trend, oder wird als solcher gesehen. Doch in Wirklichkeit ist diese Lebensart und das damit verbundene Wissen überlebenswichtig, wenn wir weiter auf dieser Erde leben wollen.

Es ist auch politisch relevant. Wir Westler sind abhängig von den Großkonzernen und Regierungen. Deshalb versuchen bestimmte Akteure ja ein autarkes Leben vieler Menschen zu unterbinden.

Ja, genau das ist interessant für mich, ein Dorf zu sehen, wo das immer noch umgesetzt wird. Ich bin total neugierig, wie es dort aussieht, auf die kulturellen Gepflogenheiten, wie sie Landwirtschaft betreiben, und vieles, vieles mehr.

Neugierde ist ein gutes Stichwort. Lust auf Begegnung ist das Heilmittel gegen Feindbilder und Vorurteile. Du bezeichnest deine Reisen auch als Pilgerreisen. Warum?

In vielen Kulturen ist das Pilgern ein Weg, den eigenen Glauben zu vertiefen, um Segen oder Vergebung zu bitten. Ich denke, es ist vor allem die Art, wie man da unterwegs ist: aufs Minimalste beschränkt. Man nimmt wirklich nur das mit, was man zum Leben braucht. Dabei geschieht ganz natürlich diese innere Reise. Es kommen Lebensfragen in einem hoch und man kommt wieder mit sich in Kontakt.

Die Mitbegründerin von Tamera, Sabine Lichtenfels, ist auch viel unterwegs gewesen, um Zeugin zu sein, was es für Konflikte auf der Welt gibt. Sie war in Israel und Palästina unterwegs, ist an dieser Mauer entlanggewandert, mit einer großen Gruppe von Menschen.

Sie versucht immer wieder, einen Raum aufzubauen, wo man nicht wertet, sondern einfach wahrnimmt, in was für einer Situation die Menschen leben.

Sowohl auf der einen Seite der Mauer als auch auf der anderen Seite der Mauer suchte sie das Gespräch und hörte vor allem zu. Das macht was mit Menschen, sowohl mit den Menschen, die Zeugen sind, aber auch mit den Personen, denen wertfrei zugehört wird.

Tamera-Mitbegründerin Sabine Lichtenfels begleitete die Jugendlichen am ersten Tag der Pilgerschaft an der Costa Vicentina. Foto: Gwendolin Staub



Ich habe vor Kurzem ihr Buch „Grace — Pilgerschaft für eine Zukunft ohne Krieg“ gelesen und erkannte darin, wie im Prinzip jeder von uns einen Beitrag zum Frieden leisten kann: Losgehen, Menschen zuhören, wahrnehmen statt (be-)werten. Gerade auch in Deutschland. Versuchen, genau diesen Menschen, die wir zunächst verurteilen, einmal zu begegnen und ihnen wirklich lange zuzuhören, ohne sie zu unterbrechen.

Klar, man kann auch in Deutschland pilgern gehen, dem Lauf des Wassers entlang am nächsten Bach, und herausfinden, wo der irgendwann ins Meer führt, und dann unterwegs auch zu schauen, okay, wie sieht es hier aus? Was ist die Lebensrealität der Menschen, Tiere, der Natur hier?

Es passiert etwas mit einem, wenn man nicht direkt zustimmt oder ablehnt, sondern wo man wirklich innerlich beobachten und die Dinge in Ruhe an einem vorbeiziehen lassen kann. Das hilft uns vielleicht auch, die Verbindung zur Welt zurückzugewinnen.

Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen nach dem Sinn suchen, der ihnen in unserer westlichen Konsumwelt abhandengekommen ist. Denen Arbeiten, Netflix und Shoppen nicht für ein erfülltes Leben reicht.

Bei dir ist das etwas anders. Du hast bereits einen Sinn gefunden und widmest im Prinzip schon dein ganzes Leben, deinen Alltag dieser Suche nach Möglichkeiten, wie wir die Zerstörung rückgängig machen können, oder nach Wegen in eine friedliche Kultur. Das führt, wie du vorhin kurz angeschnitten hattest, allerdings dazu, dass du für die Reise nicht einfach Flugtickets kaufen kannst. Du lebst in Gemeinschaft und hast kein normales Gehalt. Wie macht ihr das hier, und woher nimmst du das Geld für diese Reise?

Ich bin ja hier ein Teil dieser Gemeinschaft, und wir ermöglichen uns gegenseitig eine Art „bedingungsloses Grundeinkommen“. Ich sage es mal in Anführungszeichen, weil das Konzept selber ein bisschen anders ist. Ich habe hier alles, was ich brauche: einen Wohnplatz und Essen, die Grundbedürfnisse sind abgedeckt. Ich zahle keine Miete, wir kochen füreinander, und ich erhalte ein bisschen Taschengeld sozusagen für Kleinigkeiten, die man im Leben auch braucht, aber auch nicht mehr.

Wenn wir zum Beispiel Gruppenreisen mit den jungen Leuten machen, kommunizieren wir in unseren Netzwerken, was wir vorhaben, und machen ein Crowdfunding, bitten um Unterstützung und Hilfe von Menschen, die Lust haben, solche Initiativen zu unterstützen.

Dadurch habe ich schon viele wertvolle Erlebnisse gehabt und gemerkt: Wow, das macht das Ganze noch mal anders. Wenn ich jetzt „einfach“ — in Anführungszeichen, ich meine, einfach ist das ja auch nicht —, aber wenn ich mir das leisten könnte und problemlos bezahlen könnte, dann wüsste ich, okay, dafür habe ich bezahlt und fertig.

Für mich hat es eine große Bedeutung, dass viele Menschen mich oder uns unterstützen. Dadurch mache ich jeden Schritt mit viel mehr Bewusstsein, zum Beispiel, wenn ich den Flug auswähle. Alles hat dadurch Bedeutung, und in jedem Ding, was ich mir kaufe, für das ich auf dem Weg dann Geld ausgebe, schwingt halt immer die Liebe von vielen Menschen mit. Dadurch ist das Prinzip der Gemeinschaft schon in so ein Projekt eingebaut.

Es ist eine unglaubliche Erfahrung zu erleben, wie großzügig Menschen sind.

Ich kenne von mir selbst die Erfahrung, wie schön es sich anfühlt, zu schenken oder anderen zu helfen, wenn ich es mir leisten kann.

Ja. Früher bin ich viel per Anhalter durch Europa gereist und stellte immer wieder fest, dass es sehr oft Momente gab, wo Menschen glücklich sind, wenn sie etwas schenken können oder wenn sie helfen können.

Du hast gesagt, dass deine Grundbedürfnisse abgedeckt werden, und gleichzeitig lebt ihr sehr einfach. Mich beeindruckt, wie du schon als junger Mensch entschieden hast, auf den ganzen Wohlstand zu verzichten. Die meisten von euch wohnen hier in Campingwagen, auch im Winter, wo es in Südportugal sehr kalt ist, während es wie jetzt im Sommer extrem heiß ist. Ihr erhaltet hier das Nötigste, aber auch nicht mehr. Das ist ein Aspekt, der viele abhalten würde, überhaupt in eine Gemeinschaft zu gehen. Deshalb mein Einstieg mit der Frage zur Parallelwelt.

Ich komme aus einem Dorf, wo etwa 2.700 Menschen gelebt haben. Im Prinzip ist es nichts anderes, aber wir haben uns halt anders organisiert. Der Kapitalismus ist eine Organisationsform, und es gibt noch viele andere Organisationsformen. Aber das musste ich auch erst einmal feststellen, wie man Ressourcen anders untereinander aufteilen und anders leben kann.

Ich war damals sehr verblüfft und es war auch nicht nur einfach. Ich musste mich umgewöhnen. Zum Beispiel darauf vertrauen lernen, dass ich von meiner Gemeinschaft unterstützt und geliebt werde. Gerade, wenn die Idee oder der Wunsch in mir aufkommt, eine Reise zu machen.

Ich muss dann die Anderen fragen, ob sie mich unterstützen, und darauf vertrauen, dass sie wahrheitsgemäß sagen: „Ja, na klar, kann ich mir vorstellen und mache ich auch“, oder damit zurechtkommen, wenn sie sagen: „Du, ich weiß nicht, ich finde das ehrlich gesagt ein bisschen …“ Ich weiß nicht, was da kommen könnte. Es kostet Mut, sich dem auszusetzen.

Manche sagen dann vielleicht: „Warum soll ich dir deinen Urlaub bezahlen?“

Mit solchen Zweifeln habe ich innerlich zu tun gehabt, aber niemand hat so mit mir geredet. Doch ich musste mir die Frage stellen, warum sie mir Geld geben sollten. Deswegen sage ich Pilgerreise. Ich sage nicht: „Ich möchte in Tadschikistan Urlaub machen“, denn das ist nicht mein Anliegen.

Es ist dasselbe wie unser Angebot für junge Menschen über Ostern. Da haben wir eine Pilgerschaft organisiert, weil ich mir gewünscht habe, dass wir einen Rahmen schaffen, wo diese innere Arbeit passieren kann, wo junge Menschen auch gemeinsam auf diesen Weg nach innen kommen. Wir sind eine Woche an der Costa Vicentina entlanggepilgert.

Morgens bekamen alle eine Frage mit auf den Weg, über die man nachdenken konnte. Foto: Gwendolin Staub



Die Steilküste ist ein wunderschöner Ort, um zu Fuß erkundet zu werden. Foto: Gwendolin Staub



Am Ende des Tages gab es dann Runden mit einem Thema oder wir tauschten uns über die Ereignisse des Tages aus. Foto: Gwendolin Staub



Wir hatten zuvor ausgemacht, kein Alkohol und kein Handy. Plötzlich war dieser ganze Stress aus dem Alltag weg, diese ganzen Ablenkungen und Muster. Es entstand eine Verbundenheit. Es war schön, die Gesichter dieser jungen Menschen zu sehen und die Entspannung und Schönheit, die nach einer Woche reinkommt.

Da habe ich gemerkt, dass ich das verfolgen möchte, weil ich glaube, dass das mit eines der wichtigsten Dinge für unsere Zeit ist, dass wir wieder die Kraft und den Raum haben, uns mit uns selbst zu verbinden und zu spüren, was will ich?

Ich bin gespannt auf deine Berichte und Bilder aus Tadschikistan und danke dir für das Interview und dein Engagement.

Vielen Dank fürs Zuhören.


Quellen und Anmerkungen:

Weitere Informationen und Erfahrungsberichte zu Eikos Reisen und Projekten finden Sie auf seinem Blog: dustyroadstories.com.

Wenn Sie Eiko finanziell helfen möchten, diese Reise umzusetzen, finden Sie hier die Informationen.

Fast bereit für die Abreise am Donnerstag, 20. Juli 2023. Eiko und sein bepacktes Fahrrad in Tamera, Portugal, bei den Vorbereitungen auf die Tadschikistan-Pilgerreise. Mit dabei: der von Freunden und Unterstützern signierte Helm. Foto: Silvano Rizzi



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