Gemüt und Größenwahn
Es ist gut, in der Kulturgeschichte Deutschlands Orientierung für die Zukunft zu suchen — solange dabei nicht wieder die Schattenseiten des „Volkscharakters“ durchbrechen.
„Über alles in der Welt“ — diese Zeile aus Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied wird nicht mehr verwendet. Für die Größten haben sich Deutsche dennoch oft gehalten: Die größte Kulturnation. Der Exportweltmeister. Die Träger der größten Schuld. Die Avantgarde des ökologischen und gesellschaftlichen Fortschritts … Es ist zunächst nicht ungewöhnlich, wenn ein Land seine Stärken hervorhebt und dabei vielleicht sogar ein bisschen übertreibt. Das Besondere an Deutschland ist, dass diese Form der Selbsterhöhung einhergeht mit ihrem Gegenteil: tiefen Selbstzweifeln, ja Selbsterniedrigung. Diese kollektive Psyche irritiert, weil man kaum eine Eigenschaft „der Deutschen“ anführen kann, ohne dass in gewisser Weise auch das Gegenteil zuträfe. Einem ausgeprägten Untertanengeist stehen erstaunliche Durchbrüche von Freiheitsliebe gegenüber. Martialische Grobheit, ja Grausamkeit wird aufgewogen durch die Subtilität und Zärtlichkeit vieler Kunstschöpfungen. „Innerlichkeit“ und Expansionsdrang, Mystik und trockener Rationalismus prägten gleichermaßen „unser“ Erscheinungsbild. Kann man heutige Phänomene in Deutschland aus seiner Geschichte und Geistesgeschichte erklären? Das Nachdenken darüber lohnt jedenfalls. Eines scheint sicher: Wenn Genie und Idealismus in Deutschland zu Auslaufmodellen werden, während Duckmäusertum und Militarismus fortbestehen, kann keine gute Zukunft gestaltet werden.
„Ich glaube, das große Problem ist diese monomanische Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus“, beklagte sich der AfD-Politiker. Kein Wunder: Björn Höcke hat in jüngster Zeit mächtig Ärger bekommen wegen eines SA-Spruchs, von dessen dunkler Herkunft er gewusst haben könnte oder auch nicht. Bei „Weltwoche TV“ wagte sich der gut gelaunte Schweizer Roger Köppel an den anderswo Unberührbaren heran. Mein vorläufiger Eindruck von dem Gespräch: Höcke wirkt nicht so dämonisch, wie man angesichts seines Medien-Images annehmen könnte. Dennoch ist Vorsicht geboten, denn viele seiner Aussagen sind doppelbödig und verweisen dann doch wieder auf die dunklen Seiten des deutschen Patriotismus.
„Die meisten sind heute so ungebildet, dass 1933 ihr Geschichtsverständnis aufhört und alles, was davor ist, in Dunkelheit versinkt. Diese Geschichtsvergessenheit ist nicht nur trivial, sondern verhindert auch eine wirkliche Erlangung von Zukunft.“
So weit, so gut. Deutsche Geschichte begrenzt sich nicht auf die Jahre der Nazi-Diktatur. Da kann man mitgehen, auch wenn es trivial ist. Aber auf welche anderen Hervorbringungen des deutschen Geistes würde Höcke, der nach eigenen Aussagen das „Dritte Reich“ nicht so genau studiert hat, gern verweisen?
„Meine Lektüre waren die deutschen Idealisten. Ich habe Hegel gelesen, ich habe Fichte gelesen: ‚Reden an die deutsche Nation‘. Ich habe natürlich Ernst Moritz Arndt gelesen. Ich habe mich mit den Schriften des Turnvaters Jahn beschäftigt und so weiter. Das waren Patrioten, das waren Freiheitskämpfer, die es nicht ertragen konnten, dass ihr Vaterland von einem fremden Usurpator unterdrückt worden ist – damals Napoleon –, die sich versucht haben, aufzulehnen, die versucht haben, zu definieren: Was ist das Deutsche? Die diesem damals fragmentierten Volk eine Eigenständigkeit einhauchen wollten. In diesen Gedankenwelten war ich unterwegs. Das habe ich als Lektüre genossen.“
Beunruhigende Beschwichtigungsversuche
Mit diesen historischen Ausführungen wollte Björn Höcke seine Zuhörer offensichtlich beruhigen. Es habe in Deutschland lange vor den Nazis ganz andere, großartige Traditionen gegeben. Schaut man sich die Liste seiner literarischen Vorbilder jedoch genauer an, so kann man durchaus beunruhigt sein. Zumindest ist das Deutschland, das sich im Geist des ehemaligen Geschichtslehrers widerspiegelt, ein durchaus mehrdeutiges. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) hielt im Winter 1807/1808 seine „Reden an die Deutschen Nation“. Diese pflegten, wenn man dem bekannten Historiker Heinrich August Winkler (1) folgt, ein durchaus idealisiertes, ja zur Grandiosität aufgeblasenes Deutschlandbild. Fichte habe die Deutschen zum „Urvolk“ erhoben und das Deutsche zur „Ursprache“. Die Reformation sei die „letzte große und in gewisser Weise vollendete Welttat des deutschen Volkes“ gewesen. Fichte habe „Anspruch auf die geistige Weltherrschaft der Deutschen“ erhoben. „An die Stelle der kirchlichen Gemeinschaft trat die Gemeinschaft der Nation.“
Winkler analysiert nun eine Psychodynamik, die auch in den Ausführungen Björn Höckes angedeutet wird: „Fichtes Nationalismus war durch und durch kompensatorisch: Er sollte das nationale Minderwertigkeitsgefühl der Deutschen überwinden helfen, das aus dem Fehlen einer deutschen Staatlichkeit und der Demütigung durch Napoleon erwuchs.“ In seinem „Entwurf zu einer politischen Schrift“ (1813) behauptete Fichte, Preußen sei der „eigentlich deutsche Staat“, der für die Führung eines neuen deutschen Reiches prädestiniert sei. Dem preußischen König wies der Philosoph die Rolle eines „Zwingherrn zur Deutschheit“ zu.
Ähnlich idealisierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel den preußischen Staat als Verwirklichung des Weltgeists. So schrieb Insa Holst in der Zeitschrift GEO über Hegel:
„In den ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ feiert Hegel den Staat als höchste Form des menschlichen Zusammenlebens: Dessen Institutionen ließen die Interessen des Einzelnen in dem höheren Zweck der Allgemeinheit aufgehen. Der Staat ist für Hegel die ‚Verwirklichung der Freiheit‘. Und diese Freiheit, meint der Philosoph, werde am besten durch die konstitutionelle Monarchie gesichert.“
Hegel erwies sich damit — ohne das damals schon ahnen zu können – als Vorläufer des aktuellen Staatphilosophen Richard David Precht und zeigte jenen unbedingten Respekt vor Staatlichkeit, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei vielen widerspenstigen Bürgern vermisst.
„Des Deutschen Pflicht“
Nun aber zu einem weiteren Vorbild Björn Höckes, dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778 bis 1852), einem Pionier der Leibesertüchtigung in Deutschland. Bei Jahn wird exemplarisch deutlich, was Politiker der „Mitte“ wie Saskia Esken mit dem seltsam anmutenden Begriff „völkisches Denken“ meinen, den sie AfD-Politikern gern anlasten. Heinrich August Winkler (2) charakterisiert ihn wie folgt: „Mehr noch als Fichte schrieb Jahn den Deutschen einen Auftrag zur Welterlösung zu.“ Ein Originalzitat aus Friedrich Ludwig Jahns Buch „Deutsches Volkstum“ (1810) verdeutlicht dies: „Schwer zu erlernen, schwer noch auszuüben ist des Weltbeglückers heiliges Amt – aber es ist eine Wollust der Tugend, eine menschliche Göttlichkeit, die Erde als Heiland zu segnen.“ Ein ganzes Volk als Heiland? Deutsche Patrioten der napoleonischen Ära gingen durchaus so weit. Der Turnvater verstieg sich gar zu der so skurrilen wie erschreckenden Aussage „Hass alles Fremden ist des Deutschen Pflicht“.
Der Dritte im Bunde ist der ebenfalls von Björn Höcke gern gelesene Dichter Ernst Moritz Arndt. Bei ihm schlug die Liebe zum „Eigenen“ wie bei Jahn schon mal zum Hass auf das „Fremde“ um — eine Tendenz, die die weitere deutsche Geschichte in durchaus desaströser Weise beeinflussen sollte. So schrieb Arndt in seinem „Vaterlandslied“ (1812):
Lasst klingen, was nur klingen kann,
die Trommeln und die Flöten!
Wir wollen heute Mann für Mann
mit Blut das Eisen röten,
mit Henkerblut, Franzosenblut –
o süßer Tag der Rache!
Das klinget allen Deutschen gut,
das ist die große Sache.
1807 hatte Ernst Moritz Arndt (1769-1860) von der „Religion unserer Zeit“ gesprochen, die darin bestünde, „ein Volk zu sein, ein Gefühl zu haben für eine Sache, mit dem blutigen Schwerte der Rache zusammenzulaufen“. Auch Arndt sprach von „Welterlösung“ und appellierte an die Deutschen, „auf dem Altar des Vaterlandes dem schützenden Gott die fröhlichen Opfer zu bringen“. Während der Befreiungskriege predigte Arndt einen „blutigen Franzosenhass“.
„Wächter des Lichts“
Man kann aber der Atmosphäre im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts nicht gerecht werden, wenn man nur besonders krude Zitate anführt. Typisch für die auch von Thüringens AfD-Chef Björn Höcke favorisierte Epoche ist gerade die Verbindung einer gewissen Sakralisierung und Überhöhung des eigenen Vaterlands mit einer Freiheitsliebe, die auch auf uns Heutige noch inspirierend wirken kann. So bezeichnete Johann Georg August Wirth in seiner Rede beim Hambacher Fest (1832) Deutschland als „berufen von der Natur, um in Europa der Wächter des Lichts, der Freiheit und der völkerrechtlichen Ordnung zu sein“. Sehr hellsichtig brachte dessen Weggefährte Philipp Jakob Siebenpfeiffer beim selben Anlass seine Machtkritik zum Ausdruck: „Die Natur der Herrschenden ist Unterdrückung, der Völker Streben ist Freiheit.“
Damit scheint der Vordenker des Hambacher Fests die „Völker“ zwar etwas idealisiert darzustellen — charakteristisch ist vielfach ja eher deren beflissene Mitwirkung im Prozess ihrer eigenen Unterdrückung —, jedoch zeigen die Reden, wie in der deutschen Geschichte Freiheitsbestrebungen und deutsche Großmannssucht, ja religiös aufgeladene Erwähltheits-Fantasien oft eng miteinander verzahnt sind. Man fühlt sich mal inspiriert, mal schaut man mit dem „Nach-1945-Blick“ etwa erschrocken auf derartige Rhetorik. Wenn also ein AfD-Politiker zutreffend anmerkt, dass sich deutsche Geschichte nicht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 begrenzen lässt, dann hätte es bessere Beispiele für das „hellere Deutschland“ gegeben.
Das hellere Deutschland
So finde man in Gotthold Ephraim Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ schöne Aussagen zur Toleranz zwischen den Religionen im Sinne der Aufklärung. Freiheitsliebe und Menschenrechte kamen speziell in den Werken Friedrich Schillers wie „Don Carlos“ und „Wilhelm Tell“ zum Ausdruck. Ebenso finden wir in den Werken von Heinrich Heine, Georg Büchner, Thomas Mann und Heinrich Böll — um nur wenige zu nennen — Inspiration für heutige politische Auseinandersetzung und klare Statements gegen jede Art von Tyrannei. In einem Brief an seinen Freund Christian Gottfried Körner schrieb Friedrich Schiller, ein rein vaterländisches Interesse sei „nur für unreife Nationen wichtig (…). Es ist ein armselig kleines Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich“ (3). Oder, wie Schiller und Goethe es in den „Xenien“ (4) gemeinsam schrieben:
„Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es,
Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu
Menschen euch aus!“
Natürlich ist eine kosmopolitische, weltbürgerliche Einstellung, die sich weniger an Nationalität als an der Vervollkommnung des Individuums orientiert, nicht die einzig legitime. Auch Heimatliebe und die Fokussierung auf deutsche Identität kann man — ohne deswegen gleich in die Fußstapfen der Nazis zu steigen — pflegen. Wichtig ist nur, festzustellen, dass die Höckesche Frage „Was ist das Deutsche?“ nicht ausschließlich mit dem Verweis auf die gedanklichen Verirrungen eines Fichte, Arndt oder Jahn zu beantworten sind. Sinnangebote ganz anderer Art enthält die deutsche Geschichte und Geistesgeschichte zuhauf.
Deutschlands heiliger Auftrag
„Was ist das Deutsche?“ Man kann argumentieren, dass schon die Frage falsch gestellt sei, weil sie zu unzulässiger Verallgemeinerung ermutigt. Man kann aber in der Geschichte etwas zurückgehen und fragen: Was sind Kernthemen und typische Problemstellungen? Als Erstes ist da der Reichsmythos. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ knüpft an das doppelt mit historischer Bedeutung aufgeladenen Machtzentrum Rom an — die Hauptstadt des Imperium Romanum, wie später auch Schaltzentrale der Christenheit mit dem Papst als Zentralfigur. Dieses Rom mit „Deutschland“ zu assoziieren — diese Bezeichnung macht frühestens ab der Regentschaft Ottos I. (912 bis 970) Sinn – war eine kühne Konstruktion. Der aus Ägypten stammende islamkritische Autor Hamed Abdel-Samad versucht in seinem Buch „Aus Liebe zu Deutschland“ ein paar historische Grundtatsachen zu benennen.
„Der Mythos vom Heiligen Römischen Reich ging einher mit dem heiligen Auftrag, auch etwas Außergewöhnliches für die Welt zu tun. Das Reich sah sich in der Nachfolge des antiken Römischen Reiches und als Schutzmacht des Christentums, der Herrscher war Kaiser ‚von Gottes Gnaden‘. Mehr ging eigentlich nicht.“ (5)
Verbunden damit war einerseits die Idee, die verschiedenen Stämme Mitteleuropas zu einer größeren Einheit zu verbinden, andererseits die Ambition, mehr als nur ein Land neben anderen europäischen Ländern zu sein: „Primus inter pares“ (Erster unter Gleichen).
Nicht nur die Reichsideen Bismarcks und Hitlers nahmen auf diesen ambitionierten Gedanken Bezug; auch Deutschlands Stellung als Führungsmacht der Europäischen Union, die das Land nach der Wiedervereinigung vor allem unter Kohl, Schröder und Merkel innehatte, ja sogar der Anspruch der Grünen, aus Deutschland ein ökologisches Vorreiterland von Weltgeltung zu machen, erinnern an den „heiligen Auftrag, etwas Außergewöhnliches für die Welt zu tun“.
Abdel-Samad sieht darin eine überambitionierte Haltung, durch welche ein Scheitern des Projekts vorprogrammiert gewesen sei. „Dieses Scheitern wiederum legte die Saat für eine historische Kränkung, die Deutschland über die Zeiten hinweg zum Getriebenen eines größenwahnsinnigen Traums werden ließ.“
Einer dieser Rückschläge war sicher der furchtbare Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) dar, in dessen Verlauf sich nord- und westeuropäische Soldatenhorden in den deutschen Ländern austobten und der etwa einem Drittel der damaligen Bewohner des Reichs das Leben kostete. Weiter sind zu nennen die Auflösung des Deutschen Reiches 1806 unter napoleonischer Besetzung und natürlich die beiden, jeweils verlorenen Weltkriege. Großmannssucht und Scheitern ließen die deutsche Geschichte über lange Strecken wie eine Achterbahnfahrt erscheinen, was sich aber als fruchtbar für das geistige Leben des Landes erwies. Abdel-Samad:
„Die gescheiterte Flucht nach außen ließ die Deutschen auf der Suche nach Identität den Weg nach innen einschlagen – ein Muster, das sich wiederholte (…). Ein Ergebnis davon war die Romantik mit ihren zwei Seiten: der Kunst, der spekulativen Philosophie, der Musik und der Waldeinsamkeit auf der einen Seite und dem Nationalismus, dem Fremdenhass und der erneuten Hybris auf der anderen.“
Freiheit des Christenmenschen, Unfreiheit der Bürger
Mit der Reformation Martin Luthers (1483 bis 1546) wurden mindestens zwei Geistesströmungen vorbereitet, die sich später in Deutschland noch als zukunftsfähig erweisen sollten: der Hang zur „Innerlichkeit“ wie auch zum Untertanengeist bei den Deutschen. Mit der Reformation rückte Deutschland nochmals ins Zentrum des europäischen Geschehens, wobei sich politische und religiöse Entwicklungen vermengten und gegenseitig anstießen. Das Land wurde zur Keimzelle einer neuen Weltanschauung und zugleich zur Bruchstelle einer Teilung, die zwischen katholischen und evangelischen Gebieten, grob gesagt also zwischen Norden und Süden verlief. Auch 400 Jahre später, als die Mauer das ganze Land in einen westlichen und einen östlichen Teil zerrissen, war Deutschland bei den großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen ein Frontstaat, der arg strapaziert wurde, sich dies aber zum großen Teil selbst zuzuschreiben hatte.
In spiritueller Hinsicht zeigte sich, dass Luther mit seiner Theorie von der „Freiheit eines Christenmenschen“ den Schwerpunkt der Religion von der Ebene der Handlung auf die Ebene der Gesinnung verlagerte. Nicht mehr die Befolgung religiöser Vorschriften war entscheidend, sondern der Glaube an die Existenz und den göttlichen Auftrag dessen, der sie erlassen hatte. Dem Rechtgläubigen wurde göttliche Gnade zuteil. Das gerechte Handeln ging daraus automatisch hervor — so wie ein gesunder Baum nur gesunde Früchte hervorbringen konnte. Der „Kampfplatz“, auf dem sich religiöse Bewährung vollziehen konnte, wurde ganz nach innen, in die Seele und das Gewissen des Menschen verlagert.
Gleichzeitig erfolgte jedoch eine „Veräußerlichung“ insofern, als die Wahl der Religion von den jeweiligen weltlichen Machtkonstellationen abhängig gemacht wurde. Das Motto lautete: „Cuius regio, eius religio.“ (Ungefähre Bedeutung: „Wer ein Land beherrscht, kann auch über die Religion aller seiner Bewohner bestimmen.“) Heinrich August Winkler fasst die Wirkungen der Reformation so zusammen:
„Die deutsche Reformation war beides: Befreiung von kirchlichem, zunehmend als römische Fremdherrschaft empfundenem Zwang, und Begründung verinnerlichten, staatstragenden Zwangs. Sie bewirkte Emanzipation und Repression in einem.“ (6)
Geistig tiefschürfende Knechte
In der Folge wurde die Figur des geistig tiefschürfenden Knechts charakteristisch für den deutschen Volkscharakter. Franz Borkenau, ein von Hitler in die Emigration getriebener Intellektueller, spricht ein hartes Urteil über die Langzeitwirkung der Reformation:
„Die lutherische Haltung verfehlt den Kern des Politischen. Sie hat ihren Anteil daran, dass wir das Volk der politisch stets Versagenden wurden. Das Volk, das zwischen den in der Praxis gleich falschen Extremen weltferner gutmütiger Verinnerlichung und brutalstem Machttaumels hin- und hergeworfen wird.“ (7)
Thomas Mann sollte später in einer in Washington gehaltenen Rede unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa sagen, die Deutschen seien zum „Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung – eines Aufstands der Musik gegen die Literatur, der Mystik gegen die Klarheit“ geworden. Etwas freundlicher hätte der Autor des „Zauberberg“ das schon ausdrücken können. In guten deutschen Liedern und musikdramatischen Werken vermählen sich Literatur und Musik auf durchaus eindrucksvolle Weise. Aus dem „Volk der politisch stets Versagenden“ wurde eines, dem künstlerisch über mehrere Jahrhunderte alles zu gelingen schien. Als eines von vielen hier denkbaren Beispielen nenne ich „Verschwiegene Liebe“, ein Lied von Hugo Wolff nach einem Gedicht von Joseph von Eichendorff, hier gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau.
Hugo Wolf - Verschwiegene Liebe Fischer-Dieskau/Moore
Man findet hier eine in der deutschen Tradition häufige Mischung aus Natur- und Liebesromantik, ein schmerzliches Glücksempfinden mit einem durchscheinenden spirituellen Subtext, der auf Erlösung abzielt. Der politische Slogan eines bis heute populären Volkslieds von 1800, „Gedanken sind frei“, wird hier angeführt. Phantasie, Traum und Sehnsucht werden zu Fluchträumen aus einer als unzureichend empfundenen, auch gesellschaftlich geprägten Realität.
Kritisch könnte man dazu anmerken, dass sich die deutsche Mentalität auf den Grundsatz zurückführen ließ: „Die Gedanken sind frei — dann ist politische Freiheit gar nicht mehr unbedingt nötig.“
Stützen der Gesellschaft
Die Urkatastrophe des Dreißigjährigen Krieges, die ihrerseits eine Folge der Glaubensspaltung war, führte im Volk zu einer durch traumatische Erfahrung bedingten Sehnsucht nach Ordnung, was die Bereitschaft beinhaltete, sich der Macht unterzuordnen. Hamed Abdel-Samad analysiert: „Deutschland war selbst häufig weniger Motor von Umwälzungen als Stütze der jeweiligen Herrschaftsstruktur.“ Die gipfelte unter anderem im preußischen Militarismus, der den Militärhistoriker Georg Heinrich von Berenhorst (1733 bis 1814) zu der Behauptung inspirierte, die preußische Monarchie sei „nicht ein Land, das eine Armee hat, sondern eine Armee, die ein Land hat, in welchem sie gleichsam nur einquartiert steht“. Damit deuten sich die späteren Militarismus- und Gewaltexzesse des Wilhelminismus und des Nationalsozialismus bereits an.
Thomas Mann analysierte später in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), er sei überzeugt, „dass das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können“; vielmehr sei der „vielverschriene ‚Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volke angemessene Staatsform“. Dass dieser Dämon mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland schon ausgetrieben sein könnte, daran glauben wohl nach Corona und in der Ära der Innenministerin Nancy Faeser nur noch unverbesserliche Optimisten. Nach wie vor lieben zu viele Deutsche „ihre“ Demokratie nicht wirklich, auch wenn ihre Repräsentanten dies bei jeder Gelegenheit wenig glaubwürdig beschwören.
Im Luftreich des Traums
Im Nachgang des Dreißigjährigen Krieges jedenfalls kam es zu einer Vertiefung des Geisteslebens durch Auseinandersetzung mit der in der äußeren Realität zu beobachtenden Vergänglichkeit („Memento mori – sei dir des Todes bewusst“), wie man sie etwa in der Barocklyrik oder in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion beobachten kann. Der deutsche Geist nahm eine dunkle Färbung an, Tod und Schwermut waren neben lebensbejahenden Elementen stets präsent. Zugleich entwickelte sich im Barock ein Hang zum Monumentalen, zur Pracht und zur sinnlichen Überwältigung. Die deutsche Kultur begnügte sich nie damit, nur intelligente Romantic Comedys in der Art einer Jane Austen oder elegante Ohrwurmmelodien à la Guiseppe Verdi zu fabrizieren.
Deutsche wühlten sich stets zu den tiefsten Schichten eines Phänomens vor, erhöhten die Komplexität ihrer Kunstschöpfungen bis zur Schwerverständlichkeit, erbauten Klang- und Wort-Kathedralen, anstatt sich mit wohnlichen Häusern zufrieden zu geben, arbeiteten sich mit oft selbstquälerischem Eifer am Weltbewegenden ab: der Liebe und dem Tod, Gott und der Welt, Schuld und Erlösung.
Kleinstaaterei prägte den Kulturraum, den man vereinfachend als „Deutschland“ bezeichnen konnte, was ihn von Ländern wie England und Frankreich unterschied. Als geistige „Cloud“, weit oberhalb einer durch Grenzen und Konflikte zerrissenen materiellen Welt schwebend, kam der „deutsche Geist“ zu einer Hochblüte. Dabei dominierte klar ein irrationales Element. Im intellektuellen Diskurs waren deutsche Kulturschaffende gut; in der Musik als Ausdrucksform Klang gewordener Mystik waren sie überragend. Und auch deutsche Literatur war oft dort am beeindruckendsten, wo sie musikalisch war. Die Schaffung eines geistig-spirituellen Fluchtraum als Kompensation für fehlende Staatlichkeit — das erinnert interessanterweise an die Juden. Heinrich Heine charakterisierte die Geist-Nation Deutschland sehr schön in „Deutschland. Ein Wintermärchen“:
„Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten.
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft, unbestritten.
Hier üben wir Hegemonie,
Hier sind wir unzerstückelt;
Die anderen Völker haben sich
Auf platter Erde entwickelt.“
„Was deutsch und echt …“
Interessant daran ist, dass der Anspruch von „Hegemonie“ nicht grundsätzlich aufgegeben wird. Bei Heines Versen muss man sich meines Erachtens oft ein gewissen Augenzwinkern dazudenken. In seinem Musikdrama „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) entwickelte Richard Wagner ein ähnliches Konzept — projiziert auf ein mittelalterliches Setting, in welchem das Schicksal der Deutschen bis ins 19. Jahrhundert hinein visionär vorweggenommen wird. In seinem Schlussmonolog mahnt der Schuhmachermeister und Dichter Hans Sachs:
„Zerging in Dunst
das heil'ge röm'sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil'ge deutsche Kunst!
Wagner gibt im selben Monolog zugleich ein Beispiel für die bürgerlich-deutsche Angst vor Überfremdung; lange vor der Welle der Anglizismen in Nachkriegsdeutschland, den Herausforderungen der Globalisierung und der Flüchtlingskrise. „Wälscher Tand“ — also wertlose ausländische Kulturerzeugnisse —, so lässt er seinen Hans Sachs mahnen, könnten das Land überfluten. Die größte Gefahr: „Was deutsch und echt, wüsst‘ keiner mehr.“
Die deutsche Kunst — sie fungiert hier nicht nur als Kompensation für das verloren gegangene Reich, sondern definitiv auch als Religionsersatz. Heinrich Heine nannte den Pantheismus „die verborgene Religion Deutschlands“. Gemeint ist die religiöse Auffassung, dass Gott beziehungsweise das Göttliche überall (griechisch: pan), vor allem in der Natur, gegenwärtig seien. Rüdiger Sünner beschreibt, was man die „deutsche Religion“ nennen könnte, folgendermaßen: „Die Seele des Einzelnen wurde als Teil einer umfassenden ‚Weltseele‘ verstanden — und dieser Teil versuchte sich immer wieder mit dem größeren Ganzen zu verbinden.“ Deutsche Musik – vor allem die der Romantik und Spätromantik — brachte dann Verschmelzungssehnsucht wie auch Verschmelzungswonne zum Klingen, wobei irdische und göttliche Liebe im Klang ununterscheidbar miteinander verwoben waren. „Was deutsch und echt“, war ergreifend, überwältigend, konnte jedoch — wenn man es aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachtet — auch als antiaufklärerischer Mystizismus wahrgenommen werden.
Eine destruktive „politische Mystik“ konnte als äußerste Verfallsform entstehen — die Sehnsucht danach, zum Teil eines „Volkskörpers“ zu werden, innerhalb dessen der Einzelne, sich auflösend, verschwimmt, gesteuert von einem einzelnen starken Willen.
Hitlers vernünftelnde Erben
Da aber nun der „deutsche Geist“ dazu neigt, immer von einem Extrem ins andere zu kippen, blühen heute Materialismus und Wissenschaftsglauben. Die Weltherrschaft von „Zahlen und Figuren“, um es in den Worten des romantischen Dichters Novalis zu sagen. Eine Hochburg dieser stark verflachten und verwässerten späten Variante aufklärerischen Denkens ist auch die Linke. Deren anti-spiritueller Reflex mag mit einem Phänomen zusammenhängen, das Wolfgang Schmidt-Reinecke das „neudeutsche Irrationalitätstrauma“ nennt. Schmidt-Reinecke argumentiert, die Nazis hätten „für Generationen das spirituelle Klima in Deutschland vergiftet“.
„Die innerhalb einer tiefen Seelenschicht vorgenommene Verwechslung der nationalsozialistischen Ideologie mit spirituellen Idealen führte mit dem Untergang dieser Ideologie bei einer Mehrheit der Deutschen zwangsläufig auch zur Verdrängung spiritueller Orientierungen.“
Vereinfacht gesprochen besagt diese Theorie folgendes: Weil sich die Nazis in missbräuchlicher Weise spiritueller Gedanken und Symbole bedient haben, suchen wir unser Heil seither nur noch in staubtrockener wissenschaftlicher Rationalität. Christian Drosten fasziniert uns, nicht mehr Annette von Droste-Hülshoff.
Weil seit 1945 alles Pathetische, Irrationale und Mystische „pfui“ ist, haben wir gleichsam einen Teil unserer Seele amputiert und uns auf eine korrekte, aber im Grunde verarmte Existenzform reduziert: als Hitlers vernünftelnde Erben.
Wie so oft im Fall der Deutschen wäre es auch hier heilsam, einen Ausgleich zu finden. Vernunft, gepaart mit einem Sinn für Schönheit und ideeller Ausrichtung zu paaren.
Zurück zur Mitte!
Ältere deutsche Kultur und Philosophie eignet sich bestens als Gegengift gegen das heute alles durchdringende transhumanistische Menschenbild, das uns zu einem „hackable animal“ degradieren will, zu beliebig durchleuchtbaren und steuerbaren Puppen. Die Seele als Hohlraum, in den nach Belieben Herrschaftsnarrative eingefüllt werden können, weil dort nichts Tiefes und Eigentliches mehr zu finden ist. Abgeschnitten von jeder Verbindung zu einer „Weltseele“ — um es in der Sprache des deutschen Idealismus zu sagen — finden wir uns dann angeschlossen an einen alles vereinnahmenden Weltcomputer wieder, verdammt zum immerwährenden sinn- und freudlosen Datenaustausch nach den Regeln der globalen Programmierer. Diese Art der „Rationalität“ steht deutscher „Irrationalität“ hinsichtlich ihres Gefahrenpotenzials in nichts nach.
Deutsche Kulturgeschichte vermag heute wie eh und je zu faszinieren; unkritische Verehrung aller ihrer Facetten verbietet sich jedoch. Zu mehrdeutig, zu abgründig und zerrissen zeigt sie sich beim Durchgang durch die Jahrhunderte. Es ist gut, wenn sich aktive Politiker wie Björn Höcke mit der Frage „Was ist das Deutsche?“ befassen und dabei kulturelles Interesse erkennen lassen. Das unterscheidet den AfD-Vertreter immerhin von einigen Grünen, die einfach zu wenig wissen, um sich unter den Geistesgrößen der Vergangenheit — wie Höcke — die falschen Vorbilder zu suchen.
Aber die grundlegenden Gefahren, denen das heutige Deutschland ausgesetzt sind, beschränken sich nicht auf eine bestimmte Partei. Wenn wir nicht aufpassen, retten wir nur noch ein „Worst of“ des deutschen Geistes hinüber in die Zukunft, finden Nachfolger für den preußischen Militarismus, jedoch nicht für die Jenaer Romantik und die bayerische Räterepublik, verlieren uns auf kulturellem Gebiet, bleiben uns jedoch auf gespenstische Weise treu in Untertanenmentalität und Kriegsgeschrei, lassen uns selbst auf zusammenhängendem Staatsgebiet noch spalten, missdeuten den „heiligen Auftrag, etwas Außergewöhnliches für die Welt zu tun“ als Lizenz zur moralischen Missionierung der Welt und als Entschuldigung dafür, mit uns selbst außergewöhnlich schlecht umzugehen.
Deutschland liegt in der Mitte Europas. Es muss auch weltanschaulich zur Mitte zurück — was nicht gleichbedeutend ist mit einem Lindner-Liberalismus oder der den Geist einengenden Faeserschen „Unsere-Demokratie“-Rhetorik. Was die deutsche Seele heilen könnte, sind vor allem das Sich-Einpendeln der Extreme und das Realitätsprinzip. Deutschland so sehen, wie es ist — nicht wie man es sich wünscht und wie man es fürchtet. So genial wie manchmal dumpf, so brutal wie berückend zart auf seinen kulturellen Gipfeln, so giftig hassend wie überquellend liebevoll, so fehlbar wie erstaunlich widerstandsfähig.