Zwischen Wissen und Wahn
Verschwörungstheorien stellen bestehende Paradigmen infrage. Ab wann wird aus gesunder Skepsis aber Wahn? Und wie kann gesunder Aktionismus aussehen?
Kaum jemand würde behaupten, dass die Welt, wie wir sie medial vermittelt bekommen, ein Abbild einer alternativlosen Realität ist. Niemand würde ernsthaft leugnen, dass es korrupte Verbindungen zwischen Politik, Wissenschaft und Industrie gibt. Solch eine Haltung würde fast jeder als naiv bezeichnen. Das andere Ende des Spektrums ist aber schwerer zu greifen: Wie weit gehen die Machenschaften dieser Eliten? Wer sind sie, woher kommen sie? Und warum wird eine solche Haltung öffentlich diskreditiert? Schließlich: Ab wann verlässt eine Theorie den Rahmen gesunder Skepsis?
Verschwörungstheorien sind zunächst nichts Schlechtes. Es sind Hypothesen zur Wahrheitsfindung. Ohne Verschwörungstheorien gäbe es kaum Fortschritt. Christoph Kolumbus, Martin Luther und Isaac Newton waren in diesem Sinne Verschwörungstheoretiker, genauso wie Galileo Galilei oder Albert Einstein. Der Verschwörungstheoretiker hält ein bestehendes Paradigma für ein vorsätzlich installiertes oder aus Unwissenheit etabliertes Glaubenskonstrukt, welches infrage gestellt werden muss. Damit bahnt er neuen Erkenntnissen den Weg. Das geht nicht ohne Widerstände.
Verschwörungstheorien müssen also nicht bekämpft werden, denn mit der Zeit werden sie unweigerlich verifiziert oder falsifiziert werden. Es darf also stutzig machen, wenn ein Begriff zur Stigmatisierung, Pauschalisierung und zur bequemen Ausflucht aus der Diskussionsebene verwendet wird. Immerhin lehrt uns die Geschichte, dass Wahrheit schon immer von Autoritäten in ihrem Sinne modelliert wurde. Was „Propaganda“ in Systemen mit totalitären Strukturen ist, das ist vielleicht „Aufklärung“ in westlich-kapitalistischen Systemen. Beleuchten wir also zunächst die Sehnsucht hinter dem Wunsch nach Wahrheit.
„Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich ...“
Was wie die Einleitung zu einem Exkurs in Verschwörungstheorien beginnt, stammt jedoch von Edward Bernays, dem Erfinder der „Public Relations“ oder, wie er es nannte, „Propaganda“, und dem gleichnamigen Buch von 1928.
Die Welt soll verstehbar sein
Der Mensch lebte Jahrtausende in überschaubaren Welten. Die Welt um ihn herum war geordnet durch göttlichen Willen, in welchem der Mensch einen festen Platz hatte. Abläufe im Alltagsleben waren an den Abläufen der Natur orientiert, die Kultur des Menschen war eingebettet in diese zirkulären Abläufe.
Eine solche Welt hatte trotz alltäglich präsenter unkalkulierbarer Gefahren wie Naturkatastrophen, Unfällen oder Krankheiten eine große Stabilität. Die organisierte Religion begann zuerst, die Welt monokausal durch Dogmatisierung und Ausschluss erklärbar zu machen; insofern könnte man Religionen und Sekten als Verschwörungstheorien der Basis bezeichnen.
Diese Stabilität gibt es heute nicht mehr. Auch den zyklischen Charakter hat unsere Welt verloren; sie gleicht eher einer Linie, auf der sich das Leben beschleunigt, und es gilt, dieses Tempo mitzumachen, um nicht abgehängt zu werden. Gott wurde quasi abgeschafft und durch naturwissenschaftliche Weltdeutung ersetzt. Er existiert nur noch in der Welt des Individuums, im Privaten. Auch alles Mythische und Spirituelle, das Transpersonale und Übersinnliche hat keinen Platz im allgemeinen Konsens.
Der menschliche Geist ist heute — polemisch ausgedrückt — im Alleinbesitz der Welt.
Er hat sie sich „untertan gemacht“, indem er sie scheinbar lückenlos für erklärbar hält. Der Verstand „dringt dabei in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat“, um in Abwandlung der Star-Trek-Introduktion zu sprechen.
Mechanismen der Wirklichkeitserzeugung
Ist es überhaupt möglich, die Wirklichkeit auf diesem Wege zu erfassen? Ist der Verstand das einzig „scharfe“ Werkzeug zur Fortentwicklung? Welches Ziel verfolgt die Entwicklung, die heute so beschleunigt stattfindet? Hat die „Shuffeling Madness“ überhaupt ein Ziel, oder ist sie zum Selbstläufer geworden? Oder stehen wir einem inszenierten Theaterspiel gegenüber? Gibt es so etwas wie Geist, der jenseits der Physik in dieser Welt waltet? Sind wir frei, und ist das bestehende System ein gesundes, organisch gewachsenes Ergebnis gesellschaftlicher Notwendigkeiten?
Fragen, auf die der Einzelne eine Antwort finden muss, will er sich halbwegs ernsthaft positionieren. An dieser Ernsthaftigkeit, an der intellektuellen Redlichkeit fehlt es häufig, wenn es um die Erklärung unserer Welt geht. Wir können uns selbst aus dieser Gleichung nicht herausnehmen. Es sind meine eigene Offenheit und Toleranz, meine Neugier und Ehrlichkeit, meine Ängste und Komplexe, die meine Begrenzungen bilden.
Tatsache ist, dass die Welt unüberschaubar geworden ist. Diese Unüberschaubarkeit und Komplexität überfordert den Einzelnen, der in diese Welt wie „hineingeworfen“ ist, wie es der Philosoph Martin Heidegger ausdrückte. Er ist keineswegs frei, sich den Anforderungen zu verschließen; er muss, er soll eine Meinung haben, und zwar zu Themen, die ihn nur streifen oder gar nichts mit ihm zu tun haben, die er weder beeinflussen noch in Gänze erfassen kann. Er soll Stellung zur Welt beziehen, soll politisch korrekt sein, Demokratie fördern, ökologisch denken, nachhaltig handeln.
Die Vorstellung, die so alt ist wie der Mensch als Gattung, die Welt vollständig erklären zu können, kann als Größenwahn betrachtet werden.
Auch wenn diese Vorstellung heute oft relativiert wird, ist sie eine indirekte Überzeugung, insbesondere eine, die die Naturwissenschaften auszeichnet. Der Mensch sucht nach Wahrheit, das gehört zu seiner Natur. Wenn er sich frei fühlt und seine Kultur — und damit sein Weltbild — nicht bedroht ist, ist er dabei tolerant. Wird es „eng“, weil sein Weltbild im öffentlichen Diskurs attackiert wird oder Probleme quasi „in sein Wohnzimmer schwappen“ und er sich bedroht fühlt durch globale Probleme, beginnt er, nach Schuldigen zu suchen. Dabei übersieht er gerne, dass die Verstrickung der ineinander- und übergreifenden Kriterien einen Komplexitätsgrad erreicht haben, der von einer singulären Position aus nicht mehr überschaubar und damit verstehbar sein kann.
An diesem Punkt wird klar, dass Informationsverarbeitung nie neutral stattfindet, sondern immer an das eigene, favorisierte Weltbild anknüpft. „Fakten“ sind immer interpretierbare Messgrößen, die nie für sich alleine stehen. Es sind statische Punkte in einem dynamischen System.
So entstehen oppositionelle Lager, die nicht nur meinen, die „Fakten“ auf ihrer Seite zu haben, sondern eine Rhetorik der Spaltung, die sich jeweils „Fake News“ oder „Fake-Wissenschaftlichkeit“ vorwerfen und die sich mit Zitaten großer Denker schmücken (1). Blind für den Umstand, dass dieser Maßstab auch auf die eigene Überzeugung zutreffen könnte, wird die Welt vorweg in „wahr“ und „falsch“ aufgeteilt, die Moral und Integrität nur auf der eigenen Seite verortet.
Wirklichkeit als vorübergehender Wahn
Nun beginnt der Wahn, nicht mehr zielgerichtet Erklärungen zu generieren, sondern er zerstrahlt — bildlich gesprochen — radial in alle Richtungen. Der Einzelne erkennt seine Hilflosigkeit, seine Bedeutungslosigkeit in einem Kosmos, der ihm immer wieder zeigt, dass dieser nicht völlig erklärbar ist und sich nicht auf das Format des menschlichen Geistes reduzieren lässt. Doch er möchte seine gefühlt privilegierte Stellung nicht aufgeben. Er kann diese Kränkung nicht hinnehmen.
Wissen im reinen Sinne gibt es nur auf schmaler Ebene. Fakten erklären noch keine Vorgänge, Beobachtungen repräsentieren nur eine bestimmte Sichtweise. Der bekannte Psychologe und Verhaltensforscher Paul Watzlawick unterschied Wahrheiten erster und zweiter Ordnung. Wahrheiten erster Ordnung werden uns unmittelbar über unsere Sinne vermittelt — welche bereits Filter sind, aber das soll hier beiseitegelassen werden —, und Wahrheiten zweiter Ordnung bezeichnete er als Zuschreibungen gemäß unserer Wirklichkeitsinterpretation. Wir sprechen in der Regel von Wahrheiten „zweiter Ordnung“, wenn wir über die Welt reden. Diese können naturgemäß nur die Qualität haben, die den kognitiven, bildungstechnischen und moralisch- ideellen Eigenschaften unserer Gesellschaft entspricht. Diese Eigenschaften bilden die unsichtbare Grenze der Vorstellungskraft, sie sind die natürliche Barriere unserer mentalen Integrität.
Doch genau das kollidiert mit der inneren Sehnsucht nach Verlässlichkeit, nach Einer Wahrheit. Und bitte: Eine, die allen anderen überlegen ist! Je unsicherer der Mensch sich fühlt, umso radikaler fallen die neuen Modelle der Welterklärung aus. Dabei werden auch gerne etablierte Weltbilder radikal umgestoßen. Der Verstand hat nur noch ein Ziel: Die Bestätigung dieser Wahrheit.
In der Verschwörung liegen Wahrheit und Wahn eng beieinander, denn die bisher geglaubte Wahrheit wird — teilweise aus guten Gründen — bezweifelt. Die „neue Wahrheit“ speist sich aber aus zunächst kaum beweisbaren Hypothesen.
Der Verschwörer muss sich also ein Stück weit von der Wirklichkeit abkoppeln, um seine Vorstellung zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. An dieser Stelle besteht die Gefahr der verfrühten Dogmatisierung, die bereits ein Produkt des Wahns ist. Sicherlich gibt es zudem eine Reihe psychologischer Effekte, sogenannte kognitive Verzerrungen, die hier festzustellen sind. Oft erwähnt wird der Dunning-Kruger-Effekt, bei dem Menschen mit nicht ausreichender Kompetenz die eigenen Fähigkeiten überschätzen, die Fähigkeiten und das Wissen anderer dagegen unterschätzen. Bei der sogenannten Illusorische Korrelation werden Zusammenhänge erkannt, wo tatsächlich keine existieren, bei der Clustering-Illusion Muster erkannt, wo keine sind. Als Belief-Bias wird der Effekt bezeichnet, bei dem Schlussfolgerungen korrekt und schlüssig erscheinen, obwohl dazu die faktische Grundlage fehlt.
Der heimatlose Mensch
Doch das beschreibt noch nicht ausreichend die Tiefendimension des Phänomens. Dazu ist ein Blick auf einen größeren Zusammenhang nötig. Der Größenwahn des Menschen, der sich in der oben beschriebenen Dominanz seiner Verstandesebene ausdrückt, hat im Kern seine Ursache in dem Wunsch nach Sicherheit.
Die Unsicherheit der eigenen Existenz, die zum Leben gehört, soll eliminiert werden. Dabei kommt diese Unsicherheit nicht nur aus der Bedrohung durch globale Katastrophen oder andere kataklysmische Veränderungen, sondern hat eine Tiefendimension: Seit der Mensch in der modernen Welt nicht mehr im Mittelpunkt des Kosmos steht, und dieser Kosmos darüber hinaus als lebensfeindlicher, sinnleerer Ort der Zufälle wahrgenommen wird, sieht sich der Mensch auch nicht mehr als gezielt erschaffenes Wesen, von Gott gewollt und mit Sinn ausgestattet.
Diese Kränkung verursacht zweierlei: Zum einen steht der Mensch nun isoliert und verlassen im Kosmos da und muss sich scheinbar seine Existenzberechtigung selbst erschaffen. Zum anderen ist er niemand Höherem mehr zur Rechenschaft verpflichtet. Damit ist ihm alles erlaubt: Neben der Vernutzung und Ausbeutung seiner Heimatwelt kann er sich nun gedanklich völlig absprengen, loslösen vom Eingebettet-Sein in natürlich vorhandene Ordnungen.
Er steht zudem kaum mehr im Kontakt mit seiner Intuition, ganz zu schweigen vom Kontakt zu seiner inneren Führung. Er hat alles in Frage gestellt und betritt nun mental ein „freies Feld“. Der Größenwahn urteilt weiter, will weiter, will erkennen. Dabei hat der isolierte Verstand den Boden verlassen, der ihm Heimat war. Der lebens-leere, feindliche Kosmos, der ihn durch Zufall sozusagen „ausgeworfen“ hat, wird gefüllt mit Verstandesmaterial, und dadurch gleichermaßen begrenzt. Dieses Material repräsentiert nämlich nur Inhalte der verfügbaren Informationen, welche — wie festgestellt — meist auch bereits (vor-)interpretiert und gefiltert sind. Zudem können sie gar nicht in ihren wirklichen Bedeutungen und Zusammenhängen verstanden werden, weil sie den Horizont unserer Erkenntnisfähigkeit einfach überschreiten. Egal, wie „lang“ ich mich am Strand mache, ich werde nie hinter den Horizont schauen können; er rückt weiter, ungeachtet, wie sehr ich ihm folge.
„Wahre“ und „falsche“ Verschwörungen
Wann dient also eine Verschwörungstheorie nicht mehr der Wahrheitsfindung? Die Antwort ist einfach: Wenn sie als Setzung oder „Tatsache“ dargestellt und mit Eifer verteidigt werden muss. Die modernen „Hexenverbrennungen“ unter Deformierung der Rechtsprechung und des Freiheitsbegriffs sind solche Indizien für tatsächliche Verschwörungen: Gewisse Eliten wollen eine ganz bestimmte Wahrheit installieren, die auch gegen Widerstand durchgesetzt werden muss. Nicht die Evidenz bestimmter Theorien hat das entscheidende Gewicht, sondern die Absicht hinter den Theorien. Auch die arrogante Diffamierung von Andersdenkenden und Skeptikern ist ein Indiz für das Vorherrschen einer künstlichen Wahrheit vor einer natürlichen.
Diejenigen, die den Begriff „Verschwörungstheorie“ zur Stigmatisierung und Abwertung ihrer Kritiker nutzen, bestätigen also ungewollt dessen Richtigkeit.
Diejenigen, die ihn abwertend nutzen, sind am wahrscheinlichsten Opfer der „Propaganda“ im Sinne von Edward Bernays.
Die Komplexität dieser Welt erstreckt sich selbstverständlich auch auf Bereiche, die sich dem verstandesmäßigen Zugriff entziehen. Verschiedenste Ebenen sind dort miteinander verwoben, und diese Verstrickungen und Kausalitäten selbst bilden neue Formen und Muster, bedingen einander, und eine Dynamik wirkt, die weder planbar noch erfassbar ist. Daher ist der Übergang von Wahrheit zu Wahn immer fließend, weil das, was als verifizierbare Wahrheit gelten kann, an seinen Grenzen verschwimmt, unscharf wird und sich schließlich ganz entzieht. „Hinterm Horizont geht’s weiter.“ Nur, ob dieses „Weiter“ von unserem Geist konstruiert oder wirklich — also der Realität entsprechend — ist, kann niemand sicher sagen.
Viele Sackgassen sind betreten worden, viele Ideen sektenhaft-ideologisch vermarktet worden, ein breites Spektrum an exotischen Vorstellungen nach jedem Geschmack. Und der Einzelne glaubt, selbst Denkarbeit geleistet zu haben, was auch in gewissem Maße stimmt. Nur ist die Denkrichtung schon festgelegt und ideologisch eingeengt und alles andere als frei. Und vor allem ist der „Gläubige“ abgeschnitten von seiner eigenen Weltverbundenheit.
Sekten bedienen sich dieser Techniken. Sie liefern ganzheitliche und teils komplexe Erklärungen der Welt, „Wahrheiten“, die durch ihre innere Schlüssigkeit überzeugen (2). Sowohl die Sektenführung als auch der „kleine“ Gläubige sind „Verschwörer“, ebenso wie ihre Gegner, die mit ihrer verzerrten und bruchstückhaften Wahrnehmung über das Ziel wirklicher Aufklärung hinausschießen. Die mentalen Dehnübungen, die für echte Toleranz nötig wären, überfordern in der Regel beide Seiten.
Und so ist der Verschwörer im Besitz „der Wahrheit“. Er hat einen neuen Glauben gefunden; die Welt „da draußen“ ist feindlich oder irregeleitet. Deshalb funktionieren Argumente nicht. Die Frage an einen „Gläubigen“, welches Argument er gelten lassen würde, kann von ihm nicht beantwortet werden. Er ist Gefangener seiner selbst. Unsichtbar bleibt für ihn dabei, dass er wieder Opfer seines Ego-Ichs geworden ist, welches sich nicht selbst durchschaut und unbemerkt Regie führt. Das Ego-Ich muss sich wichtig fühlen in einer übermächtigen, unüberschaubaren und fraglich sinnhaften Welt. Dabei bleibt der Glaube — in diesem Falle die Verschwörung — Lifestyle.
Würde der Verschwörer wirklich glauben, würde er die Konsequenzen daraus ziehen und diese Welt hinter sich lassen; er würde aussteigen aus dem Wahnsinn, dessen Unmenschlichkeit er erkannt hat, und ihn mit keinem Atemzug mehr unterstützen. Er würde erkennen, dass Predigen noch nie etwas verändert hat. Er würde andere nicht zur Bestätigung oder Ausführung seiner Ideen brauchen. Also: Aussteigen, zuerst mental, dann real, indem er dieser doch so krankmachenden Welt wie einem Kranken begegnet: mit „Hygiene und Distanz“ (Klaus Koeppe). Er würde ihr den Rücken kehren und — im Rahmen einer Gemeinschaft beispielsweise — eine für ihn lebbare Welt verwirklichen.
Äußere und innere Freiheit
Wie die Sekte aber nur durch ihre Gläubigen existieren kann, so braucht auch jede große und kleine Verschwörung diese Gläubigen. Die Sekte braucht gläubige, nicht authentische und freie Menschen. Durch die Identifizierung mit der Verschwörung werde ich zu ihrem Opfer. Für meine Vision vom „Guten Leben“ ist kaum mehr Platz, weil ich mich von den Umständen beherrscht und abhängig fühle.
Erst in den großen und unüberschaubaren Bezügen wird der Mensch zur Masse und damit manipulierbar. Erst in diesen Dimensionen lässt sich der Wahnsinn umfassend und quasi unsichtbar als Normalität installieren.
Ich kann als Einzelner nur aus der Masse heraustreten, aber ich kann ihr nicht ihren Massencharakter vorwerfen. Es wird auch nicht zur Gesundung führen, innerhalb der Masse Verbesserungsvorschläge zu machen oder die Methoden ihrer Lenker als Irreführung aufzuzeigen. Ich muss mich zunächst aus ihr herauslösen und de-identifizieren.
Jeder Kampf gegen den vermeintlichen und tatsächlichen Irrtum und Wahnsinn des Systems verleiht dem Bekämpften Macht und Existenz. Das Neue mag aus den Trümmern des Alten erwachsen. Die Verschwörung aber endet nicht durch den Sieg der Wahrheit über sie, sondern einzig und allein, weil der Verschwörung der Boden entzogen wird. Die Wahrheit braucht Protagonisten, keine Kämpfer. Das ist die Aufforderung, die an alle ergeht, die wirklich an die Möglichkeit einer besseren Welt glauben.