Zwischen Sicherheit und Verhandlung

Was tun, wenn der Westen den Krieg in der Ukraine wider Erwarten doch gewinnt? Diese Frage stellt sich keiner der Experten. Einer tut es in seinem neuen Buch doch — und wagt einen fast schon radikal sachlichen Blick auf diesen Krieg.

Was immer es kostet, bis zum Sieg der Ukraine und dem Ruin Russlands: So vernehmen das die Deutschen nun seit weit mehr als zwei Jahren aus Berlin — und auch aus anderen europäischen Hauptstädten erklingen solche Floskeln. Unabhängige Militärberater halten dieses Szenario allerdings für ausgeschlossen. Russland ist militärisch nicht zu bezwingen, erklären sie. Die Geschichte pflichtet ihnen bei: Russland fiel nie. Die Planspiele sind also verwegen. Aber wer sie öffentlich vertritt, müsste doch einen weiterführenden Plan im Schreibtisch haben, falls das der Ukraine, damit der NATO und dem Westen, wirklich gelingen sollte: Was geschieht dann mit dem Verlierer Russland? Erich Vad befasst sich in seinem aktuellen Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“ unter anderem mit dieser Frage — dabei nimmt der Brigadegeneral a.D. und ehemalige sicherheitspolitische Berater Angela Merkels eine sehr komplexe Haltung zum Ukrainekrieg ein. Sicherheitspolitik muss sein, sagt er — aber immer im Verbund mit Diplomatie.

Krieg ist nie kontrollierbar

Über den Krieg wird viel geschrieben. Aber was er ist, darüber machen sich auch jene wenig Gedanken, die ihn zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht haben. Nur dass ihn niemand will, darüber sind sich alle einig: Sogar jene, die jetzt verstärkt auf Kampf setzen und die Ukrainer anfeuern — sie tun das nur, so werden sie nicht müde zu betonen, damit der Krieg bald ein Ende findet. Diese Logik kann man beanstanden und als verquer abtun — aber wesentlich ist doch: Wirklich niemand will Krieg. Nicht mal die Bellizisten — sie sind da wie Rassisten: Wer behauptet schon von sich selbst, einer zu sein? Und wer ruft laut aus, dass er den Krieg liebt?

Erich Vad macht sich in seinem Buch Gedanken über das Wesen des Krieges — natürlich kommt ihm Carl von Clausewitz zur Hilfe. Es ist ein Verdienst seines Buches, die Unkontrollierbarkeit des Kriegsgeschehens hervorzuheben. Denn es ist gerade die vermeintliche Kontrolle, die alle Beteiligten in jedem Krieg — eben auch im Ukrainekrieg —, fest in Händen zu halten glauben.

Aber Krieg entgleitet, er ist Dynamiken unterworfen, die auf der einfachen wie tragischen Prämisse gründet, den Feind zu hassen. Dieser Hass ist es, der jedes Mittel als gerechtfertigt empfindet, um der Gegenseite möglichst großen Schaden zuzufügen. Eine Kontrolle des Geschehens ist ab einer gewissen Dimension nicht mehr möglich. Daher muss er verhindert werden — und zwar bevor er nicht mehr an die Leine zu nehmen ist.

Über diese Mechanismen, die nicht mehr einzudämmen sind, sprechen die Apologeten der Eskalation des Stellvertreterkrieges nie. Sie simulieren eine Kontrollfähigkeit, die es nicht, ja nicht geben kann — und die sie wie die Herren der Geschicke aussehen lassen soll. Ob nun Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter oder Roderich Kiesewetter: Sie mimen, alles im Griff zu haben — und Deutschland und die NATO als Kriegsparteien zu zeichnen, die stets Herren des Geschehens seien. Vad erteilt dieser Anmaßung eine Abfuhr. Der Krieg lässt eine solche Rolle nicht zu. Und zwar für niemanden. Alle Kriegsbeteiligten sind Getriebene, alle eskalieren ihr Engagement, weil sie davon ausgehen, dass die Gegenseite das auch tut. Das ist die Wurzel der Brutalität und Rohheit, die in jedem Krieg Triebe schlägt.

Und wenn Russland fällt?

So wie niemand darüber öffentlich debattiert, so betrifft es auch das Kriegsziel. Es geht darum, whatever it takes, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen — und damit Russland eine Niederlage beizubringen. Russland zu ruinieren, sei die eigentliche Aufgabe, tat die deutsche Außenministerin schon recht früh kund. Unabhängige Militärexperten und auch Militärs außer Dienst halten das für ausgeschlossen. Erich Vad reiht sich da ein.

Russland ist die größte Nuklearmacht der Welt: Wie soll man die bezwingen können?

Aber lassen wir der Fantasie freien Lauf. Stellen wir uns kurz vor, Folgendes tritt tatsächlich ein: Die Ukraine gewinnt diesen Krieg. Russland liegt am Boden. Was geschieht dann? Diese Frage stellt keiner, was Erich Vad moniert. Ein ruiniertes Russland wird zu einem großen, ja kaum kalkulierbaren Sicherheitsproblem für Europa; die Destabilisierung Osteuropas wird womöglich weitere Folgekriege nach sich ziehen und vielleicht sogar einen russischen Bürgerkrieg heraufbeschwören. Will der Westen ein solches Szenario Wirklichkeit werden lassen? Denn all das wird massiv auf Deutschland und Europa einwirken. Wo sind denn die vermeintlichen Experten, die Russland bezwingen wollen, wenn es darum geht, einen Plan für die Nachkriegsordnung zu präsentieren? Marschieren dann ukrainische Truppen in Moskau ein? Oder dürften es dann auch NATO-Soldaten sein? Sind das die Planspiele?

Erich Vad kritisiert in seinem Buch außerdem die Moralisierung, mit der die deutsche Außenpolitik hantiert. „Die guten Menschen von Deutschland“, wie er jene deutsche Mentalität nennt, die geostrategische Überlegungen mit ethischer Attitüde wegwischt, garantiere keine Sicherheit. Und Sicherheit benötigt Deutschland und Europa eben nun mal — davon ist der Brigadegeneral a.D. überzeugt. Denn Russlands Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass Deutschland wehrfähig sein müsse. Diese Haltung dürfe aber nicht dazu führen, dass die Politiker irrational handeln und einen vermeintlichen gerechten Krieg einem vielleicht ungerechten Frieden vorziehen.

Analytischer Pazifismus

Der Autor steht zwischen den Lagern, die sich in den letzten beiden Jahren formiert haben. Er nimmt keine Position ein, sondern versucht nüchtern auf die Gemengelage zu schauen. Für ihn ist Wladimir Putin kein Kämpfer für das Recht der Schwellenländer oder für eine neue multipolare Weltordnung. Aber ein Teufel, mit dem niemand gleichzeitig in einem Raum sein dürfte, ist er für Vad eben auch nicht. So oder so wird der Westen mit dem russischen Präsidenten sprechen müssen — es sei denn, er zieht es vor, einen unkontrollierbaren Krieg in Kauf zu nehmen, und dies letztlich nur, weil er ideologisch stur bleiben möchte.

Es dürfe kein Ende der Politik geben — dafür plädiert Vad. Aber Politik bedeute eben auch, die eigene Sicherheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Aber genau das sei in den letzten Jahren vergessen worden. Die deutschen Streitkräfte müssen laut Grundgesetz in der Lage sein, das Land zu verteidigen — das sei aber heute faktisch nicht gegeben. Bei alldem dürfe man aber nie die Diplomatie außer Acht lassen. Nur sie im Verbund mit militärischer Stärke, so erklärt Erich Vad, könnten die Geißel des Krieges von Deutschland beziehungsweise der Menschheit abwenden. Wie gesagt, ein Ende der Politik muss vermieden werden — Politik muss immer den Vorrang haben.

Der ehemalige Berater von Angela Merkel ist kein Idealist. Sein Pazifismus ergibt sich aus der Analyse der Realität. Das macht seinen Beitrag zur aktuellen Debatte um den Ukrainekrieg so wertvoll. Er lässt sich von keiner Seite vereinnahmen, steht dazwischen. Seine Argumentation muss dabei nicht immer jedem gefallen — Radikalpazifisten würden seine Haltung zur Sicherheitspolitik sicherlich monieren. Für Vad sind Lichterketten und Singen für den Frieden keine Basis, um die Welt friedlicher zu machen. Das ist ein Punkt, der einem vom Bauchgefühl her nicht gefallen mag — aber Geopolitik ist nun mal komplex.


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