Zweifelhafte Verfassungshüter
In „Verfassungsschutz: Wie der Geheimdienst Politik macht“ analysiert Ronen Steincke einen deutschen Geheimdienst, der selbst verfassungsfeindlich agiert und auf dem rechten Auge blind ist.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat, wie dem Namen zu entnehmen, die Aufgabe, die deutsche Verfassung und damit die deutsche Demokratie zu schützen. Sein gesellschaftlicher Auftrag ist es, jene Kräfte, die durch menschenfeindliche und totalitäre Ansichten die liberale Ordnung gefährden, ausfindig zu machen und zu überprüfen, wie groß die Gefahr ist, die von ihnen ausgeht. Dass es dieser Anforderung im Grunde seit seiner Gründung nicht gerecht wird, hängt sowohl damit zusammen, dass die Behörde selbst bereits zu Beginn von Nazis durchsetzt war, als auch dass sie im Grunde ohne jegliche Kontrolle selbst legale Aktivitäten observieren kann, wie es ihr passt. Süddeutsche-Zeitung-Journalist Ronen Steincke skizziert in seinem Buch die Konstruktionsfehler des deutschen Geheimdienstes und geht dennoch nicht auf die Überwachung Andersdenkender seit der Coronazeit ein.
Im Jahr 1950 beschlossen die alliierten Westmächte, in der Bundesrepublik ein Amt für Verfassungsschutz zu gründen. Die vornehmste Aufgabe bestand nicht nur in der Beobachtung staatsfeindlicher Aktivitäten, sondern auch darin, Altnazis von Ämtern in Regierung, Verwaltung und Justiz fernzuhalten. Erster Präsident des neu gegründeten Amtes wurde Otto John, ein Jurist, der am Widerstand gegen die Nationalsozialisten teilgenommen hatte und dessen Bruder nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurde.
Am 20. Juli 1954 demissionierte Otto John auf spektakuläre Weise: Er wechselte in die DDR und gab zu Protokoll, in welchem Ausmaß alte Naziseilschaften nicht nur das Amt für Verfassungsschutz infiltriert, sondern überall im öffentlichen Leben das Ruder übernommen hatten. Er sprach von einer „Renazifizierung in Westdeutschland“.
Dieser Seitenwechsel ging als der erste Skandal des Verfassungsschutzes in die Annalen ein. In Wahrheit bestand der Skandal natürlich darin, dass Otto John vollkommen recht hatte:
1955 stellte sich heraus, dass 20 Prozent der Mitarbeiter des Bundesamts ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. Vermutlich waren es noch sehr viel mehr.
Die Untersuchungskommission, die dieser Frage nachging, wurde von Wilhelm Ludwig geleitet, der seit April 1933 Leiter des Referats IX bei der Gestapo gewesen war. Beim Bundeskriminalamt fanden sich 1958 unter 47 leitenden Beamten 33 frühere SS-Angehörige, 1957 waren 77 Prozent der leitenden Beamten des Justizministeriums ehemalige NSDAP-Mitglieder. Ähnliches gilt für andere Ministerien und Behörden.
Ronen Steinke erzählt in seinem Buch über den Verfassungsschutz aber nicht die Geschichte seiner Skandale. Das sprengte den Rahmen nur eines Buches. Der Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung geht hauptsächlich der Frage nach, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht von Anfang an als Fehlkonstruktion angelegt war und ob seine Arbeitsweise nicht eher dazu führt, die Demokratie, die es zu schützen vorgibt, zu untergraben.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz nebst seinen 16 Landesfilialen hatte nach dem Willen seiner alliierten Gründer reine Beobachtungsaufgaben und keinerlei exekutive oder polizeiliche Befugnisse. So wollte man eine neue Gestapo verhindern. Der entscheidende Unterschied zu polizeilichen Behörden besteht darin, dass der Verfassungsschutz legale politische Gruppen oder Parteien beobachten kann — ohne dafür richterliche Genehmigungen einholen noch Rechenschaft ablegen zu müssen.
Das ist allerdings ein globales Alleinstellungsmerkmal. Überall sonst auf der Welt dürfen Inlandsgeheimdienste nur illegale Aktivisten beobachten. Zumindest, wenn es nach den Buchstaben des Gesetzes geht.
Ein anderes Problem besteht darin, dass der Verfassungsschutz gewissermaßen im Alleingang bestimmen kann, wen oder was er mit welchen Mitteln beobachtet, in der Regel lediglich in Abstimmung mit dem Innenministerium beziehungsweise den Innenministerien der Länder, denen die Verfassungsschutzämter unterstellt sind. Wie es die Geschichte um Otto John schon ahnen lässt, sind die Schlapphüte aber von Anfang an auf dem rechten Auge kurzsichtig bis blind. Im Visier hatten sie lieber Kommunisten, Linke, Umweltschützer — heute Klimaaktivisten —, Islamisten und andere vermeintliche Extremisten.
Zu Zeiten des Radikalenerlasses nach 1972 schüchterten die Verfassungsschützer eine ganze Generation von kritischen jungen Menschen ein. Sie entschieden, wer „verfassungstreu“ oder „verfassungsfeindlich“ sei und schuldeten niemandem Rechenschaft über ihre Befunde. Nach der Wende jagte man alle, die nicht laut dem Teufel des Sozialismus abgeschworen hatten. Gewissermaßen eine Wendestasi. Umgekehrt übersahen sie systematisch die Rückkehr der einstigen Nazis an die Tröge der Demokratie. Den neuen Rechtsradikalismus mögen sie gesehen haben, doch aller Wahrscheinlichkeit nach haben ihre V-Leute NPD, Pegida und NSU mit öffentlichen, aber geheimen Geldern eher großzügig versorgt, statt sie zu unterwandern.
Bei den Verbotsverfahren gegen die NPD konnte das Bundesverfassungsgericht vor lauter V-Leuten keine Nazis mehr sehen. Im Fall des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds gibt es starke Hinweise auf höchst sonderbare Ermittlungsfehler und Vertuschungen. Selbstredend wurden die nie aufgeklärt.
Die Stärke des Verfassungsschutzes gegenüber polizeilicher Ermittlungsarbeit besteht in der Dunkelkammer als Arbeitsplatz. V-Leute, Telefonüberwachung und in Israel eigens angefertigte technische Überwachungsinstrumente können weitgehend ohne richterliche Genehmigung eingesetzt werden. Es gibt bestimmte gesetzliche Auflagen, doch wer kann die überprüfen? Auskunft müssen die Verfassungsschützer einzig einer streng geheimen Kommission geben, die zum größten Teil aus ehemaligen Politikern und aktiven Beamten besteht, kurzum aus Mitgliedern des politischen Apparats.
Bei der Definition von Verfassungsfeinden gehorchen die Demokratiewächter gerne den Wünschen ihrer Regierungen. Bereits Adenauer ließ Parteifreunde überwachen, weil sie ihm politisch suspekt waren. Die Partei Die Linke wurde in manchen Bundesländern überwacht, in anderen nicht. Das lag nicht an der unterschiedlichen Radikalität von Linken in den verschiedenen Ländern, sondern an den Regierungen: In CDU regierten Ländern wurde gerne überwacht, in Bayern bis heute.
Wohlgemerkt, nirgends war Die Linke verboten. Auch grüne Politiker kamen früher in den Genuss einer demokratischen Observation, selbst als Parlamentarier. Heute träumen sie davon, andere Parteien beobachten und verbieten zu lassen. Besonders die AfD hat man zurzeit im staatsschützerischen, genauer gesagt: regierungsschützenden Visier. Doch diese Partei hat niemals angekündigt, das parlamentarische System stürzen zu wollen. Im Gegenteil fordern die Rechten mehr Basisdemokratie. Und gewisse kritische Überlegungen zu Sinn und Zweck etwa von NATO und EU sind nicht nur erlaubt, sondern geradezu unvermeidlich.
Legitimiert werden solche Bespitzelungen oder Bespitzelungsabsichten gerne mit dem Hinweis auf die Weimarer Republik. Die sei untergegangen, weil die Demokratie nicht wehrhaft genug gewesen sei. Was für ein Unfug. Weder diese Republik noch deren demokratische Realität haben auch nur im Geringsten funktioniert. Und gescheitert ist das republikanische Experiment nicht an demokratischer Entkräftung, sondern an seinen „demokratischen“ Eliten, die Adolf Hitler die Macht auf einem silbernen Tablett überreicht haben, um das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern.
Die wahren Feinde der Demokratie wirken meistens im Herzen des Systems. Man erkennt sich an den rituellen und leeren Beschwörungen der Demokratie in ihren Sonntagsreden.
Wenn die Regierung gerade keine Feinde der Demokratie sichtet, dann bastelt sich der Verfassungsschutz selbst welche. Und wem man das Label „verfassungsfeindlich“ oder „unter Beobachtung des Verfassungsschutzes“ verpasst hat, dem kann man das Leben durchaus schwer machen. Wer dennoch Umgang mit solchem Unkraut pflegt, der wird schnell selbst zum Verfassungsfeind.
Das muss Michael Meyen gerade erfahren. Der Professor für Kommunikationswissenschaften an der Uni München wird gerade auf seine Verfassungstreue überprüft und kann schlimmstenfalls seine Stelle verlieren, inklusive Altersversorgung. Die Vorwürfe: Er hat der linken Unterstützerorganisation „Rote Hilfe“, die verfassungsschützerisch beobachtet wird, Geld gespendet. Und er hat der Zeitung Demokratischer Widerstand ein paar Wochen als Herausgeber ausgeholfen und ist gar in einem Werbevideo für das Blatt aufgetreten, obwohl der Demokratische Widerstand als verfassungsfeindlich eingestuft wurde — nicht etwa weil er gegen die Demokratie gehetzt hätte, sondern weil er dem Corona-Regime totalitäre Tendenzen vorwarf.
Man sollte allerdings nicht vergessen, dass die Süddeutsche Zeitung zu dieser Sorte Mobbing unermüdlich beigetragen hat. In diesem Fall hatte Ronen Steinke wohl nichts an der Arbeit der Verfassungsschützer auszusetzen.
In seinem Buch geht es allerdings um nichts Geringeres als um die Frage nach der Abschaffung dieser Behörde. Steinke kommt zu dem Fazit:
„Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen legale politische Aktivitäten spioniert, dann schädigt das die Demokratie. Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen — mutmaßlich — illegale politische Aktivitäten spioniert, dann ist das nicht viel besser, denn es unterläuft das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.“
Die Bekämpfung illegaler politischer Aktivitäten wäre dann einfach: Polizeiarbeit. Steinkes Plädoyer ist überzeugend und sauber gearbeitet.
Na ja, vielleicht nicht ganz sauber. Sorgfältig zählt Steinke alle Beobachtungsfelder auf, nur das letzte Schmuckstück in der Galerie fehlt: „die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Damit sind die Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker wider den heiligen Impfgeist gemeint.
Und damit nimmt der Verfassungsschutz schätzungsweise ein Fünftel der eigenen Bevölkerung ins Visier, das sich nichts anderes hat, zuschulden kommen lassen, als mit den Maßnahmen der Regierung nicht einverstanden zu sein — und das meist mit Begründungen, deren Komplexität bei weitem das Niveau der missionarischen „Berichterstattung“ (vulgo: Propaganda) etwa der Süddeutschen Zeitung übersteigt.
Ganz auf Linie spricht Steinke von „Esoterikerinnen, die Impfungen für Teufelszeug halten“, aber ein objektives Merkmal für Demokratiegefährdungen kann er auch bei uns Spinnern nicht entdecken.
Das „Delikt“ der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung“ dürfte das aktuellste und infamste Beispiel dafür sein, wie der Verfassungsschutz Politik macht. Im Übrigen liefern die Darlegungen in den Jahresberichten des Verfassungsschutz von Bund und Länder den schlagenden Beweis für die totalitären Anmaßungen dieser Behörden, und gleichzeitig — wenn auch vermutlich kollateral — offenbaren sie einen erschütternden Bildungsnotstand. Man kann die Demokratie auch zu Tode stammeln.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Verfassungsschutz: Wie der Geheimdienst Politik macht“