Zweierlei Wortbruch
Wenn die Lückenpresse Politik macht, kommt nichts Gutes dabei heraus.
„Ich möchte zur Wahl der Ministerpräsidentin eine eigene Mehrheit ohne die Linkspartei haben, und dabei bleibt es auch, und ich finde, das ist ne klare Aussage.“ Wer würde sich nicht an diese goldenen Worte Andrea Ypsilantis aus dem hessischen Landtagswahlkampf 2008 erinnern? Selbst den politisch nur marginal Interessierten dürften sie noch in den Ohren klingen. Was Ypsilanti da sagte, war in Stein gemeißelt. So schien es wenigstens.
Doch dann, kurz nach der Wahl, die Kehrwende. Nun also doch mit den Linken. Ein Wortbruch reinsten Wassers. In diesem Verdikt war sich das größer gewordene Deutschland so gut wie einig, was selten genug vorkommt. Die aus reiner Machtgier vollzogene Rochade war selbstredend ein gefundenes Fressen für die politischen Gegner. Und die fanden sich nicht nur in der CDU, sondern auch – in nicht unbeträchtlicher Zahl – unter Ypsilantis eigenen Genossen.
Doch vor allem fanden sie sich in den gemeinwohlorientierten Medien. Die ließen sich nicht zweimal bitten und sorgten umgehend für Recht und Ordnung. Es ist bezeichnend, dass sie sich für diesen Akt der politischen Hygiene auch noch von einer kleinen, radikalen Minderheit kritisieren lassen mussten. So etwas schmerzt.
Eine regelrechte Kampagne werde da gefahren, beklagten sich die Wortbrüchigen in völliger Verkennung der Tatsachen. Aus allen Rohren, behaupteten sie, werde auf die Hessen-SPD und die völlig unschuldige Frau Ypsilanti geschossen. Da werde eine Art journalistische Hinrichtung betrieben, eine mediale Hexenverbrennung.
Ich will zugeben: Schön war das alles nicht. Es war sogar streckenweise ziemlich eklig. Das würden vermutlich auch viele der beteiligten Kollegen rückblickend einräumen. Die selbstkritische Frage muss lauten: Haben die Sturmgeschütze der Demokratie seinerzeit die Dreckspatzen und Schutzfinken etwa allzu sehr unter Feuer genommen? Mag sein. Aber hinterher ist man immer klüger. Dass der Fall vermutlich auch mit etwas weniger Munitionsverbrauch zu erledigen gewesen wäre, konnte niemand wissen. Man ging eben auf Nummer sicher.
Zudem befanden sich die Wahrheitsmedien im Fall Ypsilanti nicht in einer politischen Schönheitskonkurrenz, sondern nahmen ihre unabweisbare journalistische Verantwortung wahr. Und die erfordert nun mal ein gewisses Maß an Unerbittlichkeit.
Obwohl die Sache längst ausgestanden und Frau Ypsilanti inzwischen dort angekommen ist, wo sie hingehört – beim Westend-Verlag –, lassen die üblichen Verdächtigen und Nörgler nicht locker. Hätten die Medien dieser Tage denn nicht erneut Anlass, kräftig zuzuschlagen, fragen sie mit süffisantem Unterton. Denn: Hat nicht auch Martin Schulz einen Wortbruch auf dem Gewissen? Hatte er nicht am Wahlabend noch derb auf Merkel eingedroschen und den Gang der SPD in die Opposition angekündigt? Und zwar ohne Wenn und Aber? Und hatte er nicht kategorisch ausgeschlossen, ein Ministeramt unter Merkel zu übernehmen? Wäre das nicht hinreichend Stoff für eine neuerliche mediale Kampagne?
Es sind dies offenkundig rein rhetorische, ja zersetzende Fragen, die auf ihre Urheber zurückfallen und das erbärmliche Niveau ihrer Diskussionskultur veranschaulichen. Was in dieser Angelegenheit zu sagen ist, haben unsere gemeinwohlorientierten Medien längst gesagt. Manche Journalisten konstatierten sogar einen gewissen Glaubwürdigkeitsverlust auf Seiten des Herrn Schulz. Auch fragten sie besorgt, ob da möglicherweise etwas hängen bleiben könnte. Derlei Bedenken mit aller gebotenen Vorsicht auszusprechen, ist zweifelsohne legitim; das gehört zu den Aufgaben einer vierten Gewalt am Puls der Zeit. Aber damit sollte es dann auch sein Bewenden haben.
Natürlich stellt das die nörgelnden Medienkritiker nicht zufrieden. Sie legen nach – in dem irrigen Glauben, das berühmte Oberwasser zu haben. Sie argwöhnen, dass hier wieder einmal mit zweierlei Maß gemessen werde. Sie behaupten, man habe Ypsilanti seinerzeit doch nur deshalb in die Tonne getreten, weil sie mit der Linken zu paktieren beabsichtigte. Schulz hingegen schone man, weil es ihn in die Große Koalition ziehe. Manche vereinfachen dieses Argument bis zur Schmerzgrenze und stellen ebenso lapidar wie triumphierend fest, Ypsilanti sei eben eine Parteilinke, Schulz aber ein Parteirechter. Da könne man es wieder sehen! Das erkläre doch alles!
Welch ein Unsinn! Die schlichte Wahrheit lautet: Es geht in der Politik nicht um links oder rechts, auch nicht um Moral oder gar um Macht und Interessen. Es geht nur um richtig oder falsch. Und die bittere Wahrheit lautet: Ypsilanti hat es damals falsch gemacht, Schulz hingegen macht es heute richtig.
Hätte Ypsilanti sich vor zehn Jahren für eine Große Koalition mit Roland Kochs CDU erwärmt, wäre das zwar auch ein Wortbruch gewesen, denn auch diese Option hatte sie vor der Wahl ausgeschlossen. Aber sie hätte sich der Unterstützung der Medien zweifellos und mit vollem Recht erfreuen dürfen.
Man erkennt daran, dass es den Medien keineswegs um sture Prinzipienreiterei geht, sondern ums große Ganze. Damals war es das kleine Hessen, heute ist es das größer gewordene Deutschland, mehr noch: es ist Deutschlands Rolle in Europa, in der Welt. Es sind die Medien, die uns sagen, was richtig und was falsch ist. Das ist ihre Pflicht und Schuldigkeit, ihre Verantwortung.
Dieser unabdingbaren Verantwortung wurden sie 2008 in einer vielleicht etwas übereifrigen, aber letztlich doch bewundernswerten Weise gerecht, als sie Ypsilanti und die Hessen-SPD nach allen Regeln der Kunst zerlegten. Und sie werden ihr gegenwärtig gerecht, indem sie den Menschen draußen im Lande die Notwendigkeit eines Eintritts der SPD in die Große Koalition und den überfälligen Wechsel im Amt des Außenministers vom wankelmütigen, tendenziell russophilen Gabriel zum stand- und prinzipienfesten Schulz verdeutlichen.
Diese mediale Entschieden- und Entschlossenheit nötigt größten Respekt ab. Gestern zum Beispiel glaubte einer der führenden (aber schon mehrfach durch polemische Ausfälle unangenehm aufgefallenen) deutschen Journalisten, der Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart, aus der Reihe tanzen zu dürfen. Mitten im rheinischen Karneval, doch allen Ernstes gab er in seiner Zeitung zu Protokoll, dass die bevorstehende Ablösung des Außenministers Gabriel durch Parteifreund Schulz auf „den perfekten Mord“ hinauslaufe. Und er schrieb diese Ungeheuerlichkeit nieder, obwohl ihm doch aus zahllosen Columbo-Folgen hätte bekannt sein müssen, dass es so etwas wie einen perfekten Mord gar nicht gibt.
Ein journalistischer Fauxpas erster Güte! Er ließ dem Verleger Dieter von Holtzbrinck, der sich normalerweise nie in redaktionelle Angelegenheiten einmischt, gar keine andere Wahl als sich von Steingart zu trennen. Für den Verlagschef gewiss eine schwierige, eine schmerzhafte Entscheidung. Gleichwohl eine unvermeidbare.
Vorgänge wie diese dürfen uns mit Hoffnung erfüllen. Mag Deutschland auch vor großen Herausforderungen stehen, mag seine Zukunft auch manchem ungewiss erscheinen – auf seine Medien ist Verlass.