Zwei Seelen in der Brust
Das Bedürfnis nach Bindung und das Bedürfnis nach Authentizität müssen einander nicht ausschließen.
„L’enfer, c’est les autres“ — Die anderen sind die Hölle, schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre. Die anderen trampeln uns auf den Nerven herum, sie nehmen uns die Vorfahrt und den Parkplatz weg. Wenn es ein Problem gibt, dann sind immer die anderen daran beteiligt. Sie sind schuld daran, wenn etwas schiefgeht. Ohne die anderen wäre das Leben so viel leichter. Wir müssten uns nicht mehr über sie aufregen, es gäbe keine Kriege mehr und auch keine Überbevölkerung. Was wäre das Leben ohne die anderen?
Es ist verflixt. Immer wieder werden wir auf die Probe gestellt. Immer wieder ecken wir mit unseresgleichen an. Kaum vergeht ein Tag, an dem wir Ruhe voreinander haben. Wenn es keinen Streit gibt in der Familie, keinen Stress im Job, keinen Ärger mit den Nachbarn, dann reden die anderen Unsinn, machen zu viel Lärm oder treten uns auf die Füße. Wie viel einfacher wäre das Leben, wenn wir uns über andere keine Gedanken mehr machen und nur noch zu unserem Haustier eine harmonische Beziehung pflegen müssten!
Haustiere sind zufrieden, wenn sie gefüttert und gestreichelt werden. In dieser Beziehung gibt es kein Scheitern, keinen Betrug und kein Hintergehen. Der Hund verlässt uns nicht wegen einer anderen. Unverfälscht zeigen Tiere ihre Gefühle und halten nicht mit ihren Bedürfnissen und Wünschen hinter dem Berg. Bei ihnen wissen wir, woran wir sind. Anders als Menschen sind Tiere authentisch. Sie lügen nicht. Sie manipulieren nicht, sie schwärzen niemanden an, und ihre Spielchen sind ganz klar dazu da, sie selbst zu amüsieren.
Während wir uns von Menschen oft enttäuscht fühlen, sind uns unsere Haustiere lebenslang treue Gefährten. Ihre Anforderungen an uns sind minimal, und sie lieben uns auch dann, wenn wir ungeduscht und schlechter Laune sind.
Freudig kommen sie uns entgegen, wenn wir das Haus betreten, und stellen keine dummen Fragen. Kein Wunder, dass viele Menschen heute zu Vierbeinern eine bessere Beziehung haben als zu Zweibeinern.
Zwei Seelen, ach
Trotz aller Versuche, Ruhe voreinander zu finden, brauchen wir uns gegenseitig wie die Luft zum Atmen. Als soziale Wesen können wir nur gemeinsam überleben. Wir leben von der Verbindung zu anderen Menschen. Dieses Bedürfnis ist uns angeboren. Doch es gibt noch ein anderes, ebenso starkes Bedürfnis, das dem Wunsch nach Bindung immer wieder entgegenläuft: das Streben nach Authentizität (1).
Nach dem Durchtrennen der Nabelschnur lernen wir schnell, der Mutter zu gefallen und den Erwachsenen, von denen unser Leben abhängt. Mit feinen Sinnen erspüren wir, welches Verhalten das günstigste ist, um maximal in Verbindung zu bleiben. Gleichzeitig strebt das Leben in uns nach Selbstentfaltung. Wir wollen die werden, die wir wirklich sind, echt und unverfälscht.
Oft gelingt es nicht, dem Bedürfnis nach Bindung und dem nach Authentizität gleichermaßen gerecht zu werden. Wir wagen es nicht, ehrlich und direkt das auszudrücken, was uns betrifft und was uns betroffen macht. Wenn es ein Problem gibt, fällt es uns schwer, uns ohne Aggressivität mitzuteilen, ohne Vorwürfe, ohne nachtragend oder berechnend zu sein. Wir verbiegen uns so, wie wir nicht sind, um uns möglichst schadlos aus der Situation herauszuwinden.
An die Arbeit
Auch bei mir gibt es hier noch einige Luft nach oben, und ich habe noch viel zu lernen. Zwar bin ich trainiert darin, gewaltfrei zu kommunizieren, und versuche, statt über die anderen von mir selbst zu reden. Doch allzu oft fürchte ich die Reaktion der anderen, wenn ich frei von der Leber weg rede. Immer wieder tappe ich in die Falle, ihr Verhalten auf mich zu beziehen und die Dinge persönlich zu nehmen.
Das wird auch mit dem Alter nicht automatisch besser. So bedeutet es richtig Arbeit, sich frei zu machen von den eigenen Vorbehalten. Es ist Arbeit, offen in die Welt hinauszutreten und anderen Menschen ohne Furcht und Misstrauen zu begegnen. Es ist Arbeit, nicht bei jedem Schritt verunsichert zu sein, ob man nicht jemandem auf die Füße tritt oder stören könnte. Wir haben viel zu verlernen, um zu sein wie die Blume, die sich nicht fragt, ob ihr Duft vielleicht irgendjemandem missfällt, oder wie der Vogel, der singt, wenn ihm danach ist.
Authentizität ist ein Wagnis, das viel Mut erfordert. Wir alle haben es im Laufe unseres Lebens gelernt, Abwehrmechanismen um uns herum aufzubauen, um das zu schützen, was in uns nackt und bloß ist.
Wir alle verstecken mehr oder weniger das Echte, das Wahre in uns. Und wir alle tragen die Angst in uns, nicht akzeptiert, nicht geliebt zu werden, wenn wir uns so zeigen, wie wir wirklich sind.
Die Scham ist nicht vorbei
Laut dem amerikanischen Psychotherapeuten Gabor Maté ist es unsere Scham, die uns zeigt, wo wir nicht authentisch sind (2). Sie ist der Indikator dafür, dass wir uns von unserer Echtheit entfernt haben. Für den Arzt und Kinesiologen David R. Hawkins gehört die Scham zur untersten Bewusstseinsebene und wirkt noch zerstörerischer als Angst, Wut oder Hass (3). Mehr als jedes andere Gefühl verhindert die Scham, dass wir uns aufrichten und uns entfalten.
Nicht die anderen sind die Hölle: Die Scham ist es, die sie in uns auslösen können. Es ist wie die Hölle, ungeschützt den Blicken von Menschen ausgesetzt zu sein, die uns nicht mit Wohlwollen begegnen.
Wir können uns hinter nichts und niemandem verbergen. Schutzlos sind wir der Pein ausgeliefert, die, wenn sie auch nicht das Ende unseres Lebens bedeutet, so doch den Verlust von Anerkennung, Respekt und Würde.
Jahrtausende liegen hinter uns, in denen wir uns buchstäblich zu Tode geschämt haben. Seit wir das Paradies hinter uns gelassen haben, schämen wir uns nicht nur für unsere Nacktheit, das Unverhüllte und Authentische in uns. Wir schämen uns für unsere Sünden, für unsere Fehlerhaftigkeit, für unsere Unzulänglichkeit und neuerdings auch dafür, „nur“ eine Frau zu sein oder ein weißer Heterosexueller gewissen Alters.
Das Tor durchschreiten
Die Scham ist es, die uns daran hindert, den Rücken gerade zu machen und den Kopf oben zu tragen. Nie wieder wollen wir so zurechtgewiesen, so gedemütigt, so erniedrigt, so verletzt werden. Alles werden wir tun, damit diese Wunde hinter dicken Krusten versteckt und möglichst nie wieder aufgerissen wird. Nie wieder wollen wir uns so zeigen, wie wir wirklich sind.
Doch der Preis für dieses Verstecken ist hoch. Wer sein Bedürfnis nach Authentizität seiner Scham opfert, der riskiert nicht nur sein Lebensglück, sondern auch sein Leben. Denn dort, wo etwas Wesentliches nicht zur Entfaltung kommt, werden wir krank. Wir erleben Unfälle oder Lebenskrisen. Diese Ereignisse fallen nicht vom Himmel. Die Dinge passieren nicht einfach so, sondern bio-logisch. Das Leben bahnt sich seinen Weg.
Früher oder später werden wir dort ausgebremst, wo wir uns selbst belogen, vernachlässigt, übergangen haben, dort, wo wir nicht authentisch sind. Allein die Ehrlichkeit uns selbst gegenüber kann uns retten, die Akzeptanz, dass es ein Problem gibt. Nur was wir anerkennen, können wir lösen. Was wir nicht sehen wollen, wird uns beherrschen.
Sprechen wir über das, was uns auf dem Herzen liegt. Teilen wir das Erlebte mit. Finden wir gemeinsam ein gesundes Maß zwischen unserem Streben nach Verbindung und nach Authentizität, zwischen Gruppe und Individuum. Nehmen wir den mittleren Weg und akzeptieren wir die Hindernisse. Sie helfen uns dabei zu wachsen. Geben wir unser Bestes und tun wir das, was unserem Leben seinen höchsten Sinn gibt: harmonische Beziehungen nicht nur zu Tieren und Pflanzen aufzubauen, sondern auch zu Menschen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://verenakoenig.de/
(2) https://drgabormate.com/
(3) David R. Hawkins: Die Ebenen des Bewusstseins. Von der Kraft, die wir ausstrahlen, VAK Verlag 2014