Zu Tode verteidigt
„Nie wieder!“ ist ein hehres Vorhaben — allerdings scheint der Zeitpunkt, um es in die Tat umzusetzen, nie zu kommen. Der Grund: Wir müssen ja wehrhaft bleiben.
„Widersteht nicht dem Bösen“, heißt es im Evangelium. Würde Jesus das heute in einer Talkshow äußern, so bekäme er gleich einen verbalen Rüffel von Boris Pistorius oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Vielleicht hatte sich der Religionsstifter damals einfach nicht das Ausmaß des Böseseins vorstellen können, mit dem wir heute konfrontiert sind. Bei Putin zum Beispiel. Der Autor dieses Artikels führt aber einen überraschenden Grund dafür an, warum er es für falsch hält, sich gegen Angreifer zu wehren. Mit Liebe und Gnade hat das nichts zu tun. Eher mit Selbsterhaltung. Denn schauen wir uns doch an, was der Ukraine ihre tapfere Gegenwehr über drei Jahre gebracht hat! Nur verwüstete Landschaften und Tausende Tote, vor allem junge Soldaten. Wenn das, was verteidigt werden soll, infolge dieser Gegenwehr zerstört wird, sollten wir dann nicht einmal über das Prinzip „Verteidigung“ nachdenken?
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden.
Man muss diesen Satz zweimal lesen, am besten laut, am besten in der Öffentlichkeit, vor vielen Menschen, denen man zuvor den Propagandakleisterpfropfen aus den Ohren entfernt hat:
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden.
Der eine oder andere wird widersprechen, aber dies entweder weil der eine oder der andere nicht nachgedacht hat oder weil er nicht nachdenken kann, weil er dumm ist, verblödet durch den Propagandakleister, der in sein Hirn vorgedrungen ist und auch dort alles verkleistert.
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden. Jeder Deutsche sollte verpflichtet sein, diesen Satz zweimal täglich auszusprechen, vollkommen egal, was ihn zum Deutschen macht oder weshalb er sich für einen solchen hält: weil er Deutsch spricht, in Deutschland geboren ist, in Deutschland lebt, einen deutschen Pass oder Ausweis besitzt oder was es da noch für Möglichkeiten gibt. Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden, und jeder, der ein paar Minuten nachdenkt, weiß das.
Ich meine übrigens nicht, dass man Deutschland nicht verteidigen kann. Das geht durchaus, möglicherweise sogar mit Erfolg. Der Unterschied zwischen einer Verteidigung und einer militärischen Verteidigung ist jedoch ein fundamentaler, der sich mit noch so schönen Beschönigungen nicht wegschwindeln lässt. Streng genommen kann man überhaupt kein Land militärisch verteidigen, zumindest nicht im 21. Jahrhundert. Aber das führt jetzt zu weit, bleiben wir mal bei Deutschland.
Reden wir zunächst darüber, was da eigentlich verteidigt werden soll. Die Landschaften, die Städte, Dörfer, Wälder, Seen und Auen, die Flüsse, Fluren, Heiden, was weiß ich? Gerne, aber wenn man die militärisch verteidigt, sind sie danach verwüstet oder komplett vernichtet, und eine Verteidigung, die das zerstört, was verteidigt werden soll, ist der größte Blödsinn, den man sich vorstellen kann. Ungefähr so blöd wie wenn man seine Lieblingstasse aus dem Fenster schmeißt, damit niemand anderer daraus trinkt.
Die Bevölkerung des deutschen Staatsgebiets militärisch zu verteidigen ist ungefähr ebenso idiotisch, weil eine militärische Verteidigung der deutschen Bevölkerung den gegenwärtig gültigen Plänen gemäß darin bestünde, die Bevölkerung zu ermorden, notfalls indem man sie mit Atombomben bombardiert.
Mit den Atombomben der NATO übrigens, die sich offiziell bis 1999 als „Verteidigungsbündnis“ bezeichnete, ohne jemals irgendwo irgendetwas zu verteidigen oder verteidigen zu müssen.
Man könnte behaupten, man wolle die deutsche Bevölkerung gegen Unterwerfung und Versklavung und somit also ihre Freiheit verteidigen. Zumindest momentan — in welthistorischen Momenten gerechnet — sind jedoch auf dem ganzen Planeten nur zwei Mächte bekannt, die die deutsche Bevölkerung eventuell unterwerfen und versklaven wollten: die USA, gegen die man sich generell nicht militärisch verteidigen kann, und die eigene deutsche Regierung oder vielmehr ihre Befehlshaber, gegen die sich die deutsche Bevölkerung aber schon deshalb nicht militärisch verteidigen kann, weil dafür logischerweise die deutsche Regierung zuständig wäre. Übrigens ist allein die Heranziehung zum Militär eine der ältesten und wirksamsten Formen der Unterwerfung und Versklavung, womit die Sache noch unlogischer wird.
Den deutschen Geist, die deutsche Sprache oder Kultur oder meinetwegen das deutsche Volkstum, sein Liedgut oder was auch immer in dieser Richtung „deutsch“ sein könnte — und nicht mindestens undeutschen bis traditionell antideutschen regionalen Abweichungen unterliegt — militärisch zu verteidigen, wäre ein Gipfel der Blödheit, den selbst die Deutschen seit Kaiser Wilhelm II. nicht mehr erklimmen mochten. Zumal es in vielen fremden Ländern solche Elemente der Deutschheit gibt, die hoffentlich nicht mal vollvertrottelte Fanatiker in deutschen Außen- und Verteidigungsministerien auf ihrer To-do-Liste stehen haben.
Oder möchte jemand das Goethe-Institut in Shanghai, einen deutschen Gesangsverein in Oberösterreich oder meinetwegen im Banat, ein Oktoberfest in Connecticut, einen deutschsprachigen Radiosender in Namibia oder eine deutsche Bibliothek in Sibirien „verteidigen“, indem man mit Panzern und Raketen das ganze Viertel beziehungsweise die gesamte Gegend, wo diese Deutschigkeiten herumstehen, dem Erdboden gleichmacht?
Man könnte, immerhin, die deutsche Sprache verteidigen, die ich übrigens sehr schätze. Aber auch das geht nie und nimmer militärisch, wobei in diesem Fall zumindest kein bleibender Schaden zu erwarten wäre, solange nicht sämtliche Menschen, die die deutsche Sprache beherrschen, samt ihren Bibliotheken und sonstigen Aufzeichnungen komplett ausgerottet werden, was selbst für moderne Militärs eine ziemliche Kraftanstrengung sein dürfte — zumal zum Beispiel ein großer Teil der russischen Bevölkerung recht gut Deutsch spricht. Aber auch hier droht von außen keinerlei Gefahr, sieht man mal davon ab, dass von dieser Sprache im praktischen Alltagssinne nicht mehr viel übrig ist.
Aber selbst die Unterwanderung durch den absurdesten Unfug, vom „Service Point“ — den meine Oma für eine Art Geschirrhandlung hielt — über zweihunderttausend andere Blödsinnigkeiten bis hin zu NATO-Manövern wie „Defender 2025“ und „Steadfast Noon“ kann dieser Sprache nicht viel anhaben. Ebenso wenig übrigens wie der Versuch der faschistischen Regierung eines vermeintlichen Verbündeten, der russischen Bevölkerung im eigenen Staatsgebiet ihre Muttersprache auszutreiben.
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden, egal was man unter „Deutschland“ versteht, so viel ist nun hoffentlich klargeworden.
Selbst wenn die Wahnvorstellung unbelehrbarer Nazikinder, Nazienkel oder aus anderen Gründen phylogenetisch unheilbarer Russenhasser wahr würde und der böse Russe beschlösse, den jahrhundertelangen Provokationen, Angriffen, Einmärschen und sonstigen Zerschlagungsversuchen aus dem Westen ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben, selbst dann bestünde — wie gesagt — eine militärische Verteidigung ausschließlich in der Zerstörung und Verwüstung deutschen Territoriums. Und wer hätte etwas davon?
Selbst wenn also den Jüngern und Aposteln der irregewordenen deutschen Führung unter Merz, Pistorius, Baerbock, Habeck, Kiesewetter, Strack-Zimmermann und dem Bonzer-Toni gelänge, was zuletzt ihrem unbewussten Vorbild 1941 gelang, nämlich den bösen Feind im Osten zu zwingen, sich effektiv zu wehren, kann und wird es nichts bringen, dann den Volkssturm einzuberufen, um sich der selbst herbeiprovozierten Reaktion zu erwehren. Weil das einfach nicht geht.
Es wird eine Generation von Historikern, Soziologen, Politologen, Psychologen und Psychiatern beschäftigen, herauszufinden, wieso eine gewisse Gruppe von selbsternannten deutschen Führern in einer Art von transgenerationalem Wiederholungszwang achtzig Jahre nach dem Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Reichstag schon wieder auf die irre Idee gekommen ist, den Sack nun endlich zuzumachen. Vielleicht liegt das wirklich an der unterschwellig über die Jahrzehnte — und Jahrhunderte — gärenden und glimmenden Furcht, der mythische Russe werde sich eines Tages doch noch endgültig revanchieren für das, was ihm Deutsche über all diese Zeit zugemutet und angetan haben. Schlüssig erklären lässt sich das vielleicht nie.
Das muss man ja auch nicht. Es genügt, sich eine Tatsache klarzumachen, die — wenn eine hinreichende Mehrheit der Bevölkerung dieser sogenannten Bundesrepublik sie begriffen, verstanden, verinnerlicht hat — hinreichen könnte, um der Horde der massenmordlustigen Demagogen zumindest für eine gewisse Zeit den Stöpsel aus dem Darm zu ziehen, in dem sich ihre kriegstüchtige Niedertracht und Menschenverachtung blähen. Diese Tatsache sei noch einmal wiederholt:
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden. Punkt und basta, oder wie man hier in München früher recht undeutsch sagte: Aus, Äpfe, amen.
Moment, noch nicht ganz. Es sei hinzugefügt, dass der Wahn einer militärischen Verteidigung die deutschen Steuergeschröpften nicht nur fünfhundert, siebenhundert oder meinetwegen dreieinhalbtausend Milliarden Euros kostet, sondern damit auch Brücken, Straßen, Museen, Galerien, Bibliotheken, Theater, Parks und Gärten, Bahnhöfe und Bahnstrecken, Post, Energie, Gesundheitssystem, Müllabfuhr, die gesamte öffentliche Daseinsfürsorge und nicht zuletzt, sondern zuallererst Schulen, Universitäten, Kindergärten und die Zukunft, vor allem aber die Gegenwart, die geistige, seelische und körperliche Gesundheit ihrer Kinder.
Die Frage, was man mit all dem Geld — sei es „echtes“ Geld oder seien es per „Sondervermögen“ aus dem Boden gestampfte Schuldenfantastilliarden — anfangen könnte, die Frage, welch ein annäherndes Paradies auf Erden eine Bundesrepublik Deutschland ohne Militär sein könnte … diese Fragen können nicht gestellt werden, weil sie in das manipulierte Hirn des UnsDem-Mitläufers nicht hineinpassen.
Ganz abgesehen von all den Kollateralschäden, die ein Militär allein durch seine Existenz in die Seelen seiner Opfer hineinreißt. Ein Krieg mit Hunderttausenden, Millionen Opfern, die hinterher physisch, psychisch, mental verkrüppelt durch einen notdürftigen „Wiederaufbau“ humpeln und stolpern und aus Angst vor ihren traumatischen Träumen keinen Schlaf mehr finden, ist dafür gar nicht nötig. Dessen kurzzeitig heilsame Wirkung, die sich in schockierten Schwüren, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen oder gar eine Armee oder ähnliche kriminelle Vereinigungen zu bilden, verfliegt übrigens, wie wir seit 1950 bis heute erleben, binnen weniger Jahre und schlägt dann, wenn den letzten Zeugen die Stimme versagt, ins Gegenteil um. Was anderes hat man ja nicht gelernt.
Wäre die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Staat, hätte sie 1955, 1974, 1985, spätestens 1991 und allerspätestens 1999, als sie plötzlich wieder Angriffskriege führte, bemerkt, dass in ihrem Inneren etwas nicht stimmt. Vielleicht wäre da noch was zu retten, zu heilen gewesen. Heute, 2025, sind das Krebsgeschwür des militärischen Wahnsinns und seine Metastasen so tief in sämtliche Organe dieser einst versuchsweise „offenen Gesellschaft“ eingedrungen, dass anscheinend wirklich nichts mehr hilft. Dass die Bundeswehrmacht noch nicht offiziell so heißt, wie Konrad Adenauer sie prophetisch nannte, mag ein historischer Zufall sein.
Oder ein Rest von Scham: Man will hierzulande zwar nicht mehr wissen, dass es die verhassten „Russen“ waren, die unter anderem Auschwitz befreiten und den wenigen, die nicht dem durch und durch militärischen Naziwahn verfallen waren, eine Erlösung von Terror und Krieg verhießen, die sich als sehr schnell vorübergehend erwies. Aber „gegen Nazis“ ist man selbstverständlich auf Befehl weiterhin — wobei die „Nazis“, gegen die man heute ist, sich getreu der Logik von Ignazio Silone dadurch auszeichnen, dass sie keinen Krieg mehr wollen.
Irgendwann, denkt man sich, muss aus diesem „Nie wieder!“, das in meiner Kindheit noch zerbombte Mauerreste zierte und das heute, wenn es bei Aufmärschen der Kriegsbegeisterten gegrölt wird, nichts anderes heißt als „So schnell wie möglich wieder!“ — irgendwann muss daraus doch mal ein „Nie wieder!“ werden, das länger als zehn Jahre hält und nicht binnen achtzig Jahren in sein mörderisches Gegenteil pervertiert wird.
Dass man all das überhaupt erwähnen muss, ist traurig genug. Noch trauriger, dass die entscheidende Einsicht, die alle diese Probleme aus der Welt schaffen könnte, sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt:
Deutschland kann nicht militärisch verteidigt werden.
Oder sagen wir es zum Abschluss etwas anders: Von deutschem Boden darf nie mehr eine militärische „Verteidigung“ ausgehen.