Zerrissen zwischen Ost und West

Der Philosoph Rudolf Bahro wurde für seine Kritik an der DDR verfolgt und ausgewiesen. Das änderte jedoch nichts an seinem von Utopiewünschen angetriebenen Wohlwollen für dieses System, dessen Auflösung ihn bis in den Tod bekümmerte.

„Rudolf Bahro, wer war das noch gleich?“, so fragen viele. Seinerzeit war er als radikaler und intelligenter DDR-Dissident eine Weltberühmtheit, wie man so sagt. Sein Buch „Die Alternative“, das 1977 im Westen erschien, war eine Abrechnung mit der DDR und zugleich ein utopischer Entwurf für eine grundstürzend andere DDR. Die DDR-Führung dankte es ihm, indem sie ihn für acht Jahre in Bautzen gefangen halten wollte. Daraus wurden dann „nur“ etwas mehr als zwei Jahre. 1979 ging Bahro in den Westen. Ein Beitrag zum Ost-und-West-Spezial.

Im Westen wurde Rudolf Bahro zum Mitbegründer der Grünen, von denen er sich bald wieder trennte, weil er sie als „Systempartei“ erkannte. Aber davon will ich nicht reden. Ich war mit Bahro seit dem Sommer 1988 befreundet. Als er im Herbst des Jahres einige Tage in Westberlin war, wohnte er bei mir. Schier endlos waren unsere Frühstücksgespräche. Wir „symphilosophierten“ sozusagen hemmungslos, überlegten, wie man Deutschland „aufmischen“ konnte. Das ging sehr weit. Vielleicht zu weit. Beethoven spielte da eine gewisse Rolle; wir beide waren glühende Bewunderer des Menschen und seiner Musik. Von ihm war im Laufe unserer Freundschaft immer wieder die Rede. Mit Bahro gemeinsam ein Beethoven-Streichquartett zu hören war ein Erlebnis für sich. Ich habe wenige Menschen kennengelernt, die so intensiv und konzentriert klassische Musik hören konnten wie er.

Ich hatte Bahro im Frühjahr 1988 kontaktiert, weil mich sein Buch „Logik der Rettung“ beeindruckte. Nicht allem konnte ich zustimmen, aber das war zweitrangig. Das Buch war ein großer, in Teilen sicher auch naiver Entwurf, der aber enorme Strahlkraft besaß, wie ich fand. Viele haben das Buch damals kritisiert. Es wurde von manchen Kritikern geradezu lächerlich gemacht. Das fand ich ungerecht und ignorant.

An die sogenannte Wiedervereinigung war zunächst nicht zu denken. Die hatte Bahro ohnehin nicht gewollt. Als sie dann kam, war er dagegen. Er lebte in Niederstadtfeld in der Eifel, also fernab von Berlin. Dort war er die Zentralfigur einer kleinen ökologisch-spirituellen Gemeinschaft. Im „grünen Umfeld“ wurde er häufig als eine Art Kuriosität behandelt. Beethoven, Hölderlin, Hegel, Meister Eckhart, Luther, Müntzer und manch andere dieses Kalibers waren für Bahro sozusagen Kampfgefährten, die er oft und gerne heraufbeschwor. Sie waren für ihn nicht in erster Linie historische Gestalten, sondern lebendige Zeitgenossen. Da konnte und wollte kaum einer mitgehen. Ich konnte es, auch wenn unsere Kampfgefährten nicht durchgängig identisch waren. Beethoven war es jedenfalls. Ohne Beethoven ging es nicht. Was Müntzer anlangt, so schien er sich für eine Reinkarnation desselben zu halten. Es gab jedenfalls immer wieder Äußerungen, die in diese Richtung wiesen.

„… die nicht mit den Wölfen heulen“ heißt ein Essayband von Bahro (geschrieben 1967 bis 1969), in dem es primär um Beethoven, sekundär auch um Hölderlin und Fichte geht. Am Ende wird das Spätwerk Beethovens ausgelotet, vor allem die letzten Quartette. In der Großen Fuge, schreibt er, gebe es „trotz aller Bedrohtheit und Schärfe der Situation kein Verhalten, kein einziges Ritardando, kein Crescendo, kein Decrescendo. Der Held bleibt mit faszinierender Beharrlichkeit bei dem einmal angeschlagenen Gleichmaß seines Marsches. Wer so auszuschreiten vermag, ist auf alles gefasst gewesen, ehe er den ersten Schritt getan“. Da schwang auch eine idealische Selbststilisierung Bahros mit, die immer wieder bei ihm durchbrach. Meistens indirekt, gelegentlich auch direkt. Kritiker meinten: Der überschätzt sich selbst maßlos.

Zwar bezeichnete sich Bahro gerne als „Produkt der DDR“, aber seine eigentlichen Wurzeln waren tiefer gelagert, was ja schon der Hinweis auf die genannten Mitstreiter erkennen lässt. Er sah sich gleichsam als exemplarischen Deutschen, ohne dass er eine solche Formulierung jemals verwendet hätte.

Ihn interessierten die Deutschen, und er grübelte darüber nach, was es mit ihnen auf sich habe. Die Deutschen, sagt Nietzsche einmal, seien „von vorgestern und von übermorgen“.

Das ließe sich zwanglos auch auf Bahro anwenden. Bahro und ich haben, zusammen mit Rainer Langhans, einmal ein Seminar geleitet, das meiner Erinnerung nach den lapidaren und auch abgründigen Titel hatte: „Was ist deutsch?“. Das war irgendwann im Frühjahr 1990. Da spielte auch mein Buch „Nietzsche, Hitler und die Deutschen“ hinein, zu dem Bahro ein Vorwort geschrieben hatte, das kurz nach dem Mauerfall erschienen war und in der Noch-DDR eine breite Resonanz auslöste. Ob wir damals in dem Seminar dem „deutschen Rätsel“ irgendwie näher gekommen sind, möchte ich eher bezweifeln. Ich weiß nicht mehr, ob es einen Mitschnitt gegeben hat. Möglich wäre es. Aber solche Mitschnitte waren damals eher selten.

Über die DDR haben Bahro und ich immer wieder gesprochen. Er konnte sich niemals ganz lösen von diesem Thema, was durchaus verständlich war. Ich habe viel gelernt von ihm, was die Geschichte der DDR betraf. Für Bahro war die SED als Partei eine Religion. Als ich einmal, im Gegenzug, die herrschende Ideologie dieser Partei als Materialismus bezeichnete, sprach Bahro mit einer Vehemenz dagegen, die mich irritierte. In seiner berühmten Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der Noch-SED, am 16. Dezember 1989, die dann zur Umbenennung der SED führte, war dies deutlich spürbar. Bahro sprach aus einer tiefen emotionalen Betroffenheit heraus. Viele Delegierte quittierten seine Worte mit Hohn und Spott. Zum Beispiel als er von der nun hereinbrechenden „gesamtdeutschen Autogesellschaft“ sprach.

Bahro gab mir vorher die Notizen zu seiner Rede. Einen Tag nach dem Parteitag besuchte er mich und erzählte mir, aufgewühlt und erregt, was sich zugetragen hatte. Ich habe ihn niemals zuvor so betroffen erlebt. Es ging völlig eindeutig um Politik und um Religion. Bei Bahro eigentlich immer. Das eine war nie von dem anderen zu trennen.

Rudolf Bahro hat die DDR niemals auf den Schrotthaufen der Geschichte verwiesen. Er stand auch zu seiner früheren Parteikarriere in der SED. Er hatte nicht die mindeste Absicht, sich in dem sattsam bekannten und peinlichen Modus von seiner DDR-Vergangenheit als Parteifunktionär zu distanzieren. Er bot sogar dem inhaftierten Honecker an, vor Gericht für ihn auszusagen — was dieser ablehnte —, wohl wissend, dass es Honecker war, der ihm eine Haftstrafe von acht Jahren zugedacht hatte.

Seine Stasiakte hat er sich niemals angesehen. Es interessierte ihn gar nicht. Mir hat das imponiert. Man kann es auch seltsam finden. Sicher hing das auch mit seinem enormen Selbstbewusstsein zusammen. Er hätte es als unter seiner Würde gefunden, sich der allenthalben praktizierten „Siegerjustiz“ vonseiten des Westens anzuschließen.

Den Begriff „Siegerjustiz“ in diesem Kontext habe ich übrigens von Bahro übernommen.

Irgendwie war Bahro ein Unikum, kaum vergleichbar mit anderen Dissidenten. Er kam von weither. Und das trug ihn. Das gab ihm Halt. So war es letztlich die Geschichte, als deren Teil und Mitgestalter er sich verstand. Der postmoderne Nihilismus des „Anything goes“ war ihm fremd. Ihm setzte er, wenn man es so nennen will, einen metaphysischen Willensimpuls entgegen, obwohl er das Wort Metaphysik eher mied.

Rudolf Bahro starb am 5. Dezember 1997. Er wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Die Trauerrede an diesem 12. Dezember hielt ich. Gegen Ende der Rede heißt es:

„Wer war Rudolf Bahro, was war Rudolf Bahro? Ich habe darüber oft nachgedacht, und ich habe keine restlos befriedigende Antwort gefunden. Vielleicht war er ein mystisch orientierter Politiker oder ein politisch orientierter Mystiker, ein Mönch, den es danach drängte, Kulturrevolutionär zu sein, halb Luther, halb Müntzer, ein Reformator — als er mir im Sommer 1988 seine ‚Alternative‘ überreichte, schrieb er hinein: ‚Für Jochen Kirchhoff meine Utopie der Russischen Revolution‘ —, ein Reformator einer Kirche, die sich dann in Nichts auflöste. Vielleicht war er — und manchmal hatte ich diesen Verdacht — ein Musiker, dem es an Möglichkeiten fehlte, seine Befähigung auszuleben. Er war ein Denker, der im eigentlichen Sinne gar nicht denken. sondern wirken und handeln wollte. Wie viele, gerade deutsche, Denker verlangte es ihn nach der großen, befreienden Tat. Dann wieder war er ganz der spirituelle, der meditative Mensch.“

Rudolf Bahro ist weitgehend vergessen worden. Kaum jemand, der sich auf ihn positiv beruft oder bezieht. Daran wird sich erst einmal nichts ändern. Der Zeitgeist bläst in eine gründlich andere Richtung. Er wäre — und er war — ein Störfaktor. Mehr als die meisten denken. Doch heute Störfaktor zu sein ist kein Manko, sondern eher eine Auszeichnung. Unterstellt natürlich, diese Störung sei produktiver und intelligenter Art, kein dumpfes und unreflektiertes Aufbegehren, wie man es zur Genüge kennt.

Wer sich auf Bahro einlässt, und dies kann durchaus kontrovers geschehen, wird auf etliche Gedanken stoßen, die es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Man muss ihm nicht rundum zustimmen. Aber vor der Ernsthaftigkeit seines auch „geistig-moralischen Wollens“ kann man durchaus Respekt haben. Im Spannungsfeld von Ost und West war er eine repräsentative Figur, an die sich zu erinnern lohnt.

So denke ich jedenfalls. Sonst hätte ich diesen kleinen Text nicht geschrieben, der mir unter der Hand zu einer Art Bahro-Hommage geraten ist. Aber das ist vielleicht kein Fehler …