Zeitlose Erkenntnis
Je mehr wir die Zeit in den Griff zu bekommen versuchen, desto mehr entgleitet sie uns.
Wir messen sie. Wir haben oder verlieren sie. Wir sparen sie ein oder verschwenden sie. Seit Neuestem managen wir sie sogar. Die Zeit ist der scheinbar selbstverständlichste und zugleich rätselhafteste Faktor in unserem Leben. Ist ein Kunstwerk „zeitlos“ oder ein Augenblick scheinbar der Zeit enthoben, so erfüllt uns das mit Freude. Die Philosophie hat sich, seit es sie gibt, mit der Frage beschäftigt, was Zeit eigentlich ist. In den Jahren der proklamierten „Zeitenwende“ erhält diese Frage eine besondere Brisanz. Vielleicht schmeichelt es Olaf Scholz auch, sich als Protagonist einer Wendezeit zu fühlen. Die wirklich wesentlichen Erfahrungen im Leben allerdings wandeln sich nicht.
Das deutsche Wort Zeit (engl.: time, lat.: tempus, frz.: temps) geht etymologisch auf das englische Wort tide (Tide, Zeit zwischen Ebbe und Flut) zurück; im Niederdeutschen, das heute immer weniger Menschen sprechen, kennen wir den Ausdruck: keen tid = keine Zeit.
Mit Zeit füllen wir die Leere, vor der uns graut. Die Zeit lässt sich nicht auf etwas anderes zurückführen, es gibt nichts hinter oder vor ihr, es gibt nur etwas dazwischen. Dieses Dazwischen-Sein, die Zwischen-Zeit (engl.: mean-time, frz.: entre-temps) ist ein inter-essantes Phänomen, mit dem wir oft zu tun haben: Was soll ich in der Zwischen-Zeit machen? Das englische Wort mean kann hier doppeldeutig aufgefasst werden, worauf ich schon viele Engländer und Amerikaner aufmerksam gemacht habe: Das englische Adjektiv mean steht für mittelwertig, während das Verb to mean heißt: bedeuten.
Zwischen-Zeit, geschenkte Zeit, ist Leere und daher von so großer Bedeutung.
Wir konstruieren Gewissheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die Zeit, die wir messen, sondern wir messen Veränderungen, Prozesse.
Die Uhr (im Französischen: la montre, sie zeigt etwas; im Englischen: the watch, sie wacht über etwas) misst demnach nicht die Zeit, vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als Zeit bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren, wie Stunde, Minute, Sekunde. Daher fragt der Franzose nie nach der Uhr-Zeit, sondern nach der Stunde: Quelle heure est-il? Unser Zeit-Bewusstsein entwickelt sich in enger Verbindung mit Entwicklungsprozessen in der Umwelt. Dort, wo sich nichts ver-ändert, herrscht Zeit-Losigkeit. Wir leben heute in immer größerer Zeit-Not anstatt im Zeit-Wohlstand. Wir meinen, Zeit besitzen zu können, und unterliegen dabei der größten Illusion.
Aber trotz vermeintlicher Zeit-Nöte wird uns einmal im Jahr ein Zeit-Geschenk gemacht. Leider erleben es nur zu wenige bewusst genug. Jedes Jahr der gleiche Trick: Im Frühjahr nimmt man uns eine Stunde und im Herbst erhalten wir sie wieder zurück. Im Englischen nennt man dies: daylight saving, das Retten/Sparen von Tageslicht. Dass wir Zeit geraubt bekommen, das kennen wir nur allzu gut, das passiert uns täglich, nicht nur bei der jährlich wiederkehrenden Einführung der Sommerzeit. Dass wir aber mit einer Stunde beschenkt werden, das ist in unserer High-Tech-Zivilisation eher selten.
Die Uhr wird für eine Stunde ohnmächtig. Einmal im Jahr wissen wir für 60 Minuten nicht, was die Stunde geschlagen hat. Irgendwie haben wir Sehnsucht nach dieser Situation und trotzdem fürchten wir uns vor ihr.
Die schöne Illusion, eine Stunde geschenkt zu bekommen, wir dürfen sie haben – aber wir dürfen sie nicht leben. Das Geschenk wird den meisten von uns im Schlaf gemacht, dann, wenn wir schön still und brav in unseren Betten liegen, zwischen zwei und drei Uhr nachts. Es ist dies die lebloseste Zeit des Tages, und die geschenkte Stunde ist es damit auch. Sie scheint zu stören. Wen eigentlich?
Vielleicht die Deutsche Bahn AG, die um diese nächtliche Zeit die geringsten Organisationsprobleme mit dem Fahrplan hat. Aber warum sollen wir unser Leben eigentlich nach dem Schienenverkehr ausrichten? Lieblos gehen wir mit der geschenkten Stunde am Ende des Sommers um. Wir überleben die Zeit, aber wir leben sie nicht. Warum bekommen wir diese Stunde nicht zwischen 14 und 15 Uhr geschenkt? Damit könnten wir viel mehr anfangen. Das wäre doch großartig! Eine Stunde ohne Zeit-Takt. Eine Stunde Zeit, in der ich das Zeitliche bereits als Lebender segnen könnte. Freie Zeit, die nutzlos, aber nicht sinnlos ist.
Haben wir nicht zeitlebens (engl.: all one`s life, lat.: per omnem vitam) die göttliche Aufgabe und Herausforderung, unsere Zeitlichkeit (engl: temporality) zu transzendieren, um Zeit-Ewigkeit zu erfahren?
Wir sprechen im Alltag oft davon, dass die Zeit stehen geblieben ist. Zeit ist kein Objekt, kein Gegenstand, sie ist ein Orientierungsmittel, um Sicherheit in der sich wandelnden Welt zu gewinnen und zu schaffen. Es gibt viele Zeiten, denn alles will seine Zeit haben.
„Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“
„Die Zeiten wandeln sich und wir wandeln uns in ihnen.“
Zeit-Genossen und Zeit-Genossinnen sind Menschen, welche die Zeit genießen und nicht darüber lamentieren, dass sie keine Zeit haben oder finden, unter Zeit-Druck sind oder dass sie Zeit zu viel haben.
Wer in die Praxis der Kontemplation, den Versenkungsweg im Schweigen, tiefer eingedrungen ist, weiß aus langjähriger Erfahrung, dass ein Sitzen in Stille gegen die Uhr zum Kampf mit diversem Unbehagen führt. Nur, wer die Zeit sein lässt, kommt in den Leer-Raum, in die Schatzkammer von Wissen und Weisheit.
Der deutsche Imperativ: lass es sein! ist zutiefst bedeutungsvoll. Es geht darum, das Wesentliche anwesend sein zu lassen. Im Zustand der Zeit-Losigkeit, der Zeit-Freiheit, des Nicht-Verhaftet-Seins an Raum und Zeit, kommt unser wahres Wesen zum Vorschein. Es scheint von innen nach außen; das ist das Phänomen der Ausstrahlung. Viel zu viele Menschen, die im Scheinwerferlicht von Politik-Show und Entertainment stehen, leben von der Anstrahlung, und ihnen fehlt die zum Leben gehörende Ausstrahlung.
Jeder erleuchtete Meister strahlt von innen, von seinem Wesenskern, von seinem Zentrum der Nicht-Anhaftung an äußere Erscheinungen, an periphere Ereignisse. Ein Meister kennt keine Zeit-Not. Er lebt zeitfrei und zeitlos, präsent – von Vergangenheit und Zukunft unberührt.
Zeit-Management ist zu einem Modewort unserer westlichen Arbeitskultur geworden. All die konfektionierten Angebote für Eilige und Gehetzte – ob in Seminar-, Kalender- oder Buchform –, sie werben alle mit dem Erfolgsversprechen:
„Wer seine Zeit im Griff hat, hat Zeit.“
So ist es nicht. Am Ende aller Anstrengungen, die Zeit bis ins kleinste zu organisieren, steht immer die erfolglose Suche nach der gewonnenen Zeit. Warum? Es ist eine realitätsverleugnende Anmaßung, von „meiner/seiner/ihrer Zeit“ zu sprechen. Vorausgesetzt wird dabei ein Besitzverhältnis des Menschen zur Zeit. „Zeit“, so ein führender Trainer des Zeit-Managements, „ist das wertvollste Gut, das wir besitzen“ (engl.: time is money, Zeit = Geld), und daraus folgt die Konsequenz: Jeder muss mit der Zeit sparsam und pfleglich umgehen. Das Anmaßende liegt in dem für die Industriegesellschaft typischen Gestus, sich gegenüber allem, besonders gegenüber der Natur, als Herr und Besitzer zu verhalten.
Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, nach dem ewigen Leben im Hier und Jetzt ist groß.
Kein Geldvermögen vermag diese Gier zu befriedigen. Ein spiritueller Meister befriedigt weder Sucht noch Gier mit werbeträchtigen Heilsversprechen; Heilsverkünder, die mit dem Lockruf einer paradiesischen Zukunft ihr Geld verdienen, sind falsche Propheten. Der authentische, weise Meister zeigt den Pfad zum ewigen Leben in der Gegenwart auf; den wagemutigen Schritt in die Leere muss jeder Schüler selbst machen. Dieser Schritt ist kein survival training, kein Feuerlaufen oder waghalsiges Sporterlebnis, sondern der Beginn der Weg-Richtung: von der Peripherie zurück ins Zentrum, vom Außer-sich-Sein zum Bei-sich-Sein, von der Entwurzelung zur Verwurzelung (engl.: back to the roots, returning to our original source), von Vergangenheit und Zukunft zurück in die Gegenwart, die Präsenz.
Das Zeit-Management ist eine Illusions-Veranstaltung mit dem Ziel, die Zeit zur Ware, zum Marketingartikel zu machen. Je mehr Zeit wir planen, umso geringer wird unser Gestaltungsrahmen. Denn um über Zeit zu reden und diese zu kalkulieren, braucht man Zeit. Wir erhöhen unsere Zeitnot, indem wir uns mit unserer Zeitnot beschäftigen. Das Management der Zeit gleicht dem Kampf mit der Hydra, jenem Ungeheuer, dem für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen. Dieses Bild lässt sich auf viele derzeitige Probleme in unserer Gesellschaft anwenden.
Die Sucht nach dem Zeit-Reichtum macht uns immer ärmer an Zeit.
Nicht die große Freiheit erwartet uns nach erfolgreichem Zeit-Management, sondern die Diktatur des Terminkalenders. Ein leerer Platz im Terminkalender führt zu Schuldbewusstsein. Der horror vacui, der Schrecken vor der Leere muss mit allen Mitteln gemieden werden. So wird der nach Gottes Ebenbild geschaffene Mensch zunehmend zu einer Mülltonne, voll gestopft mit Terminen, ungesunden Lebensmitteln, Meinungen, Fantasien, Süchten, Bildern, Ängsten und Sorgen. Wo soll das nur hinführen?