Zeit ist nicht Geld
Aus Geschäftsterminen müssen Schwindelanfälle werden, soll die Welt die Kurve noch kriegen.
Inspiriert von Rüdiger Dahlkes Büchern „Krankheit als Symbol“ und „Die Psychologie des Geldes“ wie auch von spirituellen Gedanken Joe Dispenzas lässt Nadine Hilgers das Leben des Geschäftsmannes Lothar von Gierer anlässlich eines „äußerst wichtigen Business-Termins“ zum Stillstand kommen, auf dass alles noch einmal von vorne beginnen kann. Dass sich die Geschichte gleichnishaft auf unsere Zivilisation als Ganzes bezieht, versteht sich von selbst.
Schwitzend und fluchend raste Lothar von Gierer in seinem 600er Mercedes durch den unerträglich stockenden Stadtverkehr. Die Verkehrssituation, die Krawatte, der Anzug und nicht zuletzt seine eigene Körperfülle beengten ihn. Er bekam nur schwer Luft, und die Enge erregte ihn in hohem Maße. Doch anhalten und durchatmen konnte er nicht. Er musste pünktlich bei seinem Termin erscheinen. Schließlich, so dachte er, war der doch absolut wesentlich. Es ging um 500 Millionen Euro. Und nur er hatte es in der Hand, dieses Wahnsinnsgeschäft einzutüten. Wenn er es schaffen würde, dieses Projekt an Land zu ziehen, wäre er in der Region mit Abstand unbestrittener Marktführer im Bauwesen. Der Größte seiner Branche!
Zwar hatte seine Frau Bedenken geäußert. Sie meinte, er solle sich doch einmal Gedanken machen, ob es für die Menschen und die Natur in Guatemala nicht einer Vergewaltigung gleichkäme, wenn man dort einen in der Welt einzigartigen Industriestandort errichten würde. Es gab einen heftigen Streit, den er mit dem Satz “Frauen sollten sich um Dinge kümmern, von denen sie etwas verstehen! Fahr die Kinder zur Schule!“ beendete, um dann wutentbrannt das Haus zu verlassen.
Nur noch wenige Straßen trennten ihn von seinem Ziel. Und schon wieder eine rote Ampel! „Den gottverdammten Kerl, der die Ampeln hier schaltet, sollten sie vierteilen!”, brüllte er. Grün! Er gab Gas, um nach 300 Metern wieder scharf zu bremsen. Stau! „Du alte Kuh! Solche wie du dürften gar keinen Führerschein mehr haben!” Gemeint war eine alte Dame, die, durch das unmenschliche Verkehrschaos verunsichert, sehr ängstlich, sehr vorsichtig, aber vor allem sehr langsam fuhr. Endlich konnte er rechts abbiegen. Und Vollgas! Schon drei Minuten in Verzug. Er bretterte über den Parkplatz, der zu dem Hotel gehörte, in dem er die Auftraggeber treffen wollte, und verfehlte nur haarscharf ein Dienstmädchen, das überraschend aus einem Seitenausgang kam. „Können Sie nicht aufpassen?!”, fuhr er sie an.
Angekommen, sprang er aus dem Auto und hetzte zum Eingang des Foyers. Seine Hand langte nach dem Türgriff der riesigen Glastür und verfehlte ihn. Ihm wurde schwindlig. „Das ist die Aufregung”, dachte er. Durch die Tür erblickte er bereits die ersehnten Herren Niedrig und Dreister, welche auf dem edlen, massigen Ledersofa am Rande des Foyers angespannt auf ihre Uhren schauten. Er griff erneut nach dem Türgriff, diesmal mit Erfolg, und betrat das Gebäude. Mit einem gezwungenen Lächeln rief er bereits von der Tür aus: „Ich bitte die Herren, meine Verspätung zu entschuldigen ... der Verkehr!” Die Herren erhoben sich, und Lothar von Gierer versuchte so schnell und elegant wie möglich zu Ihnen hinüber zu hasten.
Da aber fing der orientalische Teppich mit den bunten, verschlungenen Mustern, der einen Teil des Foyer schmückte, an, unter ihm nachzugeben. „Verdammt, es zieht mir einer den Teppich unter den Füßen weg”, dachte er und schaute sich um. Der ganze Raum drehte sich. Ein elektrisierendes Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus, bis er plötzlich von einem gigantischen Schmerz durchzuckt wurde, vergleichbar mit einem Blitzschlag, der einen aus heiterem Himmel trifft.
„Jetzt ist es vorbei…!", so dachte er. Und er fiel und fiel, sich immer um die eigene Achse drehend, längst verschlungen in den bunten Mustern des Teppichs. Er war unfähig, sich der Macht, die ihn in einem irren Sog nach unten zog, zu widersetzen. Dann wurde es dunkel und still ...
Im Hotelfoyer indes herrschte helle Aufregung. Ein Krankenwagen wurde gerufen, und die Herren Niedrig und Dreister verließen nach kurzer Betroffenheitsbekundung zügig das Hotel. Keine Zeit. Der Krankenwagen kam und die Sanitäter hievten den leblosen Körper auf eine Trage und verfrachteten ihn in die Ambulanz, die ihn ins Krankenhaus fuhr …
Von alledem bekam Lothar nichts mit. Er war woanders. Die dunkle Stille war allumfassend, wohltuend und eben still ... unendlich still …
„Du weißt, warum du hier bist?” Lothar zuckte heftig zusammen. Wer war das? Woher kam diese Stimme? Sie klang so nah und vertraut, als käme sie aus ihm selbst, tief aus seinem Inneren. Plötzlich wurde es heller, und ihm fiel auf, dass er die ganze Zeit bloß die Augen geschlossen gehabt hatte. Das war ihm irgendwie peinlich. Die Peinlichkeit verflüchtigte sich allerdings sogleich wieder, als er überrascht feststellte, wo er war. Er saß in einem allein von einem Kaminfeuer erhellten heimeligen Raum, an einem alten großen Holztisch in einem gemütlichen Lehnstuhl. Das Feuer, behaglich prasselnd, wärmte einen großen Kessel, der über ihm hing. Aus dem Kessel duftete es betörend.
„Ich habe dich etwas gefragt ...”
Wieder zuckte Lothar zusammen. Nun sah er, wer da sprach. Eine beeindruckende Gestalt stand vor ihm: eine Frau mit langem, weißem Haar, gekleidet in ein fließendes, purpurnes Gewand. Ihre Augen leuchteten. Und trotz ihres offensichtlich hohen Alters strahlte sie eine atemberaubende, lebendige Schönheit aus. Ihr Blick war ernst und doch liebevoll auf ihn gerichtet.
„W-wer sind Sie? Und ... wo bin ich?... Ich habe keine Zeit ... mein Ter…min….“
Seine letzten Worte waberten durch den Raum und lösten sich alsbald auf.
„Zeit spielt hier keine Rolle“, lächelte die Frau. „Du weißt also nicht, warum du hier bist. Gut. Dann werde ich dir deine Fragen beantworten: Du bist in die Anderwelt eingetreten, jenseits von Raum und Zeit. Dein Körper allerdings befindet sich woanders. Ihm geht es augenblicklich nicht so gut ...”
Unentwegt lächelte sie. Lothar allerdings war gar nicht zum Lächeln zumute. Er war verwirrt und zu Tode geängstigt. Sie aber schien dies zu spüren und beruhigte ihn: „Fürchte dich nicht. Du selbst hast es in der Hand, ob deine Geschichte ein gutes Ende findet. Zu mir kommen all jene, die ihre letzte Chance bekommen ... Du darfst mich Großmutter nennen, wenn du magst ...”
Ihr Lächeln hatte sich bei diesen Worten zu einem breiten Grinsen gewandelt. Veräppelt sie mich? dachte Lothar. Und er spürte eine Wut aufkommen. „Hören Sie, Lady, ich hab zwar keine Ahnung, wer Sie sind, aber ich habe Wichtigeres zu tun, als mit einer irren Alten ein nettes Pläuschchen zu halten ...”
Ein zerreißender, alles vernichtender Schmerz durchfuhr ihn, und das Grinsen der Alten war zu einer widerlichen Grimasse verzerrt. Dann hörte er ihre Worte, scharf und bestimmt:
„Es gibt nichts, was für dich wichtiger ist!”
Von überall her schienen diese Worte zu kommen. Er fühlte sie durch Mark und Bein schießen. Wie ein unterwürfiger Hund fiel er vom Stuhl auf den Rücken und winselte plötzlich nurmehr: „Was um Himmels Willen muss ich tun, sagen Sie es mir ...”
Sogleich war sie wieder da, die sanfte, mütterliche Gestalt, und die Schmerzen waren fort. „Du solltest dich um Dinge kümmern, von denen Frauen mehr verstehen als du! Dein Herz, dein Gefühl ist vertrocknet, wie ein schrumpeliger, alter Apfel. Du bringst nichts als Leid über dich, deine Familie und die Menschen, du verachtest die Erde und ihre Geschöpfe, du siehst nicht mehr mit den Augen, hörst nicht mehr mit den Ohren des Herzens. Deine Stimme ist nicht die eines liebenden Wesens. Deine einzigen Götter sind Geld und du selbst! Deshalb habe ich dich geholt!”
In der Hoffnung, das Gefühl der Ohnmacht endlich zu beenden, fragte Lothar von Gierer nach einigen Sekunden Stille erneut:
„Was muss ich tun?”
„Du darfst, wenn du willst”, so ihre Antwort.
„Was??!“ Er flehte förmlich.
„Zwei Möglichkeiten bleiben dir. Entweder du wendest dich deiner weiblichen, liebenden Seite zu und erkennst, dass es nichts Wichtigeres für die Menschen gibt als das Leben selbst, oder ich werde dir diese Seite für immer nehmen“.
„Was bedeutet das?“, fragte er.
„Du wirst in einem Krankenbett erwachen, wenn du in deine Welt zurückkehrst. Der Schlag hat dich getroffen. Kümmerst du dich nicht um das Weibliche in dir, wird deine linke Körperhälfte für immer gelähmt sein. Zeit mag Geld sein in deiner Welt, mein Sohn, doch die Rechnung geht nicht auf! Wenn du gelähmt und abhängig von der liebenden Fürsorge anderer dein Dasein fristest, wirst du erkennen, dass du mit all deinem Geld keine gesunde und glückliche Lebenszeit zurückkaufen kannst. Öffne dein Herz und lass diesen heimtückischen egoistischen Wurm zurück. Dann kannst du leben! Ich biete dir diesen Lebensvertrag.“
Lothar war nun klein. Ganz klein. Er erinnerte sich, wie er einmal war, bevor in ihm die Gefühle verdorrten, und wie er begonnen hatte zu glauben, dass dies so richtig sei.
„Ja, ich will! Wo kann ich unterschreiben?”
„Sei versichert, mein Sohn, solltest du den Vertrag brechen, bin ich zur Stelle. Doch ich bin auch da, um dir den richtigen Weg zu weisen, du musst nur hören. Die leise Stimme in deinem Inneren, das bin ich. Und das bist du...!“
Lothar erwachte in einem weißen, grellen Raum. Seine linke Seite war schmerzhaft starr. Es war kalt hier ... sehr kalt. Alles war starr, leblos, tot.
Endlich erkannte er, warum es so kalt war: Wer, zum Kuckuck, hat das Fenster aufgelassen? So dachte er noch, dann ließ er die Gedanken gehen. Er ließ los. Das nächste, was er wahrnahm, war ein Vogel, der durch das geöffnete Fenster hineinflog und sich auf einem Fernseher an der gegenüberliegenden Wand niederließ. Sein Gefieder leuchtete in Aquamarin, Gold und Türkis. Die Sonnenstrahlen, die er mitgebracht zu haben schien, spielten mit den Farben und offenbarten Lothar atemberaubende Lichtfrequenzen. Der kleine Kerl plusterte sich zu beachtlicher Größe auf, spreizte die Flügel, erhob sich und flatterte auf Lothar zu, zog über ihm drei Kreise und nahm Lothars Aufmerksamkeit mit in das Spiel des Lichts mit den unendlichen Formen und Farben. Geometrische Muster pulsierten und vibrierten in überweltlichen Reflexen und waren verwoben mit Allem. Alles war eins und es war ein grenzenloser Frieden hier.
Als das Bewusstsein zurückkehrte, in den Körper, die Zeit, den Raum, war die Botschaft noch immer deutlich: Ich bin ganz. Ich bin heil. Ich bin eins mit der Natur. Ganz ruhig lag Lothar von Gierer da.
Da öffnete sich die Tür und ein ihm vertrautes und geliebtes Gesicht lugte durch den Spalt. Und noch eins ... und noch eines. Seine Frau, seine beiden Kinder. Und es war ihm, als höre er wieder das Feuer prasseln. Wohltuend erwärmte es seinen Körper.
Hat sie jemals so atemberaubend schön ausgesehen? So fragte er sich. „Ja, bestimmt! Bloß hast du es nicht gesehen, deine Augen waren zu“, sagte eine leise Stimme in ihm ...
Was aus Lothar geworden ist? Nun, das weiß niemand so genau. Aber die Vögel pfeifen von den Dächern, dass er nun die Zeit damit verbringe, seinem Herz zu folgen … vielleicht sogar bis nach Guatemala ...