Yes, he could!
Barack Obama hat die Entwicklung forciert, dass die Identitätspolitik aus ihrer Nische heraus in die große Politik kam.
Vor zehn Jahren gab es mehr Ironie. Und weitaus mehr Traute. Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein, wir leben in einer Epoche der betroffenen Leichenbittermienen. Jedes Wort, das gesprochen, getippt oder ausgestrahlt wird, wird auf die Goldwaage gelegt — und zerrissen, wann immer das jemand für nötig empfindet. Vor ungefähr zehn Jahren war es noch möglich, Diskurse zu führen — die liefen nicht immer rund, gerade in ökonomischen Fragen traf man auf eine Einheitsfront, die gar nicht bereit war, Wirtschaftsfragen abseits der Angebotsorientierung zu erörtern. Aber Gesellschaftsfragen waren noch erstaunlich offen im Vergleich zu heute. Eine Dekade danach erkennt man die Welt kaum wieder. Allzu viele haben regelrecht Angst, etwas Falsches zu sagen. Und Falsches ist ja dieser Tage fast automatisch gesagt. Bestimmte Themen umschifft man am besten sofort, denn sie könnten gesellschaftliche Gruppen treffen, die laut aufschreien. Tatvorwürfe wie Sexismus, Antisemitismus oder Rassismus kommen schnell auf — recht häufig, ohne dass man erkennen kann, warum. Wer dieser Tage von zwei Geschlechtern spricht, dem unterstellt man flugs faschistoide Tendenzen. Wie hat das so kommen können? Was ist passiert, dass diese Identitätspolitik mit all ihren Radikalismen und Übertreibungen über uns kam? Und dies in so kurzer Zeit?
Autoritärer Terror in Hollywood
Quentin Tarantino ist ein wandelndes Filmlexikon. Als junger Mann hat der heutige Starregisseur in einer Videothek gearbeitet, nach Feierabend Videokassetten mit Filmen aus allen Genres mit nach Hause genommen und sie dort verschlungen. Das merkt man seiner Arbeit an, jeder Film strotzt nur so von Reminiszenzen an allerlei Werke der Filmgeschichte — manche davon sind nur für Cineasten erkennbar. 2012 erschien sein Film „Django Unchained“. Er gründet auf einen Italowestern von 1966, den Sergio Corbucci mit Franco Nero in der Hauptrolle drehte. Das Wort „Nigger“ lässt Tarantino seine Protagonisten fast drei Stunden lang in Dauerschleife sagen. Könnte er sich das heute noch leisten?
Natürlich gab es auch schon 2012 Kritik am sogenannten N-Wort. Sie blieb aber verhalten, obgleich der schwarze Regisseur Spike Lee in den Medien deutlich Kritik übte. Als einer der Darsteller, Samuel L. Jackson, nach dem N-Wort gefragt wurde, erwiderte er rückfragend, was das sein solle — der Frager sollte das Wort nennen, wenn er schon danach frage. Im deutschen Feuilleton fand sich damals kaum eine kritische Stimme. „Django Unchained“ wurde als Meisterwerk gefeiert, hier und da thematisierte man den inflationären Gebrauch des Wortes. Aber das war es dann schon. Anfang 2013 wurde Tarantinos Stück dann gar als möglicher bester Film für den Oscar nominiert.
Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hollywood, die Kritiker und die gesamte Gesellschaft heutigentags völlig anders mit so einem Film umgehen würden. Gerade an der Filmindustrie lässt sich erkennen, was sich in den letzten zehn Jahren verschoben hat.
Eine Oscar-Nominierung für den besten Film ist seit einigen Jahren mit Quoten versehen: Minderheiten sollen vorkommen — Schwule, Schwarze oder Transsexuelle müssen eine Rolle spielen. Wenn nicht, klappt es mit der Nominierung nicht. Ein cineastischer Meilenstein wie „Der Pate“ hätte heute jedenfalls keine Chance mehr, prämiert zu werden.
Die Quote wäre zwar bei „Django Unchained“ erfüllt, schließlich rächt sich der schwarze Hauptdarsteller Jamie Foxx als ehemaliger Sklave an den Weißen. Das müsste aber nichts heißen, denn das besagte Wort sprudelt ständig aus dem Drehbuch — und damit will man heute nichts mehr zu tun haben.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein aufklärender Gebrauch von sensibler Terminologie völlig missverstanden wird. Ein aufklärendes Moment hatte das Wort in Tarantinos Film natürlich: Es sollte die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit verdeutlichen, die herablassende Menschenverachtung der Weißen im System der Sklaverei.
Der US-amerikanische Autor Ben Shapiro hat sich in seinem Buch „Der autoritäre Terror. Wie Cancel Culture und Gutmenschentum den Westen verändern“ mit dieser Veränderung befasst — in einem Kapitel widmet er sich auch der Unterhaltungsindustrie. Shapiro ist ein konservativer Moderator und Essayist. Seine Betrachtung über die Veränderungen in den Vereinigten Staaten wirkt an mancher Stelle etwas zu plump, der Leser hat gelegentlich das Gefühl, als halte Shapiro das konservative, das Republikaner wählende Amerika für frei von Sünde, während die Demokraten aus der Hölle entsprungen seien. Er nennt die Demokraten sogar „Linke“: Aus amerikanischer Sicht mag das ein passendes Label sein, als europäischer Beobachter fremdelt man mit dieser Einordnung. Shapiro gelingt es aber trotz einiger Makel recht bildhaft, ein Sittenbild des heutigen Amerika zu zeichnen. In weiten Teilen könnte man das auch auf die Bundesrepublik übertragen.
Wahlkampfkampagne 2012
Der Autor spricht von einer Renormierung, die stattgefunden und alle Teile der Gesellschaft erfasst habe. Wer heute „woke“ spreche, der gehöre zur neuen Herrscherklasse, der zeige sich als Mitglied einer aufstrebenden neuen Elite. Aus dem akademischen Betrieb heraus etablierte sich eine Weltanschauung, die dezidiert auf Sprache achtet und jede Regung als Mikroaggression wertet, dabei das Zusammenleben zu einem Spießrutenlauf werden lässt. Die Fallstricke der woken Agenda sind ja hinlänglich bekannt — sie infiziert nebenher alle Bereiche des öffentlichen Lebens: Etwa den Arbeitsalltag oder gar die Wissenschaft. Shapiro widmet sich dieser Felder ausgiebig in seinem Buch.
Und er liefert eine Erklärung, wie es dazu hat kommen können. Denn Gender Studies gibt es freilich schon seit den Neunzigerjahren. Aber sie waren eine Nische: Wie konnten sie und andere Theorien dieser Art plötzlich zur Staatsräson werden? Shapiro berichtet von der Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten: Barack Obama. Die geriet nämlich ins Stocken. 2008 hatte er noch souverän die Wahl für sich entschieden. Seine Kampagne richtete sich damals an die gesamte Nation, er wollte ein Präsident aller Amerikaner sein. Nach vier Jahren seiner Amtszeit machten ihm das die Schwarzen zum Vorwurf, sein Zuspruch sank in der Black Community. Es stand in den Sternen, ob er sich gegen seinen republikanischen Konkurrenten Mitt Romney durchsetzen würde.
An dieser Schwelle zu einer möglichen Niederlage reifte die Idee: Man musste das gute Amerika gegen das vermeintlich schlechte in Stellung bringen.
Die Kampagne Obamas richtete sich nun an jene Gesellschaftsgruppen, die strukturell benachteiligt waren — oder sich auch nur benachteiligt fühlten. Man sprach gezielt die schwarze Gemeinde an, die Homosexuellen, Transsexuellen und Frauen, die man per se für Opfer der Moderne hielt. Natürlich erlebten viele dieser Gruppen tatsächlich Benachteiligungen, gar keine Frage. Aber Obama tat etwas, was US-Präsidenten eigentlich bisher vermieden hatten: Er wollte nicht mehr der Präsident aller Amerikaner sein, sondern seine Präsidentschaft an Minderheiten ausrichten. Er inszenierte einen Kulturkampf: Hier die anständigen Demokraten – dort die Republikaner, die nur Böses im Schilde führten. Plötzlich betonte der erste schwarze US-Präsident häufig, dass er vom politischen Gegner rassistisch angegriffen wurde – seine Klagen waren nicht immer unberechtigt, aber früher ließ er es an sich abprallen. Nun rückte er dergleichen in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung.
Die Critical Race Theory, die es seit den Siebzigerjahren gab, konnte sich in all den Jahren zuvor bei den Demokraten nicht durchsetzen. Sie schien dem US-Mainstream generell zu radikal. Natürlich gab es rassistische Übergriffe, aber zu glauben, dass die Weißen grundsätzlich Rassisten seien, die das System geschaffen haben, um weiter Schwarze unterdrücken zu können, schien eine abwegige Interpretation der Wirklichkeit zu sein. Die Demokraten waren noch immer auf Kurs Lyndon B. Johnsons, der erste identitätspolitische Anwandlungen mit gesellschaftspolitischen Reformen, der Great Society, kanalisieren wollte — und teils auch kanalisierte. Bis Obama die Identitätspolitik als Vehikel für seine Wiederwahl entdeckte, hatten die „Johnson-Demokraten“ innerhalb der Partei die Deutungshoheit inne – jetzt verloren sie sie.
Obamas Manichäismus
Shapiro erläutert, dass Barack Obama mit seiner neuen Marschroute vor einem Problem stand. Schwarze Amerikaner taten sich nämlich beispielsweise nicht sonderlich als Freunde der gleichgeschlechtlichen Ehe hervor. Und selbst für illegale Zuwanderung hatten sie kein großes Faible. Diese Bruchstellen innerhalb der potenziellen Obama-Wählerschaft konnten nur mit einer Maßnahme verdeckt werden: Das vermeintlich gute Amerika, das sich jetzt hinter der Kampagne des US-Präsidenten formierte, musste als Opfer deklariert werden — als Opfer des niederträchtigen und weißen Cis-Amerika. Die Critical Race Theory war in der Mitte der Nation angekommen. Ebenso wie die Gender Studies.
All diese identitätspolitischen Theorien mochten radikal sein. Aber Radikalität war nun ein dringendes Gebot, schließlich hatte man es nicht mit einem politischen Kontrahenten zu tun, sondern mit einem manichäischen Aufeinandertreffen: mit dem Überlebenskampf des Guten im Reich des Bösen.
Der Moralismus, unter dem Gesellschaftsdiskussionen heute in den Vereinigten Staaten leiden, bekam hier seine Reputation verliehen. Mittlerweile hat er weite Teile der westlichen Welt erreicht. Die USA exportieren eben nicht nur Coca-Cola, sondern auch Diskurse — das bringt der Kulturimperialismus mit sich. Als die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 in die Grenzöffnung seitens der Merkel-Administration mündete, bediente die Bundesregierung dieselben Muster wie Obama drei Jahre zuvor bei seinem Wahlkampf: Sie inszenierte den Einlass als Widerstreit des Guten gegen die Kräfte der Finsternis — Dunkeldeutschland nannte der damalige Bundespräsident gar jene, die Kritik übten an der Zuwanderung. Der Geist war aus der Flasche, seither ist Debatte in Deutschland immer eine Frage der Moral geblieben.
Sukzessive schwappten dann alle Exzesse der Identitätspolitik über den Atlantik zu uns. Radikale Ideologien erfassten die Bundesrepublik. In Seminaren kann man heute auch hierzulande lernen, dass man als weißer Mensch per se bevorzugt ist – auch als Bürgergeldempfänger. Denn der Rassist stecke dem Weißen in den Genen. Daher sollte er sich auch nie äußern, wenn es um Belange dunkelhäutiger Menschen ginge. Er könne nicht wissen, was Diskriminierung bedeutet. Die Critical Race Theory wurde auch hierzulande zur Prämisse identitätspolitischen Handelns. Ideologien dieses Schlages erfassten sukzessive den politischen Apparat und lassen auch Deutschland langsam, aber sicher in eine endgültige Spaltung geraten.
Denn genau das ist Identitätspolitik, nicht nur nach Einschätzung von Ben Shapiro: Sie führt zur Separierung, sorgt dafür, dass es mehrere Amerikas, mehrere Deutschlands gibt. Die gab es vorher auch schon, aber die Politik wahrte wenigstens den Anschein — über die übliche Klientelpolitik hinaus — eine vollumfängliche Gesellschaftspolitik zumindest zu erwägen.
Dieses Gebot ist völlig veraltet. Die US-Demokraten unter Joe Biden leiden heute noch an den Folgen der Obama-Kampagne, an der der heutige US-Präsident als damaliger Vizepräsident ja auch maßgeblich beteiligt war: Sie werden als Spalterpartei wahrgenommen, der von ihnen initiierte Kulturkampf ist längst Normalität geworden. Obama selbst spaltet bis heute die Nation: Die eine Hälfte hält ihn für einen großen Präsidenten — die andere hasst ihn. Extreme Polarisierungen: Darauf wollte sein Wahlkampf für 2012 schließlich hinaus.