Woke oder nicht woke

Vorurteile und fehlende Selbsterkenntnis sind das größte Hindernis für eine friedliche Gesellschaft — wer es mit Letzterer ernst meint, muss die anstrengende Bewusstseinsarbeit auf sich nehmen.

Der aus den USA stammende Begriff „woke“ bedeutet so viel wie „wach sein“ und bezog sich ursprünglich auf rassistische Diskriminierung. „Stay woke!“ hieß so viel wie: „Schau hin und tu was, wenn Schwarze schlecht behandelt werden!“ Im Laufe weniger Jahre erweiterte sich die Bedeutung auch auf Themen wie Transsexualität, Feminismus und eine gendergerechte Sprache. Der Kabarettist Dieter Nuhr äußerte den Eindruck, es handele sich um eine kleine Gruppe von Menschen, die nur in den Medien als eine Mehrheit dargestellt werde. Er sagte: „Ich bin im normalen Leben noch nie gefragt worden, mit welchem Pronomen ich angesprochen werden möchte“ (1). Inzwischen werden sogar Klimaaktivisten mit in den Woke-Topf geworfen: „Klimapolitik, Geschlechterpolitik, Identitätspolitik: Eine kleine lautstarke Minderheit drückt der Gesellschaft ihre Ansichten auf. Wer Zweifel äußert, wird in die rechte Ecke gestellt“ (2). Es wird viel über die Fehler und Übertreibungen bei dieser Bewegung debattiert; die Themen, um die es ihr im Kern geht — das Bewusstsein für Unrecht und die Zerstörung des Planeten durch den Menschen zu schärfen und etwas dagegen zu tun —, geraten dabei aber in den Hintergrund. Es wäre an der Zeit, dass woke und auch nicht woke Menschen sich fragen, ob ihre Methoden und ihre Kritik wirklich zielführend sind, ob wir uns nicht vielmehr alle von den wesentlichen Debatten ablenken lassen.

Jetzt verstehe ich, warum es Friedens-Arbeit heißt. Es ist anstrengend und heute fühle ich mich wieder einmal kurz davor, das Handtuch zu werfen, und möchte einfach mitmotzen und zurückbeißen. Ursache ist eine Lappalie, ein kleiner Satz in einer Wohlfühlzeitung, die mich mal auf andere Gedanken bringen sollte — weg von Spaltung, Krieg und Weltlage, hin zu Kreativität, innerer Ruhe und Schönheit.

Seit Wochen treibt mich das Thema mit den Klimaaktivisten und ihren Aktionen in Museen, die Woke- und Gender-Debatte und die fehlende Auseinandersetzung „meiner Rubikon-Filterblase“ mit Rassismus und Sexismus sowie meine Positionierung als Journalistin in diesem ganzen Gemenge um.

Also versuche ich nun endlich, Position zu beziehen. Nicht für Sie, lieber Leser und liebe Leserinnen, sondern für mich. Um Klarheit zu gewinnen, wo ich stehe und was ich mir wünsche. Denn ohne Klarheit bewegt sich nichts, nicht in meinem Leben und auch nicht in der Gesellschaft. Und genau hier liegt vielleicht der Hase begraben.

Den Blick weiten

Ich las heute im Flow-Magazin, einer „Zeitschrift ohne Eile, über kleines Glück und das einfache Leben“, die ich schon lange abonniert habe, über das Projekt der „Human Library“, das Menschen miteinander ins Gespräch bringt, die sich sonst nicht begegnen würden, um so Vorurteile zu überwinden und mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern. Eine großartige Idee, denke ich.

Natürlich war mir klar, dass diese Zeitschrift zum Mainstream gehört und es hatte mich daher nie überrascht, dass dort immer wieder über die Pandemie und die Lockdowns geschrieben wurde, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Immerhin wurde zumindest ein Umgang mit den psychischen Auswirkungen auf die Menschen thematisiert. Während ich dies schreibe, sehe ich, sie gehört zu Bertelsmann, what else?

Und so überraschte es mich heute Morgen beim Schreiben und Recherchieren immer weniger, was ich über das Projekt der „Human Library“ las, das mich zunächst sehr ansprach. Doch dann ließ mich dann ein Satz in zeitweiliger Ohnmacht und Resignation erstarren:

„Ich möchte, dass Menschen in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen bekommen, aber Vorurteile stehen dem oft im Weg. (…) Ich glaube, dass viele daran interessiert sind, über den Tellerrand zu schauen, aber nicht immer bietet sich die Gelegenheit dazu. Wir wollen Interessierten die Chance geben, den Blick zu weiten. Eine Meinung ist schnell gebildet, ein schlechter Witz schnell gemacht, wenn man sich seiner Vorbehalte bewusst wird, entsteht mehr Empathie.“

So lauten die Worte des niederländischen Initiators dieses Projekts, Martijn Bergsma. Die kann ich voll unterschreiben. Tolle Idee, diskriminierte Menschen mit anderen in Kontakt zu bringen, damit diese sich die Geschichte der ersteren anhören. Deshalb „Human Library“ oder „Living Library“, es sind lebendige Geschichten, in die Interessierte eintauchen können.

Der blinde Fleck

Dann wird Shirley Hartlage von der Hamburger Version des Projekts zitiert:

„Die Interessierten wissen dabei nur ungefähr, auf welchen Menschen sie treffen werden. Das sorge für einen Überraschungseffekt, für eine gute Irritation, sagt Hartlage. Verschwörungstheoretiker, Nazis und Putin-Sympathisanten werden es sicher nicht sein. Die haben die Human Librarys in aller Welt nicht in ihrem ‚Bestand‘, denn eine offene, tolerante Haltung ist Voraussetzung für die Aufnahme.“

Mir erstarrte das Blut im Gehirn. Beklemmung. Wut. So fühlt sich Ausgrenzung also an. Ich verdächtige die Redakteurinnen von Flow, mich mindestens in eine dieser Kategorien einzuordnen, ohne überhaupt mit mir zu sprechen. Ein Gefühl großer Ungerechtigkeit, vor allem, weil sie als solche nicht anerkannt wird. Schließlich bin ich ja selbst schuld, wenn ich die NATO kritisiere, Putins Außenpolitik mir bisher weniger Angst macht als die der USA, wenn ich Zweifel an der Flugzeuggeschichte zu den Einstürzen des World Trade Centers hege und die Gefahr durch das neuartige Coronavirus nicht so groß empfand, wie sie dargestellt wurde.

Ich denke sofort an Daniele Ganser und seine Erklärung, dass ein Krieg immer damit ermöglicht wird, indem eine Menschengruppe „entmenschlicht“ wird und man ihr Begriffe überstülpt wie „Kommunisten“, „Aggressoren“ oder „Terroristen“. Dadurch scheint es ethisch vertretbar, diese zu bekämpfen. Dass „Verschwörungstheoretiker“ ebenso ein Kampfbegriff ist, ist mir auch nicht neu. Warum erschüttert es mich heute so?

Weil es Journalistinnen sind, die über Achtsamkeit schreiben, denen ich bisher zugutehielt, dass sie sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Beziehung zu uns selbst konzentrieren, Mainstream hin oder her. Weil es ebendiese Medien und Menschen sind, die sich für Zusammenhalt einsetzen. Wie können ausgerechnet sie nicht sehen, wann sie selbst intolerant und dogmatisch sind?

Berechtigte Vorwürfe

Ich möchte der Flow-Redaktion eine E-Mail schreiben und fragen, ob sie diesen offensichtlichen Widerspruch in diesem Satz nicht sehen. Denn sie schließen eine Menschengruppe aus, weil diese angeblich nicht offen ist. Ich möchte sie fragen, woran sie erkennen, ob ein Mensch zu einer der drei Kategorien gehört? Ob sie dafür nicht erst mit der Person sprechen müssten? Doch ich habe in der Vergangenheit schon mehrere solcher Mails verschickt und keine Antwort erhalten.

Eine davon richtete ich an Ronja von Wurmb-Seibel, die über konstruktiven Journalismus schreibt und als junge Frau allein nach Afghanistan zog, um dort mit den Menschen zu sprechen und sie als solche zu zeigen. In ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen“ schrieb sie dann auf einmal von Querdenkern und AfD-Wählern und ich fragte sie per Mail, ob sie auch zu diesen Menschen gereist sei, um sie als solche kennenzulernen, bevor sie sie alle verurteilt. Oder billigt sie den eigenen Landsleuten nicht das gleiche Recht zu wie den Afghanen?

Und genau das ist der berechtigte Vorwurf meiner Rubikon-Kolleginnen und -Kollegen an die „Woke-Bewegung“ oder Klimaaktivisten: Diese Widersprüche, das Nicht-Hinterfragen ihrer Aktionen, ihres Weltbilds, ihre dogmatische Selbstgerechtigkeit. Und es ist auch mein Vorwurf an alle Menschen — auch die Nicht-Aktivisten und eher desinteressierten Bürger —, die kritisch Denkenden Begriffe wie „Querdenker“ und „Verschwörungstheoretiker“ überstülpen, während wiederum rationale Menschen aller politischen Sichtweisen spirituelle oder einfach achtsame Personen als „Esoteriker“ herabwürdigen.

Die Sprachpolizei arbeitet einseitig und sieht es nicht. Sie klären auf, wie verletzend Sprache sein kann und nutzen sie dann genau so — verletzend.

„Zigeuner“ und „Farbige“ sind Worte, die diskriminierend benutzt wurden und wenn es mir sachlich erklärt wird, wie hier auf der Seite von Amnesty International, kann ich es auch gut nachvollziehen. Ich wünsche mir von allen, die Wert auf Political Correctness legen, aber auch, dass sie sich mal fragen, wie Verschwörungstheoretiker und Nazi als Bezeichnungen verwendet werden? Etwa nicht diskriminierend? Diese Einseitigkeit macht mich aggressiv. Durchatmen. Dann die Frage: Wem nützt es, dass ich aggressiv werde?

Meine Rubikon-Kollegin Madita Hampe schreibt über Klimaaktivisten als „Klimakleber“ und Rubikon-Autor Nicolas Riedl in seinem Interview mit dem Künstler und Autor Raymund Unger gar von „woken Kunstzerstörern“. Daher kritisiere ich uns selbst, indem ich frage: Tun wir mit diesen Begriffen nicht genau dasselbe? Andere Menschen pauschal zu verurteilen, ohne mit ihnen gesprochen zu haben? Ist das förderlich für unser Anliegen der Aufklärung und den Frieden innerhalb unserer Gesellschaft?

Das Dilemma mit der Wahrnehmung

Ja, meine Kolleginnen haben gute Gründe dafür: Sie haben recherchiert und einige Stimmen von Aktivistinnen in anderen Medien angesehen und angehört. Und genau das werden die Journalisten vom Flow-Magazin auch getan haben. Dabei werden sie genau das gefunden haben, was ihrem Weltbild entspricht. Immerhin haben wir alle auch einen Filter in unserem Gehirn, der Informationen für uns vorsortiert und nur einen sehr geringen Teil aller verfügbaren Informationen in unser Bewusstsein vordringen lässt, damit wir nicht verrückt werden.

Jeder kennt Situationen, in denen uns das auffällt: Wenn wir nur noch Schwangere sehen oder rote Opel Corsa, die uns zuvor nie aufgefallen sind. Waren sie schon vorher da oder ist da ein neues Phänomen?

„Das retikuläre Aktivierungssystem, kurz auch RAS genannt, ist ein Netzwerk im Hirnstamm, welches im Jahr 1957 im Scientific American erstmals beschrieben wurde. Es fungiert als Sortierungssystem und verarbeitet pro Sekunde 400 Millionen Informationseinheiten, welche über unsere Sinne ins Hirn kommen. 99.99 Prozent dieser Informationen werden jedoch als unwichtig erachtet und automatisch aussortiert. Sie gelangen deshalb nicht in unser Bewusstsein.

Doch was wird als wichtig erachtet? Vereinfacht gesagt, sucht das RAS in unserer Umwelt nach Mustern, die ungewöhnlich oder gefährlich sind. Wenn solche Muster gefunden werden, gelangt diese Information ins Bewusstsein und der Körper wird entsprechend reagieren.

Das RAS ist jedoch nicht nur aktiv, um Gefahren zu erkennen. Unser Hirn sucht ebenfalls konstant nach Informationen, welche bereits mit unseren Überzeugungen und Glaubenssätzen übereinstimmen“ (3).

Journalismus ist immer subjektiv, vor allem, wenn wir das nicht bewusst anerkennen

Das wirkt sich natürlich auch auf eigene Rechercheergebnisse aus. Deshalb sollten wir doch vor allem nach Beispielen suchen, die unserem Weltbild widersprechen, oder? Ist das nicht die Aufgabe des Journalismus? Und des kritischen Denkers, der wirklich herausfinden möchte, wie „die Wahrheit“ ist, oder sich dieser zumindest annähern?

Also frage ich nun auch umgekehrt: Woran erkennen wir „woke Kunstzerstörer“ oder „Klimakleber“? Natürlich daran, dass sie irgendwo festkleben oder Suppe auf Kunstwerke schütten. Doch haben wir unsere Vorurteile geprüft?

In der unabhängigen französischen Publikation Mediapart las ich folgendes Zitat von Kathryn West, der Sprecherin von „Just Stop Oil“:

„Wir haben beschlossen, Museen ins Visier zu nehmen, um die Aufmerksamkeit, insbesondere der Medien, auf die Klimakrise zu lenken. Und das funktioniert: Diese Aktionen haben bereits ein viel größeres Echo hervorgerufen als andere, die wir seit mehreren Monaten durchführen. Ich verstehe, dass die Menschen empört sind. Aber warum sind sie es nicht, wenn es in Pakistan Überschwemmungen gibt? Unsere Proteste sind gewaltfrei. Wir wollen niemals Kunstwerken schaden, wir zielen nur auf solche, die durch eine Glasscheibe geschützt sind.“

„Kunstzerstörer“ ist somit auch schon ein diffamierender Begriff, den mein Kollege hier einfach so verwendet. Darin kommen der Frust und die Wut zum Ausdruck, die auch ich spüre, wenn ich von manch selbstgerechten Aktivistinnen oder Journalistinnen lese oder höre. Doch mich frustriert es ebenso, wenn wir, die wir doch die Spaltung angeblich durchschaut haben, in dieselben Fallen tappen, aber den anderen gegenüber kein bisschen Verständnis entgegen bringen, dass es auch ihnen passiert.

Wenn wir mit einem Finger auf andere zeigen, zeigen drei Finger auf uns

Es ist anstrengend, aber wir kommen nicht drumherum, uns selbst immer wieder zu hinterfragen, denn das System sitzt auch in den aufgeklärtesten Köpfen noch sehr tief und nutzt jede kleine Unbewusstheit, um sich weiter am Leben zu halten.

Und deshalb empfehle ich hier nun ein Buch der französischen Bestsellerautorin Emilia Roig, die für ihren intersektional feministischen Blick auf die Welt bekannt ist: „Why we matter — Das Ende der Unterdrückung“. Darin erklärt sie sehr berührend anhand ihrer eigenen Geschichte, die sowohl von Privilegien als auch Diskriminierung bestimmt ist, warum es so wichtig ist, dass wir uns mit den Themen Rassismus, Sexismus und Unterdrückung von Minderheiten auseinandersetzen — und ich möchte hinzufügen: Uns nicht durch dogmatische Nachplapperer und Moralisten von diesen wichtigen Themen ablenken lassen. Lesen Sie das Buch als Übung, als Herausforderung für Ihr Weltbild, gerade, wenn Sie enormen Widerstand fühlen.

Dieses Buch hat mir als weißer Mittelschichteuropäerin sehr geholfen, nicht mehr ständig defensiv zu reagieren, wenn solche Themen aufkommen, weil Emilia Roig uns Leser und Leserinnen sehr einfühlsam abholt und darüber schreibt, wie sehr es in uns Scham auslöst, wenn wir eigene Privilegien anerkennen. Ein wichtiger Satz aus ihrem Buch lautet:

„Das Ende der Unterdrückung, so utopisch es klingen mag, ist nichts anderes als ein Bewusstseinswandel: hin dazu, dass wir ALLE gesehen, gehört und geachtet werden — nicht nur einige wenige.“

Auf dem Buchrücken steht zusammenfassend:

„Emilia Roig deckt die Muster der Unterdrückung auf und leitet zu radikaler Solidarität an. Sie zeigt — auch anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie —, wie Rassismus und Black Pride, Trauma und Auschwitz, Homofeindlichkeit und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen.“

Was ich aus ihrem Buch lernte, ist, dass ich mich besser in andere Menschen hineinversetzen kann, wenn ich ähnliches erlebt habe. Wurde ich als Frau zum Beispiel einmal diskriminiert, kann ich mich hineinversetzen, wie es sich für alle anderen anfühlt, die aufgrund ihres Körpergewichts oder ihrer Hautfarbe diskriminiert wurden.

Jeder kämpft gegen sein eigenes Unrecht oder alle gemeinsam gegen alles Unrecht

Somit lautet mein Fazit: Nach zweieinhalb Jahren Coronamaßnahmen müssten doch alle Maßnahmenkritiker extrem feinfühlig dafür geworden sein, was es bedeutet, fast ein ganzes Leben lang diskriminiert zu werden oder als Volk sogar über Jahrhunderte.

Und auch umgekehrt:

Wie kann es sein, dass diskriminierte Minderheiten und alle jene, die sich für die diskriminierten Minderheiten engagieren, nicht das Unrecht erkennen, das in den letzten Jahren allen über die Pandemiemaßnahmen Andersdenkenden widerfuhr?

Die Fragen sind eher rhetorisch zu verstehen. Natürlich sehen sie es nicht, weil sie nicht darüber nachdenken. Doch denken wir darüber nach, was wir mit den anderen gemeinsam haben?

Die Sackgasse

In meinem Fall wären das die Flow-Redakteurinnen und Ronja von Wurmb-Seibel. Und hier merke ich, wie ich in eine Sackgasse gerate: Ich kann ja noch so viel Verständnis für deren Weltsicht haben, aber sie sprechen trotzdem nicht mit mir. Die Frage lautet also: Wie gehe ich damit um? Und hilft es mir vielleicht, wenn zumindest ich beschließe, dass ich mit allen weiterhin sprechen werde und versuchen werde, es anders zu machen, indem ich konsequent schaue, was ich mit einem Menschen gemeinsam haben könnte, und wo unsere blinden Flecken sich gleichen? Führt hier der Weg in den Frieden?

Vielleicht ist es auch wichtig, mich immer nur auf die Menschen zu konzentrieren, die mir im echten Leben begegnen anstatt auf Wildfremde, und hier konsequent und beständig die kleinen Brücken zu bauen, damit wir als Menschen zueinanderfinden und andere ihre Vorurteile abbauen können, in meinem Fall über „Verschwörungstheoretikerinnen“, Pazifistinnen und „Esoterikerinnen“.

Wenn ich das Handtuch werfen möchte, stelle ich immer aufs Neue schnell fest, dass das gar nicht geht. Mein Leben verliert jeglichen Sinn und Elan, wenn ich nicht weiter in meinen kleinen Schritten für ein friedliches Miteinander wirke. Manchmal ist es anstrengend und frustrierend, oft ist es erfüllend, sinnstiftend, bereichernd und manchmal sogar wie ein kleines Wunder.

Denn in meinem Alltag begegnen mir bisher alle Menschen mit Wohlwollen und einem offenen Ohr, egal in welcher Informationsblase sie gerade unterwegs sind. Also ist auch hier wichtig, dass ich zwischen „Medienrealität“ und meiner Realität auf der Straße unterscheide.

Erkenntnis

Seitdem ich nun selbst diese Angst vor Ausgrenzung habe, spüre ich am eigenen Leib, wie frustrierend es ist, dass dieses Gefühl von vielen nicht anerkannt wird. Und dann erinnere ich mich, wie ich früher — bevor ich das Buch von Emilia Roig und andere Bücher von französisch-arabischen und afrikanischen Autorinnen las —, nichts mit den Themen Feminismus und Rassismus anfangen konnte.

Ich fand das alles übertrieben, unsere Gesellschaft frei und tolerant. Und dann kamen die Pandemie und das Lesezirkelprojekt, bei dem ich all diese Bücher entdeckte, und ich stellte fest: Ich war nie betroffen, also konnte ich gar nicht fühlen, wie sehr diese Menschen auch unter kleinsten Diskriminierungen im Alltag litten.

Jetzt können geimpfte Menschen, die den Medien glaubten, nicht nachvollziehen, wie schlimm es sich für all die nicht geimpften angefühlt hat, so angegriffen zu werden. Marcus Klöckner und Jens Wernicke wollen mit ihrem Buch „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ eine Aufarbeitung anstoßen, die so wichtig ist.

Ablenkung der Systemkritiker vom Wesentlichen

Und genau dasselbe wollen die Aktivistinnen und Aktivisten der „Woke-Bewegung“, eine Aufarbeitung des Unrechts, das Minderheiten erfahren.

Warum wird das in den Medien alles so übertrieben mit den Gendersternchen und den Gesetzen, die Operationen für Minderjährige möglich machen sollen? Vielleicht, damit wir Kritiker uns über diese Übertreibung aufregen, aber bloß nicht mit diesen Minderheiten zusammenfinden?

Denn unsere Ablehnung auf diese Übertreibung, empfinden viele von ihnen wohl als Ablehnung ihres Anliegens und hier gilt es für mich, achtsam zu sein und den Minderheiten Gehör zu verschaffen, während wir natürlich zugleich die Übertreibung beim Namen nennen müssen. Kapern wir uns diese Themen zurück, indem wir sie genauso thematisieren wie das Corona-Unrecht.

Links, rechts, woke, nicht woke, Mensch

Nur, weil wir das Unrecht, das den Minderheiten in unserer Gesellschaft widerfährt, nicht sehen, heißt es nicht, dass es nicht existiert. Und mit Minderheiten meine ich auch arme Menschen. Weiße, deutsche Menschen, die prekär leben und selten gehört werden.

Polizeigewalt erlebten Maßnahmenkritikerinnen und Polizeigewalt erleben viele nicht weiße Menschen seit Langem. Flüchtende anderer Kulturen erfahren in Europa Ablehnung und Ausgrenzung. Arme weiße Europäer auch.

Ich lasse mich in überhaupt keine politische Gruppe mehr einsortieren. Ich bin ein Mensch und wenn überhaupt, dann bin ich eine Friedensarbeiterin als politisches Wesen. Und es kostet mich Kraft und Mühe, Selbstbeherrschung und auch immer wieder Tränen, um das zu bleiben. Es tut weh, hinzusehen, wo Unrecht passiert, es tut weh, selbst Unrecht auszuhalten, es tut weh, meine eigenen Gedankenmuster, Schuldgefühle, Scham und Selbstvorwürfe auszuhalten.

Von Aida Al-Shibli aus Palästina lernte ich, dass es wichtig ist, nicht allein für sich zu trauern. Und ebenso sieht es mit der Friedensarbeit aus. Und dem konstruktiven Journalismus. Suchen wir uns Gleichgesinnte und spiegeln und kritisieren wir uns gegenseitig, um endlich das System der Spaltung in unseren eigenen Köpfen aufzulösen.

Gemeinsamkeiten

Egal, zu welcher Strömung sich ein Mensch zählt, egal ob Mainstream oder alternative Medien, die meisten Menschen wollen wohl:

  • eine gerechte Gesellschaft, in der alle gesehen, gehört und geachtet werden,
  • eine Politik, Industrie und Wirtschaftsweise, die endlich anerkennen, wo die größten Gefahren für das Überleben der Menschheit und eines Großteils der Tierwelt sind — Militär, Vergiftung der Böden, Abholzung der Wälder, Ausbeutung der Rohstoffe —, und die all den Wahnsinn beenden.

Hindernisse, die wir ebenso gemeinsam haben:

  • Ehrlichkeit mit uns selbst: Wir wollen Frieden, aber auch Recht haben; wir wollen die Umwelt schützen, aber unsere Lebensweise nicht ändern; Wir wollen, dass alles besser wird, aber nehmen uns selten Zeit, Klarheit darüber zu gewinnen, was genau wie anders werden soll und was wir selbst dabei tun.
  • Eine Politik, Industrie und Wirtschaftsweise, die nicht anerkennen, wo die größten Gefahren für das Überleben der Menschheit und eines Großteils der Tierwelt sind — Militär, Vergiftung der Böden, Abholzung der Wälder, Ausbeutung der Rohstoffe —, und die all den Wahnsinn somit nicht beenden, sondern uns mit „Klimadebatten“ und „CO2-Diskussionen“ ablenken.

Bei vielen Mainstream-Aktivisten fehlt das Hinterfragen der westlichen Regierungen und Medien sowie die Bereitschaft zu debattieren, zu diskutieren, ja vielleicht auch respektvoll (!) zu streiten. Bei alternativen Aktivisten fehlt das Hinterfragen der eigenen Haltung gegenüber Andersdenkenden, weil wir glauben, nicht mit ihnen reden zu können, oder aber, dass sie nicht mit uns reden, was durchaus der Fall sein kann.

Recht haben oder zumindest versuchen, etwas zu ändern?

Doch, was für eine Wahl haben wir, die wir uns auch in alternativen Medien informieren? Auf den Tag warten, wo die Propaganda wie durch ein Wunder aufhört und „die anderen“ irgendwie von allein aufwachen und uns in ihre Arme schließen? Oder selbst nach Lösungen suchen, nach Projekten und Menschen, die bereits Verantwortung übernehmen und konkret etwas tun? Immer wieder das Gespräch mit denen suchen, die uns gegenüber mit Ablehnung reagieren, oder zumindest bei uns selbst darauf achten, nicht genau das zu tun, was wir ihnen vorwerfen? Die anderen sind natürlich immer auch ein Spiegel für uns.

So lautet zumindest mein Fazit. Ich möchte Frieden. Ich möchte meinen Beitrag leisten und ich weiß, dass ich die anderen nicht ändern kann — so sehr mich das ankotzt.

Natürlich wäre auch mir lieber, die anderen würden sich endlich anders verhalten. Als erwachsene Frau komme ich aber nicht umhin, danach zu schauen, wo meine Verantwortung für mein Unbehagen liegt.

Vielleicht ändert meine Anstrengung, immer wieder mein Verhalten und meine Gedanken zu prüfen, nicht viel oder gar nichts an der Welt, aber es ändert einiges in meinem privaten Umfeld und in meinem Gemüt. Allein dafür lohnt es sich schon.

Für mein eigenes Wohlbefinden und Wachstum, nehme ich an Seminaren zur Schulung meiner Liebesfähigkeit teil, suche und finde Gleichgesinnte, besuche Gemeinschaften und Menschen, die an Lösungen arbeiten und vor allem immer auch an sich selbst und ihrem Weltbild. Das hilft mir an Tagen wie heute immer wieder, nicht zu resignieren. Und die Wut zwar rauszulassen, aber nicht darin zu versauern.

„An Zorn festhalten ist wie Gift trinken und erwarten, dass der Andere dadurch stirbt“ (Buddha).

Ehrlichkeit, Klarheit, Fragen

Weil ich Zitate so liebe, lasse ich nach Buddha nun den weisen Sven Böttcher zum Beispiel Klima zu Wort kommen, weil er sehr gut beschreibt, worauf es auch mir ankommt:

„CO2 spielt eigentlich keine Rolle, wenn es darum geht, dass wir grundsätzlich etwas ändern müssen. Hier ist auch erst mal egal, welche Probleme nun menschengemacht sind oder nicht. Wir müssen was ändern, egal woher die Probleme herrühren, weil wir so nicht weitermachen können — auf und mit der Erde —, wenn wir den Lebensraum für unsere Kinder und Kindeskinder — weltweit — erhalten wollen. Wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen, und wir müssen wirklich zusammenarbeiten, auch die unterschiedlichsten Haltungen und Meinungen gelten lassen sowie den Impuls des ‚Gemeinsam-sind-wir-stärker‘ wahrnehmen — nicht gegen die Natur, sondern mit der Natur, deren Teil wir immer sind. (…)

Sofern wir uns klarmachen, was wir wollen. Nicht diffus ‚alles soll anders sein, besser‘, sondern konkret. Was soll sich ändern, was bitte nicht? Was kostet uns das? Gibt es danach nur keine Bananen mehr oder auch keinen Urlaub und keine Rente mehr? Was wollen wir opfern — selbst wenn unsere Nachbarn oder die ganze Welt weitermachen wie bisher?

Ganz gleich, was wir jetzt machen — Voraussetzung wäre Klarheit. Wir sind ein Prozent der Weltbevölkerung, wir sind verwöhnt, und unseren Kindern soll es ja nicht schlechter gehen als uns. Aber wenn wir uns nicht klarmachen, worum es geht und was zu tun ist, kommt weiterhin nur gefährlicher Unsinn dabei heraus: grünes Wachstum, Schrottprämien, E-Autos und jedes Jahr zunehmender Ausstoß an Müll und Schadstoffen.“

Was wollen wir also? Recht haben oder die Spaltung überwinden? Was sehen wir alles nicht, weil es uns bisher nicht betrifft? Wovor genau haben wir Angst? Was macht uns Freude? Wofür stehen wir morgens auf? Was können wir im Alltag tun? Wie gelangen wir zu unserer Wunschgesellschaft? Glauben wir überhaupt daran, dass eine menschlichere Welt möglich ist? Wenn nicht, warum informieren wir uns dann überhaupt? Was ist unser Anteil? Wie lernen wir, liebevoller zu sein — uns selbst gegenüber und anderen? Was stempeln wir alles als Quatsch ab, und verhindern wir damit vielleicht jegliche Veränderung in eine menschlichere Richtung? Was haben Verletzlichkeit und Scham mit all diesen Debatten zu tun?

Ich habe mehr Fragen als Antworten und überlasse Rainer Maria Rilke das Schlusswort:

„Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“



Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.zeit.de/news/2022-11/07/debatte-ueber-woke-sein-und-cancel-culture
(2) https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/woke-linke-aktivisten-druecken-der-gesellschaft-ihre-ansichten-auf-18463943.html
(3) https://nlplabor.ch/blog/fokus-im-gehirn-wie-du-hirngerechte-ziele-setzt/#:~:text=Das%20retikul%C3%A4re%20Aktivierungssystem%2C%20kurz%20auch,unsere%20Sin



Weiterführender Hinweis: Daniele Ganser führte mit dem Kommunikationsberater Wlad Jachtchenko ein hilfreiches Gespräch zum Thema „Die Macht der Sprache“, wo sie ebenfalls thematisieren, wie wir damit umgehen, wenn wir mit Begriffen diskreditiert werden.