Wohnen als Bürgerrecht

Während in Deutschland die oft beklagte Wohnungsnot weiter zunimmt, versorgt Singapur sechs Millionen Menschen mit Wohnraum.

Die Mieten in Deutschlands Städten steigen und steigen. Das Vermieten von Wohnungen ist aber nur selten eine lukrative Geldanlage, das Bauen noch weniger, das Angebot schrumpft. Luxussanierungen und die Gentrifizierung attraktiver Innenstadtanlagen verdrängen Mieter mit geringerem Einkommen und Rentner. Die gut gemeinten Instrumente, die dem politisch entgegenwirken sollten, wie das Ferienwohnungsverbot, die Zweckentfremdungs-Verordnung oder die Mietpreisbremse, haben wenig bewirkt. Die Bauwirtschaft ist in eine Krise geraten, alle politischen Konzepte und Wahlversprechen scheitern an der Wirklichkeit. Der soziale Wohnungsbau der Nachkriegszeit in Westdeutschland ist zur nostalgischen Geschichte geworden. Dass eine solche Negativentwicklung kein unabwendbares Schicksal sein muss, zeigt ein Blick ins ferne Asien.

Mit dem Skandal von 1982 um das gewerkschaftseigene Wohnungsbauunternehmen „Neue Heimat“ und seine illegalen Geschäfte wurde das Image des gemeinnützigen Wohnungsbaus bereits beschädigt. Im vorigen Jahr ist der Bestand an Sozialwohnungen, der in der alten Bundesrepublik noch bei vier Millionen lag, unter die Millionengrenze gesunken. Die Immobilienbranche kommentiert dazu, dass die Rahmenbedingungen für dieses Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr stimmen, und dass niemand Sozialwohnungen baut, wenn er damit kein Geld verdient.

Warum ist sozialer Wohnungsbau anderswo möglich?

Dass mit dem entsprechenden politischen Willen, staatlicher Förderung und guter Organisation sozialer Wohnungsbau gelingen kann, zeigt das Beispiel Singapur. Der Stadtstaat, etwas kleiner als Hamburg, hat etwas mehr als sechs Millionen Einwohner. Davon sind 3,6 Millionen Staatsbürger, 550.000 Ausländer mit einer Dauer-Aufenthaltsgenehmigung und fast 1,9 Millionen ausländische Arbeitskräfte ohne Bleiberecht.

Statt Wohnungsnot gibt es einen funktionierenden Wohnungsmarkt in allen Segmenten, von der Eigentumswohnung bis zum gehobenen Kondominium und zur absoluten Luxusvilla für zweistellige Millionenbeträge. Die Eigentumswohnungen für die große Mehrheit der Singapurer sind sozial, weil sie durch staatliche Subventionen für Ersterwerber und günstige Kredite bezahlbar bleiben. Wie das seit 64 Jahren organisiert wird, ist beeindruckend.

Das „Housing and Development Board”

Singapur ist 1965 unabhängig geworden, die britische Kolonialmacht hatte aber schon seit 1959 eine weitgehende politische Eigenverwaltung zugestanden. Der inzwischen legendäre Gründervater und langjährige Premierminister Lee Kuan Yew übernahm damals ein schwieriges Erbe, geprägt durch eine heterogene Bevölkerung, hohe Arbeitslosigkeit und zahlreiche Slums. Seine Regierung entschied sich 1960, mit der Gründung des „Housing and Development Board“ (HDB) für die Mehrheit der Bevölkerung erschwingliches Wohneigentum zu schaffen. Lee wollte eine Gesellschaft von Wohnungseigentümern und damit eine direkte Beteiligung der Bürger an der Zukunft des Landes.

Während in Europa vorwiegend Mietwohnungen gefördert wurden, entwickelten Lee und sein Team die politische Vision, mit Wohneigentum den sozialen Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl zu fördern.

Der Erfolg dieser Politik zeigt sich heute in der hohen Eigentumsquote von 89,7 Prozent, davon77,8 Prozent in HDB-Wohnungen. Zu den 1,13 Millionen HDB-Bestandswohnungen kommen jährlich mehr als 20.000 neue hinzu. In Deutschland besitzen mit 43,6 Prozent weniger als die Hälfte der Bevölkerung eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus, und Mieter müssen mit immer weiter steigenden Mieten rechnen. Die Bau- und Immobilienwirtschaft fordert deshalb, dass der Bund den Erwerb von Wohneigentum stärker unterstützt, schrieben die Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) erst vor kurzem.

Kann ein regulierter Wohnungsmarkt auch marktwirtschaftlich funktionieren?

Singapur ist durch seine wirtschafts- und marktfreundliche Politik reich geworden, aber bei der sozial entscheidenden Wohnraumversorgung greift der Staat regulatorisch und finanziell erheblich ein. Das HDB ist ein „statutory board“ unter dem Schirm des Ministeriums für Nationale Entwicklung; eine hybride staatliche Organisation, die Wohnungsbau und Stadtplanung zusammenführt. Der Bau der Wohnungen wird durch Ausschreibung an private Bauträger vergeben und durch Standardisierung vieler Bauteile preisgünstig gehalten.

Bei der hohen Bevölkerungsdichte wird in Singapur hoch gebaut, die HDB-Häuser sind in der Regel 18 bis 25 Stockwerke hoch. Die Häuser werden aus seriell vorgefertigten Teilen zusammengesetzt, sind aber mit dem DDR-Plattenbau, der am Anfang in den 1960er Jahren Vorbild gewesen sein soll, nicht zu vergleichen und von hoher Qualität. Die Wohnungsgrößen fangen bei 35 Quadratmetern für zwei Zimmer an und enden bei 130 Quadratmetern für fünf Zimmer. Weil die Familien kleiner werden, bietet das HDB zunehmend kleinere Wohnungen an, auch spezielle Formate für Senioren und Alleinstehende. Der Verkauf wird über ein Ballotage-System organsiert, das Einkommen und Familiengröße berücksichtigt, vergleichbar mit dem Berechtigungsschein für Sozialwohnungen in Deutschland. Die verfügbaren neuen Wohnungen werden öffentlich ausgeschrieben. Meist gibt es deutlich mehr Bewerbungen als angebotene Wohnungen, deshalb werden auch Wartezeiten und Familiengröße mitberücksichtigt.

Bei aller Standardisierung sind die Gestaltungsmöglichkeiten für die Käufer enorm. Grundrisse und Ausstattung der Wohnungen sind im Rahmen des „Build-to-Order“-Programms (BTO) erstaunlich vielseitig, bis hin zu einer Art Loft ohne Zwischenwände zur freien Ausgestaltung. Großen Wert legt das HDB auf die Bauqualität und die sanitäre und elektrische Ausstattung. Das steigert den Wiederverkaufswert und sorgte in den letzten Jahren für höhere Preissteigerungen als auf dem privaten Wohnungsmarkt. Ein Unterschied zwischen den beiden Marktsektoren ist für Deutsche ungewohnt. Nach dem Vorbild der britischen Kolonialherren wird zwischen “freehold“ als unbegrenztem Eigentum und „leasehold“ als Eigentum auf Zeit unterschieden, letzteres im HDB-System für 99 Jahre nach dem Erwerb einer neuen Immobilie.

Aber auch ältere Wohnungen mit deutlich geringerer Restlaufzeit erzielen noch gute Verkaufserlöse, in Spitzenlagen durchbrechen immer mehr die Millionengrenze von umgerechnet mehr als 700.000 Euro. Im letzten Jahr waren das mehr als tausend Wohnungen. Die stetigen Preissteigerungen haben HDB-Wohnungen seit jeher zu einem lohnenden Investment gemacht, was natürlich auch zu Spekulation führte, weil auch subventionierte Wohnungen nach fünf Jahren verkauft werden können. Bei überhitzten Marktkonditionen greift die Regierung regelmäßig mit Abkühlungsmaßnahmen ein, im Extremfall mit der Rückforderung der Subvention.

Der Spiegel schrieb am 13. Januar 2025, dass deutsche Immobilienbesitzer im Alter mehr Geld haben als Mieter. In Singapur können ältere Eigentümer die Restlaufzeit sogar auf 30 oder 35 Jahre verkürzen und sich dafür eine beträchtliche Differenz auszahlen lassen. Die Einstiegspreise sind im Verhältnis zum gegenwärtigen mittleren Familieneinkommen von fast 5.000 Euro, einem der höchsten in Asien, durchaus sozial, zumal die Ersterwerber je nach Familien- und Einkommenssituation einen Zuschuss von bis zu 85.000 Euro erhalten können. Im vergangenen Jahr lagen die Kaufpreise für eine 2-Zimmer-Wohnung je nach Lage und Größe zwischen 72.000 und 170.000 Euro und für 4-Zimmer-Wohnungen zwischen 215.000 und 403.000 Euro. In privaten Kondominien kosteten die Wohnungen im Durchschnitt knapp zwei Millionen Singapur-Dollar, mehr als 1,4 Millionen Euro.

Was den Ersterwerb entscheidend erleichtert, ist die Möglichkeit des Käufers, seine 25 Prozent Anzahlung aus dem Guthaben seiner Altersversorgung zu bezahlen. Diese ist, anders als das Umlageverfahren in Deutschland, eine gut verzinste und staatlich garantierte Sparform, genannt Central Provident Fund, in die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam einzahlen. Für den Rest gibt es günstige Kredite, und für die meisten Käufer halten sich die Kreditzinsen in vorteilhaften Grenzen.

Um die laufenden Kosten und die Instandhaltung brauchen sich die Besitzer von HDB-Wohnungen kaum Sorgen zu machen. Die Nebenkosten für Gas, Wasser, Strom, Lift, Müllabfuhr und Reinigung der Hausflure sind im Vergleich zu Deutschland sehr günstig, ebenso die Grundsteuer. Wie überall gibt es auch in Singapur arme Familien, die sich selbst mit Subventionen keine Eigentumswohnungen leisten können. Für diese stehen subventionierte Mietwohnungen zur Verfügung, Obdachlosigkeit ist praktisch unbekannt. Ebenfalls ungewöhnlich ist, dass es, anders als in anderen Großstädten der Region, keine verblichenen Fassaden und verwahrloste Häuser gibt. Die werden nämlich alle sechs bis sieben Jahre neu gestrichen, ohne Umlage für die Eigentümer.

Das ist aber nur ein Teil des Renovierungs- und Instandhaltungskonzepts. Die ältesten Häuser sind längst abgerissen, die älteren werden technisch verbessert, etwa durch neue Lifts oder bessere Beleuchtung und immer mehr Solardächer. Zudem ist die Stadtplanung darauf angelegt, die Vorstädte so lebenswert wie möglich zu machen. Gesorgt wird für Schulen, Kindergärten, Busse und Bahnen, Feuerwehr und Nachbarschaftspolizei, Bibliotheken, Spielplätze und Fitnessgeräte, viele Grünflächen und Parks, sowie eine ausreichende Versorgung mit Geschäften für den täglichen Bedarf.

Das Ziel ist neben dem bezahlbaren und qualitativ hochwertigen Wohnungsbau die Schaffung von lebendigen, nachhaltigen und lebenswerten Stadtvierteln mit einem jeweils eigenen Charakter.

Eine spezielle Auflage zur Belegung der HDB-Wohnungen leistet einen bemerkenswerten Beitrag zum sozialen Frieden in einer multi-ethnischen und multi-religiösen Gesellschaft. Singapur unterscheidet die vier großen Bevölkerungsgruppen im sogenannten CMIO-System, nämlich Chinesen, Malaien, Inder und „Andere“, meistens Europäer. Die Häuser werden entsprechend nach ethnischen und auch Einkommensquoten durchmischt, was die soziale Integration erleichtert und gegenseitige Vorurteile relativiert.

Sozialpolitik durch Wohnungseigentum — in Deutschland undenkbar?

Aus deutscher Sicht mutet der Erfolg der Wohnungspolitik in Singapur fast wie eine Fata Morgana an. Der rapide Schwund an bezahlbarem Wohnraum im Allgemeinen und an Sozialwohnungen im Besonderen ist zum sozialen Sprengstoff geworden. Der Zustrom von Migranten erschwert die Lage zusätzlich und macht viele Deutsche zu Wutbürgern und Protestwählern. Die Wahlversprechen der Ampelkoalition zur Wohnungspolitik sind weitgehend vergessen worden, die Planziele zum Wohnungsbau allesamt nicht erfüllt.

Kopieren kann man das Singapurmodell natürlich nicht, die dortigen Planungsvoraussetzungen waren einmalig. Die Regierung konnte am Anfang große landwirtschaftlich genutzte Flächen aufkaufen und die Stadtplanung und Bebauung der wachsenden Bevölkerung und dem steigenden Einkommen anpassen. Bis heute können aus der Bodenreserve und kontinuierlichen Zukäufen Grundstücke für das HDB zur Verfügung gestellt werden. In Deutschland sind solche Reserveflächen extrem knapp und in den Städten kaum vorhanden. Aber das HDB-Modell wird immerhin in 44 Ländern in Asien, Lateinamerika und Afrika nachgeahmt. Singapurer Firmen sind dabei mit 113 lokalen Büros und 13.000 entsandten Mitarbeitern beteiligt.

Spätestens für die kommende Bundesregierung wäre es an der Zeit, den Bau von Sozialwohnungen in Deutschland politisch, finanziell und planerisch neu zu überdenken.

Nach Medienberichten sind in diesem Jahr für neue Sozialwohnungen 3,5 Milliarden Euro im Bundeshaushalt eingeplant, falls er denn so verabschiedet wird. Für private Investoren gibt es aber zurzeit, wie die Immobilienwirtschaft moniert, keine Motivation. Es sollte aber eine politische Priorität sein, Anreize zum Investieren in Sozialwohnungen zu schaffen, ebenso wie eine Politik, die versucht, die niedrige Eigentumsquote zu verbessern.

Wenn durch immer mehr technische Auflagen die Preise hochgetrieben und sowohl Mieten wie Eigenheime immer unerschwinglicher werden, müssen wir umdenken. Der innere Frieden ist in zu vielen Bereichen bedroht, nicht nur auf dem Wohnungsmarkt. Die kommende Bundesregierung muss möglichst bald Lösungen finden. Was dazu in den Wahlprogrammen zu finden ist, klingt leider mehr nach Wahlversprechen als nach einem schlüssigen Gesamtkonzept.