Wirklicher Frieden setzt Heilung voraus
Wir alle sind traumatisiert und haben die Möglichkeit zur Heilung.
Auch wenn die derzeitige Weltlage nicht gerade zu Optimismus Anlass gibt, weil auf globaler Ebene Trauma-Überlebensstrategien wie gnadenloses Konkurrenzverhalten, maßloses Machtstreben, hemmungslose Aggressionsentladung oder blinde Flucht in den Drogenrausch weit verbreitet sind, so leben wir doch zunehmend in einer Welt voller Möglichkeiten. Wir können auf unfassbar viele Informationen in Sekundenschnelle zugreifen und uns über Kontinente hinweg unterhalten und mit zahllosen Mitmenschen in einen Austausch treten. Wir können und wir wissen immer mehr. Es kommt also darauf an, in welche Richtung jeder einzelne gehen will: Hin zur Destruktiven und zur Selbstzerstörung oder hin zur Konstruktiven und zur Selbstliebe.
Zu diesem ungeheuren Schatz an menschlichem Wissen und Können gehört meines Erachtens auch, dass wir immer besser unsere menschliche Psyche begreifen und in einen Veränderungsprozess bringen können. Wir verstehen mittlerweile sehr gut, wie unsere menschliche Psyche entsteht, wie sie funktioniert, wie die psychischen Prozesse auf eine sinnvolle Weise gut ablaufen und was sie empfindliche stören kann. Wir brauchen heutzutage keine Zuflucht mehr nehmen zu mythologischen Vorstellungen, zu spekulativen Deutungen oder esoterischen Ideen, wenn es um uns Menschen und unserer Innerstes geht.
Es gibt leider noch viele Vorbehalte, diese Erkenntnisse auch anzunehmen. Dies gilt vor allem für das Thema Psycho-Trauma. Noch glaubt die Mehrheit der Menschen, ein Psychotrauma sei etwas sehr seltenes und betreffe nur wenige Menschen. Noch nehmen die meisten Menschen, Laien wie Fachleute, Zuflucht zum Konzept der „psychischen Krankheit“, wenn es um ausgeprägte Formen von Ängsten, Ohnmachtsgefühlen, emotionalem Betäubt Sein oder Verwirrung geht. Noch wird mit Floskeln wie „genetisch bedingt“, „Stoffwechselstörung“, „Depression“ oder „Psychose“ operiert, wo es eigentlich um das offensichtliche Faktum geht, dass Menschen schwere Traumaerfahrungen gemacht haben. Die Diagnose „traumatisiert“ zu sein, wird von den meisten Menschen noch mehr gefürchtet als „psychisch krank“ zu sein.
Dabei eröffnet die Diagnose „Psychotrauma“ das Tor zu wirklicher Heilung und ebenso zur Vorbeugung. Denn damit werden konkrete Ursachen benannt. Es wird nicht der Mensch als unfähig oder defizitär angesehen, der massive psychische Folgesymptome zeigt, weil er ein Trauma erlitten hat. Es kann jetzt auf die spezifischen Umstände geschaut werden, die Traumatisierungen verursachen. Weil es in den meisten Fällen wir Menschen selbst sind, welche die Traumatisierung hervorrufen, gibt dies auch zahlreiche Möglichkeiten, solche Vorkommnisse in Zukunft zu unterbinden und zu unterlassen. Das menschliche Schicksal liegt somit weitgehend in menschlicher Hand.
In den 20 Jahren meiner therapeutischen Laufbahn habe ich die Tatsache, dass sich hinter nahezu allen Formen psychischer Auffälligkeiten Traumaerfahrungen verbergen, erst allmählich begriffen. Dann aber wurde es mir umso klarer:
Es gibt keine „Panik“, hinter der nicht eine Erfahrung von Todesangst steckt, es gibt keine „Depression“, die nicht ursprünglich durch den Verlust von zwischenmenschlicher Bindung und frühkindlicher Einsamkeit und Kontaktlosigkeit verursacht wurde. Es gibt auch keine „Süchte“, hinter denen nicht existentielle Verlassenheitsängste und das Gefühl, nicht gewollt zu sein, am Wirken sind. Es gibt keine „Magersucht“, die nicht mit sexuellen körperlichen Übergriffen verbunden ist. Es gibt keine Kinder mit einem sogenannten „ADHS-Syndrom“, deren Eltern nicht selbst traumatisiert sind.
Es geht also darum, die Tatsache des Psychotraumas zu enttabuisieren und der Realität massenhafter Traumatisierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen offen ins Auge zu blicken.
Wie sollte es auch anders sein,
- angesichts der vielen großen und kleinen Kriege überall auf der Welt,
- angesichts der massiven Gewalt, die sich in vielen Mann-Frau-Beziehungen abspielt,
- angesichts der Lieblosigkeit, mit der so viele Kinder gezeugt werden und von ihren Eltern gar nicht gewollt sind,
- angesichts der Tatsache, dass die Neugeborenen in den vergangenen Jahrzehnten ohne Kontakt sich selbst überlassen wurden und der heute immer mehr ansteigenden Raten von Kaiserschnittgeburten?
- angesichts von mit Steuergeldern geförderten Kinderkrippen, in denen schon sechs Monate alte Babys den ganzen Tag ohne den Kontakt mit ihrer Mutter überleben müssen.
Wenn wir bereit sind, den Realitäten, die massenweise Menschen traumatisieren, gegenüber offen zu sein, haben wir eine große Chance:
- Wir können solche Realitäten beenden.
- Wir können aus unheilvollen Täter-Opfer-Spiralen aussteigen.
- Wir können uns und anderen helfen, die psychischen Wunden zu heilen.
- Wir können anfangen, Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen und uns selbst wichtig zu sein.
- Wir brauchen nicht länger nach Ersatzbefriedigungen Ausschau halten.
- Wir müssen nicht länger nach Macht und Kontrolle über andere Menschen streben, wenn wir den Zugang zu unsere eigenen Gefühle wiedergefunden haben.
- Wir müssen nicht andere Menschen dafür missbrauchen, um mit uns selbst und mit unserem Leben zufrieden zu sein.
Ich habe in den letzten 15 Jahren eine Theorie entwickelt, der ich den Titel „Identitätsorientierte Psychotraumatheorie“ (IoPT) gegeben habe. Sie umfasst grundlegende Definitionen zu dem, was die menschliche Psyche ausmacht. Sie fußt auf der Bindungstheorie, wie sie ursprünglich von John Bowlby (1907-1991) entwickelt wurde. Sie greift die wichtigen Erkenntnisse der Psychotraumatologie verschiedener Autoren und Ansätze auf (u.a. Peter Levine, Judith Herman, Michaela Huber, Onno van der Hart, Gottfried Fischer) und entwickelt sie weiter. Daraus sind neue Konzepte entstanden wie „das Trauma der Identität“, „das Trauma der Liebe“, die „Traumatisierung der menschlichen Sexualität“, die „Täter-Opfer-Dynamik“ und das „frühe Trauma“. Im Moment arbeite ich auch daran, das Verhältnis von Psyche und Körper in seinem Zusammenwirken noch besser zu verstehen unter der Leitfrage: „Wer bin Ich in meinem Körper?“
Meine Theorien entstehen aus der praktischen therapeutischen Arbeit, in der ich mich seit 20 Jahren auf die Aufstellungstechnik stütze. Ich halte diesen Weg, Menschen als Spiegel und Ressonanzgeber für die Psyche anderer Menschen zu nutzen, für genial. Ich habe aufgrund der vielen Aufstellungen, die ich miterleben und leiten konnte, so viele und tiefe Einblicke in psychische Vorgänge bekommen und so viele Zusammenhänge erkennen können, dass ich mir sicher bin, dass meine Theorien auf einem sicheren Boden gründen. Auch weil nicht ich alleine daran beteiligt bin, sondern so viele Menschen weltweit mit mir zusammenarbeiten und wir uns in unserem Bemühen um eine wahrhafte Erkenntnis der menschlichen Psyche und zwischenmenschlicher Beziehungen gegenseitig unterstützen und anspornen.
Ich habe in den letzten Jahren viel ausprobiert, sehr viel erkannt, manches auch wieder verworfen, wenn es sich nicht als zielführend für die Weiterentwicklung von Klienten herausgestellt hat. Derzeit arbeite ich mit einer Methode, die ich das „Aufstellen des Anliegensatzes“ nenne. D.h. der Klient formuliert vor seiner Aufstellung seinen Anliegensatz, schreibt ihn auf und es werden dann die einzelnen Worte dieses Satzes durch Stellvertreter repräsentiert. Wie die Praxis zeigt, funktioniert das hervorragend. Schnell werden die inneren Strukturen des Klienten klar, seine Traumata werden sichtbar, die möglichen Veränderungsschritte nehmen Gestalt an.
Die von mir entwickelte „Anliegenmethode“ ist in meiner Wahrnehmung auch eine passende Verbindung zwischen Diagnose und Therapie. Es ist nur das Anliegen des jeweiligen Menschen und ganz wenige Informationen seitens eines Klienten erforderlich und schon öffnet sich in der Aufstellung sein innerer Kosmos. Und es wird atemberaubend schnell klar, was sich hinter seinen Symptomen verbirgt, was er im Moment verändern kann und was noch nicht geht.
Das „Aufstellen des Anliegensatzes“ hat die zentrale Bedeutung insbesondere zweier psychischer Funktionen beim Zustandekommen von Traumatisierungen Vorschein gebracht: Die Ich-Funktion und die Willensfunktion. Man kann Trauma daher auch so definieren:
Ein Traumaerlebnis bringt das Ich des Betroffenen zum Verschwinden und seinen Willen zum Erlahmen. Trauma bedeutet Aufgabe und Verlust des gesunden Ichs und des klaren Willens. Es führt zur Unterordnung unter ein „Wir“, das einem mehr schadet als nutzt, oder zur blinden Rebellion dagegen. Es führt zu endlosen symbiotischen Verstrickungen zwischen Menschen, die alle traumatisiert sind und den Weg daraus nicht mehr von alleine finden können.
Daher gilt auch für die Traumaverarbeitung: Solange es kein gesundes und hinreichend stabiles Ich bei einem Klienten gibt, können die abgespaltenen Traumainhalte nicht integriert werden. Wenn die Willensfunktion noch nicht weit genug entwickelt ist, noch zu verschwommen oder noch zu sehr vom Willen eines Täters dominiert wird, kann die Traumaheilung noch nicht gelingen. Oft müssen erst die zahlreichen Überlebensstrategien des Hilfs-Ichs, das sich ersatzweise für das gesunde Ich nach dem Traumaerleben herausgebildet hat, zum Vorschein kommen und entkräftet werden, damit die Entwicklung des gesunden Ichs vorankommt.
Es ist seit vielen Jahren ein wichtiges Ziel meiner Arbeit, das Wissen, das ich mir erworben habe, weiter zu verbreiten. Dazu biete ich Weiterbildungen an und dazu reise ich in viele Länder dieser Erde, wenn es vor Ort Menschen gibt, die meinen Ansatz kennenlernen und in ihre eigene Arbeit integrieren möchten.
Dabei lege ich besonderen Wert darauf, dass meine Theorien allgemein verständlich sind. Ich schreibe meine Bücher in erster Linie für mich selbst, damit ich Ordnung in meine eigenen Gedanken bringen kann. Da ich natürlich auch selbst von Traumatisierungen betroffen bin – wie könnte es anders sein bei jemandem, der kurz nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland geboren ist – und weil ich weiß, dass die allermeisten meiner Fachkollegen ebenfalls Traumatisierungen erleben mussten, finde ich es enorm wichtig, keine künstlichen Hierarchien und Sprachbarrieren zwischen Betroffenen und Traumatherapeuten aufzubauen. Wir brauchen uns gegenseitig und wir brauchen eine gemeinsame Sprache!
Es gilt, dem Begriff Trauma den Schrecken zu nehmen, den es für viele Menschen noch immer hat. Es gilt, Mut zu machen, sich den eigenen Traumata zu stellen, weil wir mittlerweile gute Methoden dafür haben, dies auch mit Erfolg zu tun. Und weil es immer mehr Therapeuten gibt, die einem dabei hilfreich zur Seite stehen können.