Wirklich erwachsen werden
Statt zu vermeintlich vernünftigen Erwachsenen heranzuwachsen, sollten wir uns wieder mehr Geschichten erzählen.
Dirk C. Fleck erzählt von dem Tag, an dem er vorhatte, erwachsen zu werden. Er entführt uns in die Lehm- und Steinlandschaft bei den Hopi-Indianern. Am Ende steht die Erkenntnis, dass wir Geschichten heute vielleicht mehr brauchen als Aufklärung.
Ich hatte eben sehr angenehmen Besuch von Pranava und Denise, die sich auf der Durchreise befanden. Zur Begrüßung haben wir uns bei einer gepflegten Tasse Tee jeweils ein Musikstück aus dem Internet geschenkt. Dies ist, was Pranava mir geschenkt hat und wofür ich ihm überaus dankbar bin. Schaut es bitte an und lasst euch berühren.
Jetzt haben wir einen passenden Einstieg in die Geschichte gefunden, die ich euch erzählen möchte — so wie ich sie zuvor Denise und Pranava erzählt habe. Wir kamen darauf, weil Pranava auf eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie zeigte, die über meiner Couch hängt.
Sie zeigt einen Hopi-Jungen, etwa vier Jahre alt. Er ist um die Augen geschminkt, eine große schwarze Fläche ist es, aus der er schaut. Ich denke, dass wohl jeder von uns, der auf diese Weise bemalt worden wäre, einen ähnlich melancholischen Eindruck vermitteln würde, wie dieser Knabe, der teilnahmslos in die Kamera guckt.
Ich hatte das Bild während meines Besuches Anfang der Neunziger im Souvenir-Shop des Moenkopi Legacy Inn & Suites entdeckt. Der Bau war einer Vision geschuldet, die den Stammesältesten jahrelang umgetrieben hatte. Er wollte einen Ort der Gastfreundschaft für die Besucher des Hopi-Stammesgebietes schaffen.
Das ist ihm gelungen. An diesem Ort werden die Gäste mit Pommes, Cola und enorm großen Burgern abgespeist. Die Angestellten des Hauses scheinen diesem Fraß ebenfalls zugetan, jedenfalls lassen ihre elefantösen Figuren darauf schließen.
Wie war ich da nun hingeraten? Irgendwo hatte ich gelesen, dass ein Mann nach Meinung der Hopi-Indianer mit 50 Jahren zum Mann wird. Damals war ich 48. Das ist ja irre, dachte ich, da gibt es noch eine Kultur, die mein Tempo kennt! Innerhalb weniger Sekunden schwor ich mir, meinen 50. Geburtstag bei ihnen im Reservat zu verbringen. Mir war schon klar, was diese Altersgrenze für den Stamm bedeutete.
Mit 50, so die Hopis, musst du endgültig verstanden haben, was Liebe und Verantwortung wirklich bedeuten.
Ich finde es überaus gnädig, dass sie uns eine so lange Strecke als Jüngling gewähren, in dem die Melange aus jugendlichem Übermut, Arroganz und Eitelkeit jede Menge Fehler und Missverständnisse kreiert — insbesondere im Umgang mit Frauen. Von Frauen sprechen die Hopis diesbezüglich übrigens nicht. Frauen sind für sie schon im Mädchenalter herzensgebildet.
Der Entschluss, meinen Fünfzigsten bei ihnen im Reservat zu verbringen, fühlte sich gut an. Die nächsten zwei Jahre wuchs die Vorfreude auf den Besuch in mir sukzessive heran.
Ich nahm mir drei Dinge vor für die Zeit meines Aufenthalts: Als erstes würde ich mich an meinem Geburtstag auf einen der drei Tafelberge (Mesas) setzen und die Wüste betrachten, wie sie im Laufe des Tages unter der kreisenden Sonne ihre bunten Kleider wechselt. Als zweites wollte ich den Felsbrocken besuchen, auf dem die berühmten Prophezeiungen des Stammes verewigt sind. Und drittens musste ich unbedingt den Schlangentanz miterleben, der laut Reiseführer einmal pro Jahr im Dorf Kiakotsmovi stattfindet.
Eine Woche vor meinem Geburtstag flog ich nach San Francisco. Von dort mietete ich einen Leihwagen und fuhr nach Flagstaff/Arizona. Ich blickte mich ein wenig in der Stadt um, rollte auch über den Campus, wo sich eine junge Studentin winkend in den Weg stellte. Als ich anhielt, schrie sie durchs Fenster: „I love your car!!!“ Das sollte mir in abgeschwächter Form noch häufiger passieren. Warum? Weil Hertz mir einen metallic-roten Ford Mustang zur Verfügung gestellt hatte, das neueste Modell, erst seit einigen Wochen auf dem Markt. Das weiße Amerika liebt seine Mustangs, keine Frage.
In Flagstaff pickte mich mein Freund Friedrich Abel auf und geleitete mich zu seinem Rundhaus, das sich mitten im Navajo-Reservat befand. Friedrich, der früher Starreporter beim Stern gewesen war, hatte sich nach seinem Ausstieg aus dem Journalismus in der endlosen Ödnis ein Stück Land gekauft und das Rundhaus nach alten Anleitungen der Navajos selbst gebaut.
Die meisten Navajos hatten keine Ahnung mehr, wie man so ein Haus auf die Beine stellt. Sie kamen zu Friedrich, der ihnen dann half, was ihm finanziell sehr gelegen kam. Nachdem ich einige Tage mit ihm verbracht hatte, wurde es schließlich Zeit, mich meinem wahren Ziel zu nähern.
Das Hopi-Reservat, das inmitten des Navajo-Reservats liegt, entspricht zwar dem alten Stammesgebiet, aber von guter Nachbarschaft kann nicht die Rede sein. Die Hopis blicken etwas geringschätzig auf die Navajos, die ihre Traditionen weitgehend aufgegeben haben und zu normalen US-Bürgern mutiert sind.
Autowracks, Alkoholleichen und Plastikdreck entlang der Strecke gibt es bei den Hopis nicht.
Die Grenze zum Stammesgebiet war nicht markiert, lediglich ein an einem Pflock baumelndes, handgeschriebenes Pappschild machte an der Straße darauf aufmerksam. „Bitte respektieren Sie unsere Lebensweise und benehmen Sie sich entsprechend“, stand darauf sowie der Hinweis, dass fotografieren verboten sei. Dass die Hopis es für nötig hielten, eine solche Verhaltensmaßregel auszugeben, beschämte mich.
Die ganze verfluchte Geschichte des weißen Mannes schien mit einem Mal auf mir zu lasten. Ein Scheißgefühl, dass an dieser Stelle wohl jeden überkommen würde, der innerlich nicht bereits tot ist. Sonderlich willkommen schien ich hier jedenfalls nicht zu sein.
Ich hielt an und betrachtete die drei imposanten Plateaus, die sich mir wie steinerne Finger entgegen streckten. Die Straße führte direkt auf die erste Mesa zu, an deren Spitze sich das Dorf Walpi befinden sollte.
Ich hatte Mühe, Felsen und Häuser zu unterscheiden. Die Architektur der Hopis passte sich auf wunderbare Weise den natürlichen Gegebenheiten an. Natur und Mensch bauten hier nach ähnlichen Plänen und mit ähnlichem Material. Die Stein- und Lehmhäuser waren kaum von den skurril geschichteten Felsen zu unterscheiden, aus der die Siedlung organisch hervor zu wachsen schien.
Die Straße wand sich den Berg hoch und endete auf einem staubigen Platz direkt im Zentrum Walpis, auf dem sich aber kein einziger Mensch zeigte, was erneut ein mulmiges Gefühl in mir erzeugte. Ich drehte eine Runde im Mustang, der leuchtend rot in der Sonne glitzerte und im seltsamen Kontrast zu der Lehmkulisse stand, die ich im Schritttempo passierte. Ein Alien auf Stippvisite. Als ich das Dorf verließ, bemerkte ich im Rückspiegel ein paar Kinder, die aus den Häusern geflitzt kamen, mit den Füßen auf den Boden stampften und lachten.
Nach dem Einchecken zog ich es vor, den Rest des Tages auf dem Hotelzimmer zu bleiben. Ich wollte früh aufbrechen, ich wollte die Sonne aufgehen sehen an diesem besonderen Tag. Als ich um fünf Uhr morgens auf der zweiten Mesa hinter dem Dorf Shungopavi den Wagen parkte und etwa hundert Meter entfernt auf einem Felsen Platz genommen hatte, bemerkte ich eine Gestalt, die nur wenige Meter von mir entfernt barfuß und mit nacktem Oberkörper bewegungslos Richtung Osten blickte.
Die erhabene Ruhe des Mannes zog mich in ihren Bann und obwohl ich mir wie ein Voyeur vorkam, war es mir unmöglich, meine Position zu verlassen. Der Himmel färbte sich nacheinander violett, glutrot, grün und blau. Der Mann löste sich aus der Erstarrung wie eine Blume, die ein gewisses Maß an Licht benötigt, um sich zu öffnen. Mit der Höhlung seiner rechten Hand fuhr er über den Horizont, als sammle er den Blütenstaub des jungen Tages ein. Er führte die Hand zum Mund, um den kosmischen Nektar in sich aufzunehmen. Viermal wiederholte er diese Geste.
Als die flirrende Sonnenscheibe über den Horizont kroch, atmete er tief durch. Dann fächerte er sich die ersten Sonnenstrahlen über den Körper, als würde er sich mit frischem Wasser benetzen. Nach dieser Morgenwäsche stand er mit erhobenem Haupt eine Weile in dem goldenen Licht, das seinen schlanken, rotbraunen Körper zu durchfluten schien. Nach einigen Minuten verschwand er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Da saß ich also in der aufkommenden Hitze und versuchte, meine Gedanken zu vertreiben, mich sozusagen in einen meditativen Zustand zu bringen, um mir die Erwachsenenweihen abzuholen. Es gelang nicht.
Die Sonne wurde aggressiver, sie krallte sich mit ihren Nagelfingerstrahlen förmlich in meine Haut. Die Luft war extrem trocken geworden. Dabei war ich davon überzeugt, dass der Anblick der felsigen Hochflächen, deren bröckelnde Ränder die weite Ebene seit Jahrtausenden mit Geröll übersäten, durchaus zur angestrebten Ruhe hätten führen können. Gegen Mittag hatte ich genug. Im Hotel gönnte ich mir eine kalte Cola, um dann festzustellen, dass ich mir meine Mannwerdung irgendwie anders vorgestellt hatte …
Den Prophezeiungsfelsen bekam ich nicht zu Gesicht. Ich habe viele Hopi gefragt. Sie schickten mich in alle Richtungen, am Ende fühlte ich mich gut verarscht und gab auf. Und wieder nistete sich dieser Anflug von Scham ins Gemüt.
Im neunten und letzten Teil vor der großen Zerstörung heißt es unter anderem: Der weiße Mann wird Menschen in anderen Ländern töten, in den Ländern, die zuerst das Licht der Weisheit besaßen. Könnte sich um den Nahen Osten handeln. Irak = Mesopotamien, Iran, Israel, Ägypten … Ist wohl auch so.
Den Schlangentanz habe ich gesehen. „Ziehen Sie sich ordentlich an, so wie sie es tun würden, wenn Sie einen Gottesdienst ihrer eigenen Kirche besuchen wollten“, las ich auf einem Zettel, den mir mein Hippie-Nachbar, der sich als John vorstellte, mir zusteckte.
„Regenschirme sind nicht zugelassen ... Wenn Sie Schatten haben möchten, dann helfen Sie den Tänzern durch stille Gebete, Wolken herbei zu bringen ... Dies ist unser Dorf, unsere Religion und unsere Lebensform; und wir sind darauf bedacht, diese auf jede nur mögliche Art zu bewahren.“
Von überall her kamen Menschen und schlenderten plaudernd und lachend dem Dorfplatz zu. Die Kinder flitzten wie Fische durch die festlich gekleidete Menge. Auf den Flachdächern kauerten die Alten wie eine Vogelschar, während es sich die übrigen Zuschauer am Boden rund um die sandige Tanzfläche bequem machten.
Plötzlich ebbten die Gespräche ab. Im weiten Bogen umschritten die Antilopenpriester das Rund, insgesamt viermal. Ihre Kreise wurden spiralenförmig enger, bis sie die Schlangenlaube in ihre Mitte genommen hatten. Die Zuschauer verharrten in absoluter Ruhe.
Mit langen, schwingenden Schritten betraten nun die Schlangenpriester den Platz. Gelegentlich stampften sie mit dem Fuß auf, als wollten sie der Erde einen heißen Tanz ankündigen. Schließlich nahmen sie gegenüber den Antilopenpriestern Aufstellung. Beide Formationen begannen, sich murmelnd leicht hin und her zu wiegen. Das Murmeln glich mehr und mehr einem Gewittergrollen. Mit einem Schlag brach der Sprechgesang ab. Im selben Moment lösten die Tänzer die Arme vor der Brust und drehten sich zuckend auf der Stelle.
Die kurze Raserei fiel genauso schnell in sich zusammen, wie sie entstanden war, um sich anschließend erneut aufzubauen. Schließlich wandten sich die Priester den Schlangen zu. Der Mann mit dem prächtigsten Federschmuck beugte sich über die Laube. Als sein Oberkörper wieder hochfuhr, hielt er eine Schlange zwischen den Zähnen. Er begann zu tanzen. Ein zweiter Priester legte ihm dabei die Hände auf die Schultern. Die anderen folgten paarweise ihrem Beispiel.
Hinter jedem Tanzpaar schritt jemand mit einer Schlangengeißel in der Hand. Diese Männer hinderten die Schlangen an der Flucht, wenn die Priester sie zu Boden gleiten ließen. Ruhig und konzentriert stellten sie sich ihnen entgegen, manchmal wirbelten sie mit der Geißel ein wenig Staub auf, um die Tiere von den Zuschauern fern zu halten, die dennoch immer wieder in Schreckensschreie ausbrachen.
Sobald die Schlangen beruhigt waren, wurden sie mit einem gefiederten Stab touchiert, gleichzeitig streute man ihnen Maismehl auf die Köpfe. Regungslos lagen die Tiere da. Die Priester begannen nun, sich die willenlosen Reptile um ihre Hälse zu legen. Die kleinsten rollten sich auf den Ohren der Männer zu Rosetten zusammen. Andere wiederum waren so schwer, dass zwei Personen Mühe hatten, ihre glitschigen Leiber zu halten. Am Ende mochten es fünfzig oder sechzig Schlangen sein, die wie Schmuckstücke an den Körpern der Krieger hingen.
Anschließend wurden die Tiere in einen Kreis aus Maismehl geworfen. Einige Frauen in weißen Gewändern näherten sich ihnen und streuten weiteres Maismehl in den Kreis, um sich dann eilig in Sicherheit zu bringen. Jetzt stürzten die Priester herbei und verschwanden mit den Schlangen in allen vier Himmelsrichtungen.
„Sie tragen die Schlangen zu unseren heiligen Stätten“, raunte mir John zu, „dort werden sie frei gelassen, damit sie die Botschaft des Stammes in die Unterwelt tragen.“
Nach und nach kehrten die Schlangenpriester aus der Ebene zurück. Sie waren völlig außer Atem. Die ersten begannen sich zu entkleiden. Unterdessen brachten die Frauen des Schlangenclans Schüsseln herbei, von denen einige leer waren, während andere eine seltsame Flüssigkeit enthielten.
„Was ist in den Schüsseln?“, fragte ich meinen Nachbarn.
„Ein Brechmittel.“
Die Tänzer begannen davon zu trinken, um sich anschließend würgend über die leeren Behältnisse zu beugen.
„Sie müssen sich von dem Schlangenzauber befreien, es könnte sonst gefährlich werden für uns alle“, flüsterte der Ami. Mein säuerlicher Gesichtsausdruck blieb ihm nicht verborgen. „Halb so schlimm, sie haben seit gestern nichts gegessen. Dafür warten nachher in den Kivas einige Köstlichkeiten auf sie.“
Die Kivas sind die unterirdischen Zeremonialräume der Hopis. Man erkennt sie schon von weitem an den heraus ragenden Leitern. Ein Kiva verbindet die Ober- mit der Unterwelt. „In ihnen werden die Tänzer“, so klärte mich John auf, „gleich gemeinsam die Pfeife rauchen, bevor das Festessen beginnt, auf das sie lange gewartet haben.“
Ich wunderte mich, wie eilig es die Menschen plötzlich hatten. Ihr hastiger Abmarsch stand im krassen Gegensatz zu der Gelassenheit, die sie bei der Ankunft an den Tag gelegt hatten.
„Sie wollen nicht in den Regen kommen“, meinte John.
Welcher Regen? Die Sonne stand tief, der Himmel war noch immer blau und klar. Nichts deutete darauf hin, dass die wochenlange Dürre ausgerechnet heute ein Ende finden würde. Einen Moment beschlich mich der Verdacht, dass es sich beim Hopi-Kult doch nur um faulen Zauber handelte, um naive Relikte einer schwärmerischen Kultur, die in den Weißen lediglich die Sehnsucht nach einer heilen Welt nährte, während die Welt selbst in den letzten Zügen lag.
Plötzlich wirbelten dunkle Wolken über den Horizont, die in Windeseile näher kamen. Ich genoss den Schock der ersten frischen Brise auf meinem Gesicht. In diesem Moment stach ein greller weißer Blitz in die Wüste. Der kurz darauf einsetzende Regen prallte mit solcher Wucht auf mein Haupt, dass ich glaubte, die Engel selbst hätten bei dieser Massage ihre Finger im Spiel …
„Das war‘s“, sagte ich.
Denise blickte auf das Foto mit dem Hopijungen und meinte: „Wir sollten uns wieder viel häufiger Geschichten erzählen …“
Und Pranava ergänzte:
„Dieser ganze geopolitische Kram, dieser riesige Haufen Mist, den das Giersystem produziert — wer braucht da noch Infos oder Aufklärung? A nützt es nichts und B wissen wir doch seit Jahrhunderten, nach welchen Gesetzen ein menschen- und naturverachtendes System funktioniert …“
Recht hat er. Wenn Rubikon es mir gestattet, werde ich hier in Zukunft nur noch Geschichten erzählen.