Wir stehen alle unter Verdacht
Terror-Panik und die Aushöhlung der Privatsphäre.
In Europa geht die Angst um. Nüchtern betrachtet, ist die Terrorpanik schwer nachvollziehbar. Wie der Journalist Christian Stöcker nachrechnet, sind in "ganz Westeuropa seit 1989 bis heute in keinem Jahr mehr als 200 Menschen Terroranschlägen zum Opfer gefallen. Trotzdem fürchten sich die Deutschen weniger vor Herzinfarkt, Lungenkrebs, Rasern und Depression als vor dem bösen Muslim mit dem Bombengürtel." Oder, um den Vergleich von Professor John Mueller (Ohio State University) zu bemühen: Die Wahrscheinlichkeit an einem Terroranschlag zu sterben, entspricht der Wahrscheinlichkeit, in der Badewanne zu ertrinken.
Aber Nüchternheit ist ein selten anzutreffender Helfer, wo die Angst regiert – und das tut sie in Deutschland mit absoluter Mehrheit: Einer Allensbach-Studie zufolge haben drei Viertel der Deutschen Angst vor einem Terroranschlag. Der Klimawandel hingegen kann nicht einmal jeden Zweiten Deutschen beunruhigen. (Eine ähnlich verquere Wirklichkeitswahrnehmung lässt sich auch bei der Einschätzung der Sicherheitslage in Deutschland beobachten.
Zunehmende Aushöhlung der Privatspähre
Kein Wunder also, dass die Politik aktiv wird. Die Bundesregierung weitet die Video-Überwachung aus. Die Bundespolizei soll Kfz-Kennzeichen an Grenzen automatisch erfassen. Im Gesetz zum elektronischen Personalausweis versteckt sich ein automatisierter Abruf für Geheimdienste. Interpol legt eine neue Datenbank zur Gesichtserkennung an. Passend dazu testet die Deutsche Bahn in Berlin Videoüberwachung mit Erkennung von Gesichtern und Bewegungsmustern. Bereits im Jahr 2015 haben Behörden alle vier Sekunden abgefragt, wem eine Telefonnummer gehört. Und last but not least: Kurz vor Ende der Legislaturperiode will die Große Koalition die Online-Durchsuchung einführen.
Dazu gesellt sich die Forderung nach dem Einsatz des Staatstrojaners.
In den letzten Monaten sind eine solche Vielzahl von Aktivitäten und Gesetzen auf den Weg gebracht wurden, daß man für den umfangreichen Überblick, den der Blog netzpolitik.org erstellt hat, sehr dankbar ist. So wird der massive Abbau der Privatsphäre anschaulich deutlich, den der Bürger Schritt für Schritt akzeptieren soll.
Anlassloser Verdacht
Die meisten Gesetzesänderungen haben eine mehr als bedenkliche Gemeinsamkeit: Sie stellen alle Bürger ohne Anlass unter Generalverdacht. Dies ist umso fragwürdiger, als in keiner Weise ausreichend belegt wird, warum die aktuell vorhandenen Gesetze nicht ausreichend sein sollen, um Terroranschläge zu verhindern.
Bereits im Jahr 2015 machte der Journalist Mattathias Schwartz eine erstaunliche Entdeckung:
"In den letzten fünfzehn Jahren wurde beinahe jeder größere terroristische Angriff auf den Westen von Leuten ausgeführt, die den Behörden längst bekannt waren."
Der Journalist Ryan Gallagher betrachtete daraufhin konkret zehn große Terroranschläge in den USA und Europa zwischen 2013 und 2015. In jedem einzelnen Fall waren alle oder zumindest ein Großteil der mutmaßlichen Täter bereits dem Geheimdienst bekannt.
Ganz aktuell kommt Journalist Sascha Lobo zum Ergebnis:
"Seit 2014 verübten insgesamt 24 identifizierte Täter 13 islamistische Mordanschläge in der EU - und alle, ja wirklich: 100 Prozent der Attentäter waren zuvor den Behörden bekannt und gewaltaffin."
Lobo listet im Detail auf: "von den 24 identifizierten islamistischen Attentätern:
* waren alle 24 vorher den Behörden bekannt,
* konnten alle 24 als gewaltaffin betrachtet werden, weil sie entweder in islamistische Kriegsgebiete fuhren oder behördlich bekannte Gewalttätigkeiten verübt hatten,
* hatten 22 bekannte Kontakte mit anderen Islamisten oder islamistischen Netzwerken. In einem Fall waren diese Kontakte vorhanden, aber nicht bekannt,
* waren 21 auf verschiedenen Terror- oder Warnlisten, einer wurde überprüft und als "keine Gefahr" eingestuft, vor einem wurden die Behörden mehrmals aus dem Umfeld des späteren Attentäters gewarnt, nur auf einen trifft nichts davon zu."
Auch aktuelle Beispiele erhärten das Bild. Der mutmaßliche Attentäter von Manchester war den Behörden bereits bekannt. Und bei dem Anschlag in London Anfang Juni waren zumindest zwei von drei Tätern bereits vor der Tat bekannt.
Am Fall Anis Amri, dem mutmasslichen Täter des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt, zeigt Sascha Lobo nachdrücklich, dass es den Behörden keineswegs an Informationen und Gesetzen fehlte, um den Anschlag zu verhindern:
"Er wurde in Italien wegen Körperverletzung und Brandstiftung zu vier Jahren Haft verurteilt. Er kündigte während der Haft Gewalt gegen Andersgläubige an. Der italienische Inlandsgeheimdienst überwachte ihn nach der Haft wegen Radikalisierung. Die Polizei Krefeld leitete wegen der Zeugenaussage eines Flüchtlings einen (erfolglosen) "Prüffall Islamismus" ein. Amri war behördenbekannt Teil eines Hildesheimer Islamistennetzwerks, das Anschläge besprach, woraufhin er sechs Monate lang abgehört und schließlich vom LKA NRW als Gefährder eingestuft wurde. Gegen ihn wurde wegen Sozialbetrugs ermittelt. Mehrere Männer aus seinem Umfeld wurden verhaftet. Er erzählte einem V-Mann von Anschlagsplänen. Er stand auf der No-Fly-Liste der USA. Der marokkanische Geheimdienst warnte sowohl das BKA als auch den BND zweimal vor Anis Amri unter expliziter Erwähnung der Anschlagsgefahr. Er war behördenbekannt mit mindestens 14 verschiedenen Identitäten unterwegs und wurde wegen einer Messerstecherei in einer Bar in Neukölln zusätzlich gegen ihn ermittelt."
Inwiefern die Täterschaft Amris tatsächlich überhaupt gesichert ist, erscheint als eine noch offene Frage, die einen unabhängigen Untersuchungsausschuss wünschenswert macht; Fokus dieses Artikels soll jedoch die Frage sein, ob die Ermittlungsbehörden durch die aktuelle Gesetzeslage ausreichend Möglichkeiten an der Hand haben, Terroranschläge zu verhindern, oder ob es tatsächlich weiterer Einschnitte der Privatsphäre bedarf, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Antwort eines Terrorismusforschers
Dr. Daniel H. Heinke, Leiter des Landeskriminalamts Bremen und Honorarprofessor für Terrorismusforschung an der HfÖV Bremen, antwortete ausführlich Sascha Lobo.
Sein Einwand, Lobo habe den Anschlag von Würzburg und die vorzeitig detonierte Bombe in Ansbach nicht berücksichtigt, ist zwar richtig, aber Heinke formuliert Lobos Folgerung falsch, wenn er schreibt: „Lobos Schluss aber, dass es sich also um Behördenversagen handeln muss, wenn diese Anschläge nicht verhindert wurden, ist so einfach wie er falsch ist.“
Die Frage nach dem Versagen der Behörden steht sicherlich zurecht im Raum. Entscheidend ist aber Lobos Frage, mit welcher Berechtigung die Behörden Schritt für Schritt dank neuer Gesetze Ermittlungsinstrumente in die Hände bekommen, die die Privatsphäre der Bürger zusehends beeinträchtigen, wenn doch die bereits vorhandenen Informationen bei geeigneter Auswertung ausgereicht hätten, Terroranschläge zu verhindern.
Kurz gesagt: Wenn fast immer die Täter bereits den Behörden bekannt sind, sollte sich der Fokus dann nicht genau auf diese Gruppe richten, anstatt anlasslos alle Menschen einem Generalverdacht zu unterwerfen und über jeden Bürger möglichst viele Daten zu sammeln? Welchen Sinn macht es, den Datenberg noch weiter exponentiell anwachsen zu lassen und möglichst über jeden Bürger möglichst viele Daten zu sammeln, wenn offenbar jetzt schon der Berg zu groß ist, so dass die darin vorhandenen Informationen nicht mehr gefunden und miteinander verbunden werden können?
Die Schlussfolgerung von Mattathias Schwartz bleibt nach wie vor gültig: "Die (Behörden) scheiterten daran, die Bedeutung derjenigen Daten zu erkennen, über die sie längst verfügten."
Privatsphäre ist Menschenrecht
Wenn die Güterabwägung zwischen Sicherheit und Freiheit debattiert wird, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass vor kurzem die UNO die Privatsphäre einstimmig zum Menschenrecht ernannt hat. Der Vorschlag wurde eingereicht von Brasilien und Deutschland.
Joseph A. Cannataci, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Privatsphäre, kritisiert die aktuelle Entwicklung scharf:
"Es gibt wenig bzw. keine Beweise, um den Sonderberichterstatter von der Effizienz oder der Verhältnismäßigkeit einiger Maßnahmen zu überzeugen, welche durch neue Überwachungsgesetze in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA eingeführt wurden, die extrem in die Privatsphäre eingreifen. (…) Der Versuch, sich hart in Sicherheitsfragen zu zeigen, indem weitgehend sinnlose, ausgesprochen kostspielige und vollkommen unverhältnismäßige Maßnahmen legitimiert werden, die in die Privatsphäre zahlreicher Menschen eindringen, ist offenkundig nicht der Weg, den Regierungen gehen sollten.“
Eine Frage der Macht?
Whistleblower Edward Snowden hat eine klare Meinung, was das tatsächliche Ziel der Überwachungsinstrumente ist:
"Es ging nie um Terrorismus, weil es den Terrorismus nicht effektiv verhindern kann. Es geht keinesfalls um Sicherheit, es geht nicht um Schutz, es geht um Macht: Überwachung dient der Kontrolle. Es geht darum, jeden Moment der Verletzlichkeit zu sehen in jedem Leben, unabhängig davon, ob derjenige ein Krimineller oder eine normale Person ist."