Wir sind mächtig!
Ein Sammelband von Björn Gschwendtner porträtiert bedeutende alternative Medienschaffende — wie Gaby Weber. Exklusivabdruck aus „Politische Köpfe im Porträt“.
Was für Persönlichkeiten stecken eigentlich hinter den bekannten Namen in der Alternativ-Medienszene? Das neue Sammelwerk aus dem ProMedia Verlag liefert biografische Einblicke in das Leben der Menschen, die man sonst nur von ihren Büchern, Vorträgen und Interviews kennt. Hier beschreibt die Journalistin Gaby Weber ihren Werdegang. Ihre kurze politische Autobiografie gibt Inspiration, um selbst aktiv zu werden.
Ich verdanke meine Politisierung nicht einer faktenbasierten Klassenanalyse oder dem Studium von Geschichtsbüchern — das kam später —, sondern vier Ereignissen, die mich in jungen Jahren so tief erschreckt haben, dass ich den Schluss zog, mich fortan einzumischen. Es war der gewaltsame Tod von vier Menschen.
Der erste passierte im November 1963. Ich war neun Jahre alt und saß unter dem Wohnzimmertisch, als die Tagesschau die Schüsse auf John F. Kennedy meldete. Mein Vater, Berufsoffizier und treuer CDU-Wähler, rief entsetzt: „Diese Verbrecher!“.
Ich wusste nicht genau, wen er damit meinte, aber sicher keinen verwirrten Einzeltäter, sondern dunkle Mächte, die einem gewählten Präsidenten auf offener Straße ins Gesicht schießen. Schießen dürfen — denn diesen Mächten ist ja nichts passiert.
Im Oktober 1967 erschoss bolivianisches Militär Che Guevara, in Kooperation mit der CIA, also wieder dunkle Mächte. Ich war schon 13, mitten in der Pubertät und dieser Mann mit Baskenmütze und revolutionärem Blick sah so verdammt gut aus. Was er mit „schafft viele Vietnams“ genau meinte, war mir nicht klar.
Für meinen Vater verteidigten „die Amerikaner“ in Vietnam unsere Freiheit. Aber wie, fragte ich mich, konnte ein kleines, unterentwickeltes Volk am anderen Ende der Welt unsere Freiheit bedrohen? CIA und Pentagon waren für mich die „Bösen“, und Che hatte die Herzen einer ganzen Generation entfacht. Nun wurde er im bolivianischen Urwald wie eine Trophäe ausgestellt. Er war kein Opfer, sondern war in die Falle geraten. Er war einer der „Guten“. Umgehend hängte ich ein Che-Poster über mein Teenager-Bett, was zum Familienfrieden nicht gerade beitrug.
Dann kam der 11. September 1973. In Chile wurde Salvador Allende aus dem Amt geputscht, Leute wurden verschleppt, gefoltert, erschossen. Ich war damals 19, wohnte in einer Wohngemeinschaft in Bonn. Das Experiment eines demokratischen Sozialismus wurde blutig erstickt, und es ging wieder nur um Machtinteressen. Allende wollte keine Waffen an die Arbeiter verteilen. Nüchtern betrachtet war das vielleicht ein Fehler, aber er wollte ein Blutvergießen vermeiden.
Auch das vierte Ereignis geschah im Herbst, im November 1974. Im Gefängnis starb das RAF-Mitglied Holger Meins an den Folgen seines Hungerstreiks. Es war weder Sympathie mit der RAF oder Mitleid mit einem Gefangenen, der unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt war. Es war das Foto. Es zeigte einen ausgemergelten Menschen, er wog nur noch 39 Kilo, man hatte ihn regelrecht verhungern lassen. Es war in unserem Land passiert, wir waren mit-verantwortlich. Die Entschuldigung der Generation unserer Eltern, von allem „nichts gewusst zu haben“, galt für uns nicht.
Zwei Jahre später wurde Ulrike Meinhof in ihrer Zelle tot aufgefunden. Ich habe die Version vom „Selbstmord“ nicht geglaubt, aber merkwürdigerweise ist mir ihr Tod weniger nahe gegangen.
Dabei war sie, wie ich, eine Frau und eine brillante Journalistin gewesen — aber mit 22 Jahren sieht man die Dinge analytischer und im historischen Kontext. Ich hatte Bücher über die südamerikanische Guerilla gelesen, über die Repression und Marx. Wissen sorgt für einen gewissen Abstand und einen kühlen Kopf. Wer Dinge versteht oder sie zu verstehen sucht, ist nicht mehr so leicht zu erschrecken.
Ich ging nach Berlin und arbeitete ab 1978 für den Stern, danach für die ARD, immer freiberuflich. Das waren damals großartige Zeiten, gute Recherche war gefragt und wurde finanziert.
Natürlich war ich hinter „den Mächten“ her, Verfassungsschutz, BND, CIA. In den Redaktionen herrschte Sportsgeist, es machte Spaß, die Plattfüße zu piesacken. Auch wenn Skandalgeschichten nur selten Veränderungen herbeiführen — Journalisten können aufzeigen, dass die Mächte nicht unangreifbar sind. Warum musste sich die US-Army aus Vietnam zurückziehen? Weil sie der Vietcong militärisch besiegt oder weil sie an der Heimatfront verloren hatten?
Wahrscheinlich beides, aber der Krieg wurde auch wegen der mutigen Reporter beendet. Wir als Kollektiv wie auch als einzelne Menschen sind mächtiger, als man uns glauben macht.
Wie gelangt man an solide Informationen? Im Allgemeinen schwirrt unter Journalisten allerlei Zeug herum, das meist aus dubiosen Quellen stammt. Es kommt nicht nur von der rachsüchtigen Sekretärin, die eine vertrauliche Akte kopiert. Es sind auch die Dienste, die die Presse füttern, Mächte also, mit ihren jeweiligen Interessen. Das macht die Information — sofern sie echt ist — nicht wertlos, macht aber wenig Spaß. Wir haben doch ein Recht auf amtliche Dokumente, dieser Zugang ist die Grundlage von Demokratie.
Ich begann schon früh, als es noch keine entsprechenden Gesetze gab, vor Gericht zu ziehen. Zuerst wegen Datenschutz — damals ein Fremdwort — und dann wegen Informationsfreiheit, gegen BND, Verfassungsschutz & Co. Nicht, dass sich die Richter als besonders sensibel zeigten — ich verlor und verliere fast alle Prozesse —, aber steter Tropfen höhlt den Stein, und mit der Zeit änderten sich die Gesetze. Wir sind eben doch mächtiger, als man uns glauben macht.
Bild: Zeichnung von Björn Gschwendtner