Wir sind Frieden
Andrea Drescher stellt unbekannte Friedensaktivisten vor, die im Kleinen die Welt verbessern. Teil 14.
„Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst“, heißt ein tibetisches Sprichwort. Unsere Aufmerksamkeit ist meist auf dramatische und negative Ereignisse fokussiert. Auch verleiten uns die Medien, Politik als „Königsdrama“ zu interpretieren, in dem mächtige und prominente Akteure unsere Geschicke lenken. Dabei sehen wir nicht, wie viele „kleine“ Initiativen und engagierte, ganz unprominente Einzelpersonen Tag für Tag Zeichen der Hoffnung setzen. Sie halten das Gemeinwesen „mit ihrem Mut am Leben“, wie Reinhard Mey sang. Andrea Drescher porträtiert einige von ihnen. Heute Christian Beckmann, der eine Schule gegründet hat, damit seine Tochter und viele andere Kinder auf eine andere Art lernen und sich die Welt aneignen können.
Andrea Drescher: Was bedeutet für dich Friedensaktivismus?
Christian Beckmann: Für mich heißt das, das „Richtige“ zu tun, dem zu folgen, was mein Herz sagt. Ich habe wohl auch eine eher altruistische Ader — etwas für andere tun, ist mir ein Anliegen. Hinschauen ist ganz wichtig. Da mir Ungerechtigkeit und Unglück auf dieser Welt sehr früh bewusst geworden sind, habe ich mich entschieden, aktiv zu werden und etwas dagegen zu tun.
Und was tust du konkret?
Mein konkretes Engagement begann direkt nach der Schulzeit vor knapp 15 Jahren mit einem Blog. Da ging es um Kriegslügen, Gesundheit, Überwachung und Finanzkrise. Der Blog war als Mitmachprojekt organisiert, sodass sich einige einbringen konnten. Jetzt ist er aber nicht mehr online, sondern nur noch im Backup auf meiner Festplatte verfügbar, obwohl sehr viel Informationen bereitgestellt wurden.
Warum habt ihr aufgehört?
Es war frustrierend. Viel zu schreiben, aber letztlich nicht verändern zu können. Wir drehten uns im Kreis, nach fünf Jahren war offensichtlich: Es bringt niemanden weiter, alle wichtigen Informationen stehen bereits im Netz.
In Karlsruhe habe ich einen Stammtisch gegründet, mit dem Ziel nicht nur im Netz zu diskutieren, sondern sich mit Gleichgesinnten zu überlegen, wie man ins Handeln kommen kann, was möglich ist, was über Aufklärung hinausgeht. Circa zwei Jahre lang haben wir uns einmal im Monat getroffen, dann bin ich aber — aufgrund des Studienabbruchs — wieder in den Norden zurück gegangen.
Aktiv bist du aber weiter geblieben?
Auf jeden Fall. 2010 habe ich das Truthcamp kennengelernt und mich in die Orga eingebracht, obwohl es drei Stunden Fahrzeit bedeutete. Nach und nach habe ich die Orga übernommen und als der ursprüngliche Initiator nach Kanada ausgewandert ist, wurde es zu meinem „Baby“. Wir haben es dann in Friedensmanifest umbenannt und sind von Helmstedt nach Cuxhaven umgesiedelt. 2015 fand es erstmals in Cuxhaven statt, pausiert aber seit 2018, da wir mit der Schulgründung mehr als genug zu tun hatten.
Wie kommt man denn darauf, eine Schule zu gründen?
Wenn man Friedensarbeit macht, beschäftigt man sich ja auch mit den Ursachen. Meiner Meinung nach ist das Bildungssystem eine der Hauptursachen für den Istzustand unserer Gesellschaft. Gerald Hüther hat dazu sehr interessante Vorträge gemacht. Und als meine Freundin Ende 2016 schwanger wurde, stellten wir uns konkrete Fragen: Was machen wir, wenn unser Kind so alt ist, dass es in die Schule kommt? Ideen hatten wir vorher schon, aber jetzt wollten wir handeln.
Man hat ja letztlich nur die Wahl zwischen „wir wandern aus, an einen Ort, an dem es besser läuft“ oder „wir schaffen selber eine Alternative“. Wenn alle auswandern, geht aber alles den Bach runter.
Wir wollten es selbst vor Ort verändern, zeigen, dass es besser geht. Meine Freundin kannte die Alternativen, ich lernte sie nach und nach kennen und dann setzten wir uns damit auseinander, was eine Schulgründung bedeutet.
Das war vermutlich kein ganz einfacher Prozess?
Wir haben damals rumgewitzelt, dass es vermutlich einfacher ist eine Genehmigung für ein AKW zu bekommen als für die Gründung einer Schule. Der bürokratische Akt zog sich bei uns über zwei Jahre hin — und das gilt schon als sehr schnell. Aber es hat sich gelohnt.
Was ist denn das Besondere an eurer Schule?
Die Schule ist kindgerecht. Unsere Schüler können selbst entscheiden, was sie wann lernen, wo sie lernen und wie sie mit wem lernen. Wir üben keinen Zwang auf die Schüler aus.
Die Schüler können aber einen „normalen“ Abschluss erwarten?
Ja. Wir haben alle Klassen von 1. bis 10. und die Kinder verlassen die Schule mit Haupt- oder erweitertem Realschulabschluss.
Unser wesentlicher Grundsatz ist „Liebe statt Angst“. Wir schaffen für die Kinder ein anregendes Umfeld, in dem sie sich von sich heraus gut entwickeln, einen Erfahrungsraum, wo sie selbstwirksam sein können. Wenn man an einem Grashalm zieht, wächst der auch nicht schneller. Aber wenn die Erde gut genährt ist und ausreichend Licht und Wasser zur Verfügung stehen, hat man zur richtigen Zeit eine wunderschöne Wiese.
Statt Konkurrenz steht Kooperation, statt Zwang Begeisterung im Vordergrund. In der Regelschule ist Abschreiben verboten, Kooperation also nicht erwünscht. Über die Noten wird selektiert in gut und schlecht und Konkurrenzdruck erzeugt. Im Mathematikunterricht ist es verboten, ein Buch zu lesen, obwohl es sehr begrüßenswert ist, wenn Kinder lesen wollen. Bei uns darf der Schüler lesen, es heißt eben nicht „jetzt ist Mathe, pack das Buch weg“. Bei uns steht kein Lehrer vorne, der vorgibt, was zu sein hat. Wir sind Begleiter, die die Kinder im Lernen und Leben begleiten und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen, wie sie ihre eigenen Ziele und Wünsche umsetzen.
Bei unseren regelmäßigen Schulversammlungen wird Demokratie gelebt. Lernbegleiter und Schüler diskutieren alle relevanten Themen gemeinsam und stimmen über die schulinternen Regeln ab. Darf man in der Aula Lärm machen, welche Kursangebote werden gewünscht, ist ein Lagerfeuer erlaubt, wo sollen Ausflüge hingehen — die Schüler werden aktiv in die Gestaltung des Schulalltags einbezogen.
Beim Schulabschluss geht es aber doch wieder um externe Regelwerke — wie passt das zusammen?
Die Kinder entscheiden selbst, welchen Abschluss sie wollen. Ab der achten Klasse bereiten wir darauf vor. Sie wissen dann, warum sie sich für etwas entschieden haben und sind dann selbst motiviert, sich das notwendige Wissen anzueignen.
Wie ist die Resonanz aus eurem Umfeld?
Sehr positiv. Oberndorf ist ein alternatives Dorf. Wir haben unser Projekt beim Oberndorfer Forum 2016 vorgestellt. Direkt nach der ersten Präsentation kam die Rückmeldung von einem ehemaligen Schulleiter, der in etwa Folgendes sagte: „Ich denke, ich spreche für alle hier. Das, was ihr vorhabt ist das, was wir uns wünschen“. Wir waren sofort im Dorf integriert, das uns auch durch den Gründungsprozess begleitet und getragen hat. Es gab natürlich auch ein paar negative Reaktionen — meistens anonym — und ein paar Verleumdungen. Aber wer mit Friedensarbeit vertraut ist, dem ist sowas ja nichts Unbekanntes.
Wie viele Schüler habt ihr jetzt?
Derzeit sind es rund 40 Schüler in einer Grundschule und einer Oberschulklasse mit zwei Gruppen.
Was kostet der Besuch eurer Schule?
Das Schulgeld ist sozial gestaffelt. Es sind mindestens 100, maximal 250 Euro pro Monat. Hinzu kommt das Verpflegungsgeld, von dem wir das tägliche Buffet in der Schule bezahlen. Wir haben zwar einen kleinen Biobauernhof dabei, bei dem die Kinder auch lernen, wie gesunde Nahrung entsteht, aber das reicht natürlich nicht. Wir beziehen alles, was für das Buffet noch nötig ist, von Bio-Bauern aus der Region.
Kann man denn mit diesen Mitteln die Schule finanzieren?
Nein. Das reicht natürlich nicht. Wir müssen die ersten drei Jahre mithilfe eines Kredits der GLS Bank selbst vorfinanzieren, erst danach greift die staatliche Finanzierung durch das Land Niedersachsen. Sobald das der Fall ist, können wir den Kredit nach und nach abbezahlen. Für 180.000 der notwendigen 310.000 Euro haben wir schon Bürgen, jeder, der eine weitere Bürgschaft abgibt, hilft uns.
Schüler dürfen es aber auch noch mehr werden?
Natürlich. Wir haben ein großes Schulgebäude und planen langfristig mit rund 100 Schülern. Viele Familien sind schon nach Oberndorf gezogen — auch aus dem Ausland. Statt Dorfsterben ist bei uns Dorfwachstum angesagt.
Wo kann man sich über die Schule informieren?
Auf der Website findet man alles Wissenswerte — und natürlich die Kontaktdaten, wenn Fragen offen bleiben.
Hast du neben der Schule eigentlich noch Zeit für weitere Aktionen?
Nur noch eingeschränkt. Ich bin wohlwollender Unterstützer von Pax Terra Musica und auch als Aussteller dabei, habe zum Beispiel das große Vortragszelt zur Verfügung gestellt. Auch das Festival „Grenzen sind relativ“, ein Projekt von Mischa Gohlke, bei dem es um ganzheitliche Inklusion und Friedensarbeit geht, unterstützen wir. Ich würde gerne mehr machen, aber die Ressourcen sind begrenzt.
Das ist klar. Danke dir für dein Engagement! Ich wünsche vielen Kindern, dass sie euch finden.
Christian Beckmann, geboren 1986 im Landkreis Cuxhaven, wo er immer noch wohnt, ist glücklich liiert und hat eine knapp zweijährige Tochter. Seit er das Studium der Informationswirtschaft nach vier Semestern erfolgreich abgebrochen hat, ist er als Fotograf und Webdesigner sowie seit kurzem als Geschäftsführer einer gemeinnützigen Unternehmensgesellschaft zur Trägerschaft einer freien Schule in Oberndorf tätig. Hobbys hat er neben dem Friedensaktivismus kaum mehr, ein wenig vermisst er das Wandern. Berufsbedingt ist er viel im Internet und in sozialen Netzwerken unterwegs.