Wir sind Frieden
Andrea Drescher stellt unbekannte Friedensaktivisten vor, die im Kleinen die Welt verbessern. Teil 10.
„Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst“, heißt ein tibetisches Sprichwort. Unsere Aufmerksamkeit ist meist auf dramatische und negative Ereignisse fokussiert. Auch verleiten uns die Medien, Politik als „Königsdrama“ zu interpretieren, in dem mächtige und prominente Akteure unsere Geschicke lenken. Dabei sehen wir nicht, wie viele „kleine“ Initiativen und engagierte, ganz unprominente Einzelpersonen Tag für Tag Zeichen der Hoffnung setzen. Sie halten das Gemeinwesen „mit ihrem Mut am Leben“, wie Reinhard Mey sang. Andrea Drescher porträtiert einige von ihnen. Heute die Yoga-Lehrerin und Friedensaktivistin Renate Kassner.
Andrea Drescher: Ist Frieden für dich ein Hobby?
Renate Kassner: Wohl eher eine Herzensangelegenheit. Eigentlich begann alles schon in meiner Kindheit. Die Antworten unserer Religionslehrer gingen mir nicht weit genug. Und sie handelten auch nicht nach dem, was sie predigten. So war ich wie ein Schwamm, als ich meinen ersten Yogalehrer traf. Yoga ist heute mein Weg in Richtung Frieden.
Wie wichtig Frieden ist, wurde mir besonders deutlich, als mein Mann starb. Er war erst fünf, als er miterlebte, wie Dresden zerbombt wurde. Im Sterbeprozess durchlitt er diese Ereignisse erneut und sprach mit mir darüber. Zu wissen, wie er gelebt hat, wie viel Aggression in ihm war, mit wie viel Wut er in der Gesellschaft gekämpft hat, an welchen Verletzungen er durch dieses Jugendtrauma litt — nur wegen Krieg. Und das passiert heute ständig. Die vielen Traumata bei den Kindern führen zu zerstörten Erwachsenen. Daraus leitet sich für mich eine innere Dringlichkeit ab, meinen Beitrag zu einer friedlicheren Welt zu leisten.
Was tust du?
Das ist vielfältig — in den verschiedenen Lebensbereichen sind das unterschiedliche Dinge. Mein Hauptanliegen ist dabei das Yoga, wobei man unter Yoga sehr viel verstehen kann. Jeder Weg der Selbsterkenntnis ist für mich Yoga. Yoga bedeutet dabei nicht nur Körperübungen zu machen, sondern ist eine Lebensanschauung. Frieden mit sich selbst zu schließen ist ein Ziel, das viele Menschen mit Yoga erreichen möchten. Um im Außen gewaltfrei agieren zu können, muss ich in mir ruhig und gelassen sein. Bin ich in mir im Krieg, ist es schwer, im Außen für Frieden zu sorgen.
Das klingt jetzt ziemlich esoterisch und wenig handlungsorientiert.
Mag auf den ersten Blick so sein, stimmt aber so nicht ganz. Yoga kann ganz konkret ins praktische Tun und Handeln führen. Als Yogini ringe ich um die innere Freiheit, Stellung zu beziehen, mir immer wieder die Frage zu stellen: „Wie gehe ich mit mir um, wie gehe ich mit Natur und Umwelt um?“
Es wirkt stark in meinen Alltag hinein und ist keine abgehobene esoterische Idee, sondern fordert gewaltfreie Kommunikation und Handlung. Ich bin als Yogini aufgefordert, in der Gemeinschaft und in der Welt wirksam zu sein. Das Engagement im Außen ist daher ebenfalls ein wichtiger Teil meines Wirksam-werdens als Yogini. Meine Basis dazu liegt im Innen: Kraft, Ruhe, Gelassenheit und Unterscheidungsfähigkeit entwickeln sich für mich in der Meditation, im Innehalten.
Wofür engagierst du dich außen?
Eine der ersten Aktionen, die ich in den 80ern mitgemacht habe, fand im Rahmen eines Friedensfestivals in Berlin statt. Im Tempodrom, am Fuße der Mauer, mit Blick auf die damals noch mit Wachen besetzten Wachtürme, fanden verschiedene Veranstaltungen statt. Es war eine gruselige Kulisse; noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Unser Lehrer flog eines Morgens mit einem kleinen Segler über die Berliner Mauer — von West nach Ost wohlgemerkt — um ein Zeichen für Völkerverständigung, Wieder-Vereinigung, für den Frieden zu setzen.
Ich habe mich in der studentischen Selbstverwaltung engagiert, später dann mehrere Hospizvereine mitgegründet. Dabei ging es mir um ein würdevolles, menschenwürdiges Sein bis zum Schluss.
Derzeit bin ich daran, an meinem Wohnort gemeinschaftliches Handeln und Gemeinschaftsprojekte zu initiieren. Bei WIR GEMEINSAM arbeite ich im Vereinsvorstand mit und kann in dem Rahmen auch Aktionen für Umwelt und Natur vorantreiben. Selbstversorgung, Gemeinschaftsgärten und Ähnliches sind wunderbare gemeinschaftliche Ansätze, bei denen ich mitarbeite.
Ein für mich zentrales Friedensprojekt, das mich inspiriert, ist das ZEGG, das Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Es ist ein gemeinnütziges Bildungszentrum und ökologisches Modellprojekt in der Nähe von Berlin. Ich werde ab März 2018 dort einen 6-wöchigen Kurs besuchen, bei dem es um das Zusammenleben von Gemeinschaften geht: Was braucht eine Gemeinschaft, um existieren und friedlich miteinander leben zu können? Ich verspreche mir davon Anregungen, die ich dann in meinem eigenen Umfeld nutzen und weiterentwickeln kann, um gemeinschaftlich wirksam zu werden und Menschen zusammenzuführen. Ich möchte anders alt werden und nicht den Krieg zwischen den Generationen im Altenheim miterleben müssen.
Eine wesentliche Basis für alle Gemeinschaftsprozesse ist eine friedliche Kommunikation. Hier gibt es erfolgversprechende Methoden wie gewaltfreie Kommunikation und die Soziokratie.
Kannst du sie kurz erläutern?
In der Soziokratie wird die Kreiskultur gepflegt: Jede Meinung im Kreis ist wichtig. Das ist in der Umsetzung nicht immer einfach, wird aber inzwischen in vielen Gemeinschaftsprojekten genutzt, um allen Beteiligten eine Stimme zu geben.
Die gewaltfreie Kommunikation, eine von Marshall Rosenberg entwickelte Methode, dient dazu, das eigene Verhalten zu reflektieren und sich selber besser kennen zu lernen. Dadurch komme ich dann zu Fragen wie „Wie handle ich?“ „Warum so?“ und „Möchte ich so handeln?“ Dies ermöglicht eine friedfertige — im Sinne von fertig als bereit für den Frieden — Art und Weise, miteinander in den Austausch zu gehen. Sprache ist nun mal unser vorrangiges Mittel der Verständigung, hier kann ein achtsamer Umgang sehr viel verändern. Schafft man es, gewaltfrei zu kommunizieren, kann man mit Andersdenkenden ins Gespräch kommen. Das ist mir ein großes Anliegen. Dieser Zugang ist eine dem Yoga verwandte Vorgehensweise.
Womit wir wieder beim Yoga wären.
Ja. Das Interessante ist doch, dass alles, was zu Frieden gehört, in den Yoga-Pfaden formuliert ist — aber auch an die zehn Gebote erinnert: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, nicht stehlen, Begierdelosigkeit, Zufriedenheit, Meditation, vollkommene Harmonie.
Yoga ist für mich ein Weg, der beste Mensch zu werden, der ich sein kann — es ist ziemlich individuell in seiner Ausprägung, was so alles dazu gehört. Es beginnt mit Selbstbeobachtung, sich selbst wahrnehmen — in Körper, Seele und Geist; daraus resultierend dann Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen. Das ist in der für mich sehr berührenden Weisheit „Achte auf Deine Gedanken“ wunderbar formuliert. Die Quelle ist unbekannt, sie wird einem Sprichwort aus China, aber auch dem Talmud zugeordnet.
Wie lautet sie genau?
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Gefühlen.
Achte auf Deine Gefühle, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Für mich heißt es: Ungeachtet dessen, ob es einen Gott gibt oder nicht, bin ich immer selber gefragt, die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Das kann mir keiner abnehmen, nur dadurch lerne ich, taste mich voran und finde meinen eigenen Weg.
Auf dass dein Weg friedlich bleibt!
Renate Kassner, geboren 1955 in Hamburg, wohnhaft in Walkerseich auf dem Land, verwitwete Mutter zweier Töchter, studierte Bio-Ingenieurwesen, heute tätig als Yoga-Lehrerin und Astrologin, Hobbys sind Lesen, Garten in Richtung Selbstversorgung und Singen und meine zwei Katzen.