Wir sind der Wandel!
„Wenn wir uns verändern, verändern wir auch die Welt. Haben wir Mut zu mehr wechselseitigem Respekt und Empathie“, schreibt Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke in seinem Neujahrsgruß.
Immer mehr Menschen finden zum Rubikon. Sowohl Leser als auch Mitwirkende. Das bringt Bewegung und Entwicklung mit sich. Auch Sie sind gefragt, diesen Wandel mitzugestalten.
Das Leben ist Veränderung. Da der Rubikon ein lebendiges Projekt ist, das sich beständig weiterentwickelt, verändert sich auch bei uns so einiges. Das ehrenamtliche Team wächst und auch thematisch ist unser „Magazin für die kritische Masse“ immer vielschichtiger geworden.
Wir sind ein Netzwerk aus engagierten Menschen — Redakteuren, Autoren, Übersetzern, Informatikern, Lektoren und vielen anderen mehr —, die Ihren Beitrag zu einer besseren Welt leisten, aufklären, informieren und Mut machen wollen.
Ein bunter Haufen, der die Vielseitigkeit des Rubikon ausmacht.
2019 wird der Rubikon zwei Jahre alt. Das ist, wie ich finde, ein guter Zeitpunkt, um aus Erlebtem zu lernen und die Weichen auf „Zukunft“ zu stellen.
Aus Erfahrung weiß ich, dass die allermeisten „Weltverbesserungsprojekte“ eines Tages an ihrer eigenen Bürokratie, an ihrem eigenen, mit der Zeit etablierten Dogmatismus sowie der oftmals stillschweigend etablierten Herrschaft Einzelner scheitern und zugrunde gehen. Nachwuchsförderung findet nicht statt, Verantwortung wird nicht geteilt, das eigene Ego nicht transzendiert. Wirkliche Beziehung im Sinne von Gleichberechtigung und Offenheit findet so gar nicht erst statt.
Weil Rubikon hier, um der Chance auf wirkliche Veränderung willen, anders sein will, werden wir ab Beginn 2019 weitere große Schritte in Richtung Dezentralisierung, Gleichberechtigung und flacher Hierarchien im Team gehen.
In einem ersten Schritt werde ich mich als Herausgeber für einige Monate aus dem Projekt zurückziehen und den Rubikon vollumfänglich an das inzwischen gewachsene, großartige Team übergeben.
Wundern Sie sich daher bitte nicht, wenn sich in den nächsten Monaten unsere Illustrationen und Titel verändern und nicht mehr dem gewohnten Stil entsprechen werden, wenn wir ab und an weniger Output generieren oder anderes.
Wir tun dies, weil wir intern Demokratie und Respekt zu lernen und etablieren versuchen, um hierdurch eben auch selbst mit gutem Beispiel voranzugehen.
Und, auch das gehört zur Sache: Wenn Sie sich gelegentlich über den einen oder anderen Artikel, der im Rubikon veröffentlicht wird, von Herzen „ärgern“: Herzlichen Glückwunsch, da haben Sie Teile Ihrer Grenzen, Ihres Wollens und Nicht-Wollens entdeckt.
Bitte fragen Sie sich in solchen Momenten einmal, wie die Welt, in der auch Sie in Zukunft leben möchten, eigentlich aussehen soll:
Wollen Sie wirklich, wie uns das Leser gelegentlich schreiben, ein Magazin, in dem Sie niemals mit den Sichtweisen und Argumenten Andersdenkender behelligt und konfrontiert werden? Oder gehörte zu einer wirklichen Demokratie nicht vielmehr auch, dass wir alle, jeder einzelne von uns, lernen, Respekt und Empathie eben dort zu leben, wo es am meisten schwerfällt; damit eine Welt, in der jeder und jede den Respekt erhält, den er oder sie verdient, überhaupt denkbar und möglich erscheint?
Auch im neuen Jahr werden wir uns jedenfalls weder von Drohungen noch Einschüchterungsversuchen oder Zensurwünschen beeindrucken lassen.
Nehmen Sie sich aus unserem Angebot, was Sie ermutigt und stärkt. Und, wenn Sie den Mut und die Kraft hierzu haben: Konfrontieren Sie sich gelegentlich auch mit jenen Analysen, die nun so gar nicht dem, woran Sie glauben und was Sie für die einzig denkbare Wahrheit halten, entsprechen.
Anhand dieser können Sie lernen, welch destruktive und schädliche Wirkung auf Gemeinschaften, Zusammenhalt und Solidarität es hat, wenn man unmittelbar seinen ersten Affekten folgt und, statt nach Gemeinsamkeiten zu suchen, andere, deren Sichtweisen und Argumente einem nicht gefallen, umgehend abwertet und ihrer Würde beraubt.
Wir sollten wieder lernen, einander mit Respekt zu begegnen, einander zuzuhören und hinter den Worten und Weltbildern dem Eigentlichen zu lauschen, dem, worum es einem anderen Menschen in seinem Streben und Selbstausdruck wirklich geht. Jeder Schritt, den wir in diese Richtung unternehmen, hilft auch dem Frieden in dieser Welt ein Stückweit voran.
Warum das so ist, hat unter anderem Erich Fromm in wunderbare Worte gefasst, als er schrieb:
„Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“
Und:
„Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Orientierung des Charakters, welche die Beziehung eines Menschen zur Welt als Ganzes und nicht nur zum Objekt der Liebe bestimmt.“
Dasselbe gilt für Mut, für Vertrauen — und vieles andere mehr.
In diesem Sinne schließe ich mit einigen Aphorismen, die mir viel bedeuten, sowie einem Gedicht, und wünsche Ihnen ein gesundes und friedliches neues Jahr:
Ihr
Jens Wernicke
„Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“
George Bernard Shaw
„Der freie Mensch handelt niemals arglistig, sondern stets aufrichtig.“
Spinoza
„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort begegnen wir uns.“
Rumi
„Wir erleben den natürlichen Zauber einer Begegnung, wenn wir lernen, anderen Menschen so zu begegnen, als würde ein Teil von uns selbst nach Hause kommen.“
Stephan Ludwig
„Frage dich nicht, was die Welt braucht.
Frage Dich, was dich lebendig werden lässt
und dann geh los und tu das.
Was die Welt nämlich braucht,
sind Menschen, die lebendig geworden sind.“
Harold Whitman
„Was vor uns liegt und was hinter uns liegt,
sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem,
was in uns liegt.
Und wenn wir das, was in uns liegt,
nach außen in die Welt tragen,
geschehen Wunder.“
Henry D. Thorau
„Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen – er wird allein sein. Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten? Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich selbst werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der – Teil eines Ganzen – zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein – wie im Tod –, sondern lebendig als Mensch unter Menschen.“
Richard Beauvais
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“
Vaclav Havel
Jahresrückblick
Oder: Was es zu erlernen galt
Jahr um Jahr
verbringen wir unsere Zeit
mit wichtigen Dingen:
Wir sehen hin und sehen weg
sehen zu
und häufig fern
sehen oft auch
einfach nichts
obwohl es etwas gäbe
oder weil es etwas zu sehen gibt
weil wir nicht wollen oder können
oder uns zu können oder wollen trauen
oder nicht gesehen werden wollen
wie wir sehen
was wir nicht sehen sollen
So sitzen wir da
Tag für Tag, Jahr für Jahr
und resümieren die Welt
wie sie beobachtet war:
Auch dieses Jahr gab es
Liebe und Sieg
– von uns: die Freiheit
von anderen: Krieg
Brücken und Schulen
wurden wegbombardiert
Schaffner, Lehrer und Kinder
mittels Urankugeln und Clusterbomben
einfach seziert
Denn für die Menschenrechte!
das wissen wir längst
muss man manchmal
eben leider auch: töten
morden, meucheln, niedermetzeln, massakrieren, ausrotten, abschlachten
um zu befreien
befreien zu können
Freiheit zu bringen
oder zumindest:
von ihr zu singen
Man kann aber auch
– wer weiß das besser als wir –
während das Publikum singende Superstars im Fernsehen beschaut
viel souveränere und menschlichere Freiheit verschenken
indem man
auf dass sie später ihrer Freunde gedenken
über Jahre hinweg
Offiziere bedrohter Souveräne
in Guerilla-Taktiken unterweist
und ihrem freien Souverän
Chemiewaffenlabors verkauft
noch bevor er vergreist
Man kann immer
und immer wieder
etwas tun
das den meisten Schlechtes tut
und behaupten
es müsste getan werden
weil es getan werden muss
und das Beste für alle wäre
weil es das Beste für alle ist
sein muss
und zu sein hat
wenn es allen ein wenig
weniger gut ginge
als jetzt gerade
und im Moment
und dies nur gut sein kann
weil es anderen
noch schlechter ergeht
behaupten
die Leidenden wären an ihren Leiden
wie die Hungernden an ihrem Hunger
und die Armen an ihrer Armut
selbst schuld
Konflikte schüren und am Eskalieren halten
die die Jungen gegen die Alten
die Alten gegen die Jungen
die Gesunden gegen die Kranken
die Kranken gegen die Gesunden
die Kindergärten gegen die Universitäten
und umgekehrt
sowie die Arbeitenden gegen die Arbeitslosen
wie diese auch gegen sich selbst
und: die Sozialhilfeempfänger
aufbringen
während man einen Konflikt nie benennt
und benennen will
und genau weiß, warum:
den von Arm gegen Reich
und Reich gegen Arm
und mit allen anderen Konflikten
doch nur ausweicht und verbirgt
ablenkt, vertuscht, verschweigt, verheimlicht, unterschlägt, belügt und betrügt
was kaum noch zu verbergen ist:
Dass uns nicht gut tut
gut tun kann
und nie gut tun wird
was uns nicht gut tun soll
Dass Hunger nicht sein müsste
oder muss
selbstverständlich oder selbstverschuldet ist
oder sein kann
wenn kaum mehr
oder gar nicht
zu wählen ist
was man verschuldet
verschulden kann
oder ob und wie
man sich verschulden darf
Dass Freiheit nicht herrscht
herrschen kann, wird oder siegt
wie Krieg niemals
von, für oder durch Menschen gewonnen wird
und Geschichte stets
von Siegern geschrieben ist
Dass Reform Gegenreform
Verteidigung Krieg
Pflicht Unterwerfung
Tugend Gehorsam
und Sünde Ungehorsam meint
und meinen soll
Und so vieles mehr
was es
– auch in diesem Jahr wieder –
erneut
zu erlernen galt
(Jens Wernicke am 29. Dezember 2003)