Wir Gehetzten
Unter den Rahmenbedingungen des Kapitalismus nehmen Ausbeutung und Selbstausbeutung zu. Symptom ist ein zunehmender Terror der Geschwindigkeit.
Vertraute Bilder: Menschen, durch ihren Alltag hetzend. Ein Fahrer, der den Lieferwagen durch eine viel zu enge Straße manövriert und dabei noch schnell am Smartphone die Adresse des Empfängers checkt. Autofahrer, die sich auf dem Weg zur Arbeit die Vorfahrt erstreiten. Junge Männer mit enormen Rucksäcken, die Essen ins Haus bringen und nur dann bezahlt werden, wenn sie die vorgegebenen Zeiten einhalten. Reinigungskräfte, die Treppenhäuser oder Bürogebäude im Akkord putzen, Verkäuferinnen, die gleichzeitig Ware einräumen und Kasse machen, junge Mütter, die in aller Herrgottsfrühe ihre Kinder in der Kita absetzen, Männer und Frauen, denen in der U-Bahn vor Erschöpfung die Augen zufallen. Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. In einer Wirtschaftsordnung, deren Ziel es ist, ihren Profit durch die konsequente Erschließung aller zur Verfügung stehenden Kräfte und Ressourcen zu maximieren, wird die Bereitschaft zur freiwilligen Selbstausbeutung auf dem Arbeitsmarkt als besondere Qualität markiert. Um dies glaubwürdig zu begründen, ist es notwendig, die realen Zusammenhänge begrifflich zu verschleiern.
Ersetzt man also das hässliche Wort „Profitmaximierung“ durch „Effizienz“ und das noch hässlichere Wort „Ausbeutung“ durch „Optimierung“, dann verändert sich das Bild schlagartig. Wer kontinuierlich an die Grenzen seiner Belastbarkeit geht, um seine Performance am Arbeitsplatz zu steigern, erscheint, in diesem Licht betrachtet, nicht länger als Opfer der herrschenden Verhältnisse, sondern als Prototyp des Aufsteigers, der durch seine beruflichen Leistungen zugleich sich selbst verwirklicht.
Zu Recht darf in der modernen Dienstleistungsgesellschaft jeder von jedem den höchsten Einsatz verlangen. So wird derjenige, der als Lieferfahrer sein Geld verdient und um die Bedingungen eines solchen Arbeitsverhältnisses ziemlich genau Bescheid weiß, als Kunde durchaus darauf bestehen, dass ihm sein nach Feierabend bestelltes Essen auf die Minute genau geliefert wird.
Solidarität ist in einem ökonomischen System, dessen Erfolg maßgeblich davon abhängt, wie gut es ihm gelingt, seine Mitglieder gegeneinander auszuspielen, keine menschliche Qualität, auf die man sich verlassen könnte. Im Gegenteil werden bei Menschen, die sich permanent ungerecht behandelt fühlen, fast automatisch Reaktionsmuster aktiviert, die es sie als gerecht empfinden lassen, wenn auch der andere ungerecht behandelt wird. So ist man wenigstens nicht allein der Dumme.
Dass man sich Zughörigkeit erkaufen muss, ist eine Lehre, welche Kinder, die in Armut aufwachsen, früh verinnerlichen, und so ist es nur folgerichtig, dass sich ihr Selbstwertgefühl zuerst an dem aufrichtet, was sie sich leisten beziehungsweise nicht leisten können. Unweigerlich lernen sie dabei, all jene Anteile in ihrem Innern zu verachten, abzuspalten und auf andere zu projizieren, die dem gesellschaftlichen Leitbild des Erfolgreichen nicht entsprechen, denn wer möchte schon zu den Verlierern gehören?
Von dieser psychischen Deformation eines verzerrten Selbstbildes lebt die Unterhaltungsbranche, die durch das Prinzip Ablenkung maßgeblich dazu beiträgt, dass Menschen kein Interesse an Selbsterkenntnis entwickeln und sich in digitalen Ersatzwelten dennoch als Protagonisten fühlen dürfen. Für zahlreiche Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft ist der Siegeszug des Internets seit Ende der 1990er-Jahre ein wahrer Segen: Denn was dem Konsumenten als ultimativer Zugewinn an persönlicher Freiheit vorgespiegelt werden kann, ist in Wahrheit die technische Voraussetzung auf dem Weg zur totalen Kontrolle seines Kaufverhaltens und seines Bewusstseins.
Wie schwer es selbst für einen reflektierten Menschen ist, dem beständig sich steigernden Konformitätsdruck zu widerstehen, mag jeder an sich und seinem sozialen Umfeld überprüfen. Fest steht, dass es für die meisten Menschen nahezu unmöglich ist, die Mechanismen ihrer eigenen Manipulierbarkeit zu begreifen. Es bleibt ihnen deshalb kaum eine andere Wahl, als ihre Wünsche und Bedürfnisse gesellschaftskonform zu kanalisieren.
Konsum als Kompensation für all das, was ein psychisch gesundes, sinnerfülltes Leben eigentlich ausmacht: die Verbindung zu den eigenen Gefühlen, tragfähige Beziehungen und die Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten und Talenten kontinuierlich zu entfalten.
Vertraute Bilder: Menschen, durch ihren Alltag hetzend. Wir wissen nicht, wer sie sind. Kennen weder ihren Namen noch ihre Geschichte. Und sind auch für sie namenlos, gehetzt. In großen Städten erschöpft sich Begegnung nicht selten darin, im Bus angerempelt zu werden oder unversehens selbst jemanden anzurempeln. Das verbreitete Gefühl der Vereinzelung, der Eindruck, am Rande zu stehen und für niemanden wichtig zu sein, führt dazu, dass man unliebsame Situationen reflexartig auf sich bezieht. Es liegt dann an uns, innerlich einen Schritt beiseite zu treten und dem anderen wenigsten durch ein kleines Zeichen zu bedeuten, dass man es nicht persönlich nimmt.
Natürlich gelingt das längst nicht immer. An Orten, an denen viele Menschen zusammenkommen, macht sich häufig ein Unbehagen breit, das umso bedrohlicher erscheint, als man es nicht konkret zu benennen vermag. Gefangen in den selbstzerstörerischen Mustern eines sich vollkommen im Außen verwirklichenden Lebens, leiden immer mehr, zumal junge Menschen, an einem Gefühl der Sinnleere, selbst wenn sie in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen noch funktionieren. Die Folge sind psychosomatische und psychische Störungen unterschiedlichster Art, die meist erst dann behandelt werden, wenn die Betroffenen tatsächlich, wie ein altes Haushaltsgerät, ihren Geist aufgeben.
Doch statt den wahren Ursachen des Leidens auf den Grund zu gehen, kommen heute vorzugsweise Therapieformen zum Einsatz, die auf kurzfristigen Erfolg hin angelegt sind, sprich deren Ziel es ist, den Patienten so schnell wie möglich wieder funktionstüchtig zu machen. Dass das Erkenntnis- und Entwicklungspotenzial, das in jeder psychischen Störung beschlossen liegt, dabei ungenutzt bleibt, liegt auf der Hand.
Wer keinen Zugang zu seinen Innenräumen besitzt und sich der Widersprüche und Ambivalenzen, in denen er lebt und die er zugleich in sich trägt, nicht bewusst ist, wird sich logischerweise schwer damit tun, andere Menschen und deren Motivationen und Handlungsweisen zu verstehen. Die Mechanismen sozialer Interaktion und deren grenzenloser Manipulierbarkeit werden ihm fremd bleiben, und so ist es möglich oder sogar wahrscheinlich, dass er früher oder später Symptome entwickelt, die einem Gefühl der Ohnmacht geschuldet sind. Statt ins Handeln zu kommen, wird er, um seinen Leidensdruck zu verringern, in digitalen Räumen oder in sport- und unterhaltungsindustriellen Angeboten nach der Anerkennung suchen, die er sich nirgendwo sonst verschaffen kann.
Bezeichnenderweise wird ausgerechnet diejenige Abhängigkeit, von der die meisten Menschen in den westlichen Industriegesellschaften in irgendeiner Form betroffen sind, kaum noch als solche markiert, was allerdings weniger der Kapitulation vor der Realität geschuldet sein dürfte als der Tatsache, dass Menschen, die über kein Bewusstsein ihrer selbst verfügen, für die politischen Machthaber, und zwar jeglicher Couleur, willfährige Opfer sind.
Während Armut in der Vergangenheit meist durch lebensbedrohliche materielle Not ausreichend beschrieben werden konnte, so wird man heute nicht umhinkommen, zusätzlich die Dimension geistiger und seelischer Deformation in den Fokus zu rücken. Armut hat im globalen Kapitalismus der Gegenwart unzählige Facetten, deren Ursachen zu einem gewissen Anteil systemimmanent sind und deren Lösungsansätze, solange sie nicht grundsätzlicher Natur sind, notwendigerweise unbefriedigend bleiben müssen.
Vertraute Bilder: Menschen, durch ihren Alltag hetzend. Wir selbst sind diese Gehetzten, und die einzige Möglichkeit, unsere Würde zu bewahren, besteht vielleicht darin, allen Widerständen zum Trotz wenigstens in Kenntnis zu leben und niemals müde zu werden, uns dagegen zu wehren, in den Krieg aller gegen alle gezogen zu werden.
Das ist nicht einfach. Es ist sogar ziemlich anstrengend und kann längst nicht immer gelingen. Doch worin bestünde die Alternative?
„Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“
Mit diesen Worten endet Günter Eichs tiefgründiges Hörspiel „Träume“ aus dem Jahre 1951: eine niemals versiegende Kraftquelle widerständigen Fühlens und Denkens. Auf YouTube kann man es sich anhören.