Wir gegen Die
Die Rhetorik der Flüchtlingsabwehr untergräbt die Demokratie. Exklusivabdruck aus „Die Erfindung der bedrohten Republik“.
In Anbetracht wachsender sozialer Probleme und Armut fallen künstlich erschaffene und von den Massenmedien fleißig genährte Feindbilder auf fruchtbaren Boden. Das erinnert an finstere Zeiten der Geschichte und ist sehr gefährlich, wenn wir uns diese Dynamik nicht immer wieder bewusst machen. Besonders die Stigmatisierung der Flüchtlinge, von denen angeblich eine Bedrohung ausgeht und derer „wir“ uns mit immer härteren Maßnahmen erwehren müssen, zerstört den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Neue Feindbilder erhalten Nahrung durch die Frustration einheimischer Bürger über die Verwüstungen, die der Kapitalismus anrichtet.
Die Erfindung der „bedrohten Republik“ und die Propagierung der Alternativlosigkeit der Abwehr von Flüchtlingen rührt an ein grundsätzliches Problem: Die Demokratie wird zunehmend ausgehölt. Erneut wurden demokratische Prozesse in der politischen Öffentlichkeit blockiert und ausgehebelt. Erneut wurde mit Angstbotschaften die brutalisierte Abwehr von Flüchtlingen gerechtfertigt. Die Regierung konnte sich dabei auf jede Menge „Argumente“, manipulative Umdeutungen und ideologische Rahmungen durch einen Großteil der Journalisten verlassen.
Es waren Beruhigungspillen fürs Volk, die von den Medien wie am Fließband geliefert wurden.
Denn die Folgen der „unschönen“ Abschottung, waren, wie der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière es ausdrückte, „unschöne Bilder“, die wir aushalten müssten.
In der „Krise“ von 2015 bis 2017 sind über 12.000 Flüchtende im Mittelmeer ertrunken, wahrscheinlich genauso viele oder mehr zusätzlich auf dem Weg durch Wüsten verdurstet und verhungert. Allein die Opfer im Mittelmeer bedeuten jedes Jahr durchschnittlich eineinhalb Mal so viele Tote, wie bei den Angriffen von 9/11 zu beklagen waren. Das sind allerdings nur die dokumentierten Fälle, die von Überlebenden berichtet werden.
Das gut recherchierende Projekt „Migrant Files“ geht davon aus, dass in den letzten 15 Jahren weit mehr, bis zu 80.000 Flüchtende, allein im Meer gestorben sind – dazu käme noch einmal mindestens die gleiche Opferzahl infolge von Verdursten, Verhungern und Ermordungen. Die Erosion des Flüchtlingsschutzes schreitet derweil weiter voran, inklusive „KZ-ähnlichen“ Zuständen wie in Libyen, Versklavungen, dauerhaften Internierungen und den „Höllenexperimenten“, denen Flüchtlinge in den Lagern im Globalen Süden ausgesetzt werden.
Hilfsboote werden abgedrängt und attackiert von der libyschen Küstenwache, bezahlt von der EU. Es herrschen katastrophale Zustände auf Flüchtlingsrettungsschiffen – eine Mutter und ihr Säugling im Koma sowie Krätze an Bord –, denen aber die Einfahrt in europäische Häfen verweigert wird. Die Regierungen Europas schauen weg, inklusive der Bundesregierung, die Medien entsorgen die „Kollateralschäden“ durch gezielte Ignoranz. Wie Heribert Prantl es vor der „Krise“ auf den Punkt brachte:
„Die EU schützt sich mit toten Flüchtlingen vor Flüchtlingen“.
Die Erfindung der „bedrohten Republik“ diente aber nicht nur dazu, im politischen Schnellverfahren die Lösung der „Krise“ durchzusetzen, Fachwelt, Zivilgesellschaft und Bürgermeinung dabei auszuschalten und kritische Meinungsbildung in Hinsicht auf zivile und faire Alternativen abzublocken. Mit ihrem Bedrohungsdiskurs boten Politik und Medien dem sozialen und politischen Frust in der Gesellschaft zudem Sündenböcke an.
AfD, Pegida und Neonazis nahmen die „Blitzableiter“ dankend an, während Süddeutsche Zeitung, Spiegel, ARD und Co. dem Frust ständig neue Symbole und Geschichten zuführten, die Schutzsuchende zur Gefährdung, zum Mega-Problem und zur Jahrhundertkrise stilisierten. Gleichzeitig wurde das Anwachsen von rechtsradikalen Kräften und Fremdenfeindlichkeit wiederum in der politischen Öffentlichkeit recycelt, um die Abwehr von Flüchtlingen als Reaktion auf destabilisierte demokratische Verhältnisse in der EU und Deutschland zu rechtfertigen.
Die stigmatisierende Symbolproduktion, die Minderheiten an den Pranger stellt, ist ein gefährliches Spiel. Denn die dabei stimulierte Blitzableitung von angestautem Frust auf Sündenböcke kann demokratische Institutionen erodieren. Ein repressives „Wir“ verschafft sich zunehmend Raum in der Gesellschaft und betritt immer selbstbewusster die politische Bühne, während Minderheiten mehr und mehr ausgesondert und institutionell stigmatisiert werden.
Einige institutionelle Verschiebungen sind jenseits der Wahlerfolge der AfD in Deutschland und der politischen Rechtsentwicklung im Zuge der „bedrohten Republik“ schon zu besichtigen. Der Schutz von Minderheiten in der Medienberichterstattung, verankert im Pressekodex, wurde nach der Kölner Silvesternacht für obsolet erklärt. Seitdem ist der Pranger-Journalismus fester Teil der politischen Öffentlichkeit. Bei Münchener Oktoberfesten werden die Straftaten von Asylbewerbern von der Polizei nun extra veröffentlicht.
Ein massives „Racial Profiling“ fand in der Silvesternacht 2016/2017 auf der Kölner Domplatte statt, da angeblich ein neues „Sodom und Gomorrha“ drohte. Das BKA führt seit 2016 einen Extra-Bericht „Kriminalität im Fokus“, bei dem die Straftaten von Zuwanderer-Flüchtlingen gesondert behandelt werden. In Bayern wurde das Polizeirecht massiv verschärft, andere Bundesländer planen ebenso die Befugnisse der Polizei drastisch auszuweiten. So werden antidemokratische „Wir“-gegen-„Die“-Schemata und repressive Strukturen in die Gesellschaft eingepflanzt, die sie wiederum anfälliger machen für rechtsradikale und faschistische Ermächtigungen.
Die negative Gegenüberstellung Deutsche vs. Flüchtlinge im Zuge der „Krise“ ist nur der Kulminationspunkt in einer Reihe von politischen Diffamierungen von „Out-Groups“, um unpopuläre Politiken durchzusetzen. Sie reicht von den „Sozialschmarotzern“ im Zuge der Agenda-2010-Debatten über die „Schurkenstaaten“ wie Afghanistan, Irak oder Russland (um geopolitisch Kriege und Eskalationen durchzusetzen) bis hin zum „Schuldenstaat“ wie Griechenland, um damit den Wohlfahrtsstaat in der EU zu attackieren.
All das spielt sich ab vor dem Hintergrund eines zunehmenden Niedergangs der Demokratie, der nicht nur in den USA, sondern auch in Europa zu beobachten ist. So wurden wichtige Entscheidungen an die Bürokratie in Brüssel delegiert, die wiederum zu großen Teilen die Finanzindustrie repräsentiert. Den Griechen wurde 2015 erklärt, dass nicht sie über ihr Schicksal entscheiden dürften. Der deutsche Finanzminister und die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission wischte das Nein der Griechen gegen die Austeritätsmaßnahmen beiseite und setzte ein brutales Spar- und Sozialkürzungsprogramm durch. Jetzt dürfen die Griechen leiden, während sich die französischen und deutschen Großbanken ihrer Ausfallrisiken entledigen konnten – zu Lasten der deutschen und europäischen Steuerzahler.
So fühlen sich überall in der EU und auch in Deutschland die Menschen von ihrer Politik und ihren Medien alleingelassen. Sie wenden sich ab von zentralen Institutionen der Demokratie wie dem Parlament und den Medien. Das Misstrauen ist wie schon gesehen nicht unbegründet.
Studien in den USA und auch in Deutschland zeigen, dass die Meinung großer Teile der Bevölkerung praktisch keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen ihrer Regierung hat, während die Wünsche der obersten Einkommens- und Vermögensschicht den Kurs festlegen.
Während immer mehr Reichtum von unten nach oben abgesaugt wird, werden die Bürger auf die Zuschauertribüne verbannt. Sie dürfen Banken retten, dafür zahlen, aber nicht einmal über ihre Abgeordneten Kontrolle über die Hunderten Milliarden Euro ausüben. Ihre Sorgen und Nöte werden gleichzeitig in der Realpolitik zum „Gedöns“ degradiert, für das lediglich symbolische Heftpflaster verabreicht werden.
Steigende Mieten und Wohnungslosigkeit; kaputte Schulen und Bahnchaos; wachsende Armut und gedemütigte Hartz-IV-Aufstocker; überforderte Alleinerziehende, gestresste Studierende und Abgehängte; versteckte und offene Armut im Alter; Pflegekrise; blockierte Energiewende, steigende Treibhausgase und bedrohlicher Klimawandel; Bauernhofsterben auf dem Land; deindustrialisierte Zonen ohne Perspektiven in Ost und West; steigende Konzernmacht: Die Liste der Missstände ließe sich lange weiterführen. Keiner dieser Missstände wird ernsthaft von den politisch Verantwortlichen adressiert, viele von ihnen werden sogar weiter verschärft. Die Bürger haben allen Grund, frustriert zu sein, Angst zu haben und schwarzzusehen.
Sie wissen zudem, dass die schlechte Realität nicht vom Himmel gefallen ist, sondern aus politischen Entscheidungen resultiert, die von Journalisten (um es freundlich auszudrücken) intellektuell lediglich eskortiert worden sind. Das gilt unter anderem für die neoliberalen Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat und die militärische Interventionspolitik.
Seit über zwei Jahrzehnten hören die Bürger in Endlosschleife, dass „harte Entscheidungen“ getroffen werden müssen, damit am Ende alles für alle wieder gut oder doch besser wird. Während Kommunen jedoch weiter zum Sparen gezwungen werden, viele Menschen ihre Lebenshaltungskosten vor allem in den Städten nicht mehr tragen können und Armut sich ausweitet, erhält das deutsche Militär gleichzeitig in wenigen Jahren 80 Prozent mehr Geld, von 2015 bis 2019 innerhalb von nur vier Jahren absolut 10 Milliarden Euro zusätzlich. Tendenz steigend. Denn die Regierung möchte möglichst bald das NATO-Versprechen einlösen, zwei Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung für Soldaten, Panzer und Kriegseinsätze auszugeben.
Mancher mag sich da fragen: Warum wird derart viel Geld für „militärische Lösungen“, warum werden astronomische Summen für Banken und Konzerne ausgegeben, anstatt sinnvolle Politiken in Deutschland und der Welt damit zu ermöglichen?
Was immer die Europäer in ihren Ländern an etablierten Parteien seit vielen Jahren wählen, sie bekommen mehr oder weniger immer die gleiche Politik. Der daraus resultierende Frust und Vertrauensverlust ist längst nicht mehr nur ein bohrendes Gefühl in westlichen Demokratien, sondern wird zunehmend politisch.
Die Briten haben der EU und dem politischen Establishment mit ihrem, wenn auch knappen, Brexit-Yes eine Lektion erteilen wollen. Sie werden erfahren, dass der Neoliberalismus auch ohne EU funktioniert und Demokratie national blockiert werden kann. Darüber hinaus gewinnen rechtsradikale und populistische Parteien in ganz Europa immer mehr an Rückhalt in der Gesellschaft. Auch sie werden keine Lösung für den Frust bringen. Im Gegenteil. Trump hat den Superreichen, dem oberen einen Prozent, wie angekündigt ein Steuergeschenk in Höhe von gigantischen 1,5 Billionen Dollar gemacht, während die Gegenfinanzierung über Sozialkürzungen in den nächsten zehn Jahren eingebracht werden soll. Die AfD ist ebenfalls auf der Seite der Reichen und Superreichen. In Frankreich propagiert der Front National eine Politik für die Familie und mittelständische Betriebe. Ob es mehr ist als wahltaktische Rhetorik, um bei der Bevölkerung zu punkten, ist allerdings fraglich.
Diejenigen, die über sehr viel Einfluss auf die Politik und Meinungsbildung verfügen, haben verständlicherweise kein Interesse daran, sich mit dem gesellschaftlichen Frust in den unteren Etagen der Gesellschaft auseinanderzusetzen oder Steuergerechtigkeit und soziale Gleichheit anzustreben. Andererseits stellt der wachsende Bürger-Frust eine Gefahr für die Interessen der Elite und der Kapitaleigner, also der Business-Klasse dar. Daher versuchen Massenmedien, dominiert von milliardenschweren Verlegerdynastien und Medienkonzernen, die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche zu lenken: Weg von der Politik, hin zu Unterhaltung, Sport und Konsumismus.
Aber auch in der politischen Arena müssen Ventile für Wut und Ohnmacht geschaffen werden. Denn selbst in bürgerlichen Schichten rumort es angesichts der gesellschaftlichen Missstände. So werden Kriege und außenpolitische Konflikte benutzt, um eine Art intellektuellen „Wir“-gegen-„Die“-Teamspirit zu erzeugen. Die Bush-Regierung kramte nach den Anschlägen von 9/11 ständig neue „Red-Alert“-Bedrohungen hervor.
Die Botschaft ist immer die gleiche: „Wir“ werden bedroht von „denen“. „Wir“ müssen gegen „die“ zusammenhalten. „Wir“ sind die Guten, „sie“ sind die Bösen. Zugleich ermöglicht das „Wir“-gegen-„Die“-Schema das Ausleben von politischer Unzufriedenheit. Es heißt: Die Muslime sind schuld. Oder: Die Russen sind schuld. Oder: Die Griechen sind schuld. Nicht: Die Banken sind schuld oder: Die eigene Regierung ist schuld. Im ARD-Politmagazin Kontraste brachte ein Kneipenbesucher in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern die Logik so auf den Punkt:
„Früher haben die Wessis auf die Ossis geschimpft, die Ossis auf die Wessis. Und jetzt schimpfen beide auf die Ausländer“.
Zurück bleiben verängstigte Bevölkerungen. Diese Verängstigung ist letztlich ein Nebenprodukt der Rhetoriken, mit denen Kriege, „harte Entscheidungen“ und unfaire Muskelspiele gegenüber Schwächeren in der internationalen Arena gerechtfertigt werden. Die umherschwirrende Angst wird von interessierten Seiten in Petrischalen künstlich weiter gezüchtet. So wird der politische Unmut zunehmend von seiner Quelle und Zielscheibe, von den Eliten und „denen da oben“ weggelenkt auf die „Feinde unserer Art zu leben“, die uns bedrohen.
Thilo Sarrazin hat dieses Potenzial meisterlich ausgeschöpft und die ganze Klaviatur der Ablenkung nach dem Muster bedient: „Die sind schuld“ beziehungsweise „der Islam schafft Deutschland ab“. Die Medien boten ihm ein breites Forum. Das Buch wurde zu einem großen Bestseller. Nicht zufällig kommt Sarrazin aus der Finanzindustrie. Er ist ein klassischer Rattenfänger. Aber die „Ratten“, die verängstigten Menschen, wurden im Zentrum der neoliberalen Demokratie, von Konzernen, dem politischen Establishment und der massenmedialen Öffentlichkeit erzeugt.
Es ist wie gesagt ein gefährliches Spiel mit Rückschlag-Effekten. Denn es macht die Schleusen auf zu Kanälen, die trübe Gewässer in sich tragen. Der Fokus auf Minderheiten, andere Kulturen und Nationen als Bedrohung des „Wir“ dockt an faschistische Ermächtigungstaktiken an, wie Jason Stanley von der Yale University in seinem aktuellen Buch „How Fascism Works“ zeigt. Nach dem Schema:
„Wir sind die Opfer, sie die Täter. Sie sind minderwertig und nicht vertrauenswürdig. Sie leben im Sodom und Gomorrha. Sie kommen zu uns und nehmen uns die Arbeit weg und begrabschen unsere Frauen und Mädchen. Ohne sie wäre alles besser.“
Die liberalen Medien wissen um die Gefahr, den Geist komplett aus der Flasche zu lassen, und dosieren die Zuläufe aus den trüben Kanälen, anders als die Trumps, Orbáns, Putins und Erdogans, die offen die Demokratie angreifen und autoritär auf „Wir“-gegen-„Die“-Rhetorik umschalten. In Deutschland wie in den meisten europäischen Staaten werden die Schleusen bisher nur in politisch kritischen Momenten weiter geöffnet, um Kriegseinsätze, internationale Konfrontationen oder repressive Akte gegen Widerstände durchzusetzen. Dann kann das Herabwürdigen von Staaten, Religionen und Kulturen bis zur Diffamierung hochgedreht werden.
Buchpremiere
Donnerstag, 11. April, 20.00 Uhr
Roter Salon in der Volksbühne
Rosa-Luxemburg-Platz
10178 Berlin
David Goeßmann deckt in „Die Erfindung der bedrohten Republik“ auf, wie innerhalb kurzer Zeit gegensätzliche mediale Konstruktionen von kollektiver spontaner Humanität und einer inneren Notstandsituation von der Politik fraglos übernommen wurden. Am Anfang standen die Flüchtlinge – und am Ende unsere beschädigte Demokratie.
David Goeßmann: Die Erfindung der bedrohten Republik – Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden, Das Neue Berlin 2019.