Willkommen und Abschiebung

Sind Geflüchtete Schreckgespenst oder neues revolutionäres Subjekt?

Ein Essay über Einreisen, die nicht legal aber legitim sind, über menschliche Kälte, den Kampf der Kulturen zwischen Haben und Sein sowie das Gebot grundlegender Umverteilung.

Der sogenannte „Befreiungskampf gegen illegale Einwanderung“ hat das Potential, Regierungen zu stürzen, Europa zu sprengen und Faschismus zu mobilisieren. Nicht nur in Ungarn, wo sich fast drei Viertel der Wähler zu Kämpfern erhoben haben. Wer sich in Deutschland an der Basis umhört, gerade auch unter Gewerkschaftern, der könnte – wie der Soziologe Klaus Dörre – zu dem fassungslos machenden Schluss kommen: Der Faschismus ist nicht mehr aufhaltbar. Und morgen gehört ihnen Europa? Die „Glitzerdemo“ gegen Hass und Gewalt jüngst in Berlin war ein fröhliches, aber energisches Stoppsignal. Die Revierverteidigung bleibt dennoch offen.

Man muss miteinander reden, heißt es allenthalben. Also reden wir. Die Vertreter von Willkommen und Abschiebung. Die Unterscheidung ist unscharf. Allein die Wortwahl – wegschieben, Schneeschieben, Menschenschieben. Der eher dem Abschottungslager zuzurechnende Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz schrieb 2016 im Cicero:

„Dass Menschen aufgezwungene Veränderungen nicht wollen, dass sie Parallelgesellschaften ablehnen, dass sie kulturelle und religiöse Konflikte nicht wünschen, ist weder fremdenfeindlich oder rechtsradikal, noch rückschrittlich, sondern ihr gutes Recht.“

Natürlich sind mit dem Aufeinandertreffen fremder Kulturen Konflikte verbunden, wer sie nicht selbst erlebt, wird über die Medien reichlich damit versorgt.

Wofür Medien (und Psychologen) weniger sensibilisieren ist, sich in diejenigen zu versetzen, denen seit vielen Generationen – von Wohlstandsmenschen wie uns – brutale Veränderungen ihrer gewohnten Lebensweise aufgezwungen werden. Die Parallelgesellschaften der übelsten Art ertragen mussten und weiterhin müssen: als Sklaven, als Kolonialisierte, als Missionierte, als Opfer imperialer Putsche und des Terrors kapitaler Ökonomie und auch noch des Krieges gegen den Terror.

Der Trugschluss, ein kleiner Teil der Welt könne unbeschwert in Luxus leben, während der Großteil dafür in Armut und militanten Konflikten versinkt, könnte gerade darauf beruhen, dass wir nicht wünschen, diesen Missstand als „kulturellen Konflikt“ wahrzunehmen.

Auch religiöse Konflikte mögen wir gar nicht. Wir finden es bedauerlich, wenn westliche Länder die Bewohner islamischer in ungezählten Kriegen mit Erniedrigung, Leid, Raub, Chaos und so genährtem Fundamentalismus geradezu geflutet haben. Aber es gab keine Alternative zum Schutz unserer und ihrer Sicherheit. Und was ist der Dank? Jetzt wird der Hindukusch auch in Deutschland verteidigt.

„Wir wollen unsere abendländische und christliche Kultur bewahren“ – hält die AfD dagegen. Der Mythos vom Abendland war auch den Nazis willkommen, als Abgrenzung gegen den jüdischen Bolschewismus und alles Fremde. Und nun richtet sich das Geschütz gegen die „islamische Überflutung“.

Da schaltet so mancher Erzbischof, beinahe wie einst Don Camillo, bei unliebsamen Kundgebungen schon mal die Kirchenbeleuchtung aus. Muslime brächten auch Werte mit, die zu beleben uns gut täte – wie familiärer Zusammenhalt, meint der Ratsvorsitzende und wirft der AfD „menschliche Kälte“ vor. Innerchristliche Konflikte, wie befremdlich sie auch sein mögen, man denke an die bayerische Kreuz-Debatte, werden als nicht so störend empfunden wie die mit fremden Religionen.

Dabei prägt unsere Lebensweise Migranten viel mehr als umgekehrt. Die allermeisten Muslime passen sich nach einiger Zeit der hier üblichen Familienplanung an und sind toleranter als gedacht. Selbst von den hochreligiösen Sunniten in Deutschland wollen laut einer Bertelsmann-Studie 40 Prozent homosexuelle Paare heiraten lassen – in der Türkei wollen das nur 12 Prozent. Und gar 90 Prozent „unserer“ Sunniten halten die Demokratie für eine gute Regierungsform, also nicht die Scharia.

Sind noch alle an Bord? Hört noch jemand zu?

Ist es tatsächlich unser Recht, noch dazu unser gutes, uns frei zu halten von Übeln, die wir aktiv oder durch schweigende Duldung anderen antun?

Die Übereinstimmung mit der eigenen kleinen Welt verlieren – „Nicht mit uns“, rufen die aus dem Westen, „Nicht schon wieder“, die aus dem Osten. Und beide wissen: Es wird nie wieder, wie es war.

Denn es darf auch nicht so bleiben, wie es war. Mit unserer Kultur des Habens und ihrer Ignoranz gegenüber der immer offensichtlicher werdenden Erkenntnis der Habenichtse: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich. Allein in den letzten vier Jahren, so die Internationale Organisation für Migration, sind auf der Flucht 25 000 Menschen umgekommen – hinzu kämen die Namenlosen der in der Sahara verdursteten und im Mittelmeer ertrunkenen.

Es ist die Nagelprobe für Wutbürger, ob sie den Glutkern des Humanismus verinnerlicht haben: Alle Menschen sind gleich an Würde und an Rechten.

Alle, nicht nur Bio-Deutsche, die es so wenig gibt wie Bio-Autos. Alle Europäer haben Migrationshintergrund. Unsere Ur-Ur-Ahnen kamen aus Nord-Afrika. Sie kamen aus Hunger und aus Neugier. Heute haben wir deutschen Konsumbürger unseren ökologischen Fußabtritt für 2018 bereits Ende April hinterlassen. Der weitere Verbrauch geht auf Kosten anderer, Ärmerer.

Deren Existenz nicht selten internationale Konzerne mit deutscher Beteiligung durch Knebelverträge und verseuchte Natur zerstört haben. Wer gegen den permanent betriebenen Verstoß gegen Recht und Würde dieser unter widrigsten Bedingungen Lebenden und Sterbenden nie aufbegehrt hat, nicht durch praktisches Engagement, noch durch theoretisches Rebellieren in Bild, Schrift und Ton, der möge vom Obersten Gericht mit christlicher Nächstenliebe und Erbarmen bestraft werden. Und dann aufwachen.

Etwa, wenn die der glühenden Sahara Entkommenen, die sich Schlepper nicht leisten können, vor der spanischen Exklave Ceuta den sechs Meter hohen und mit scharfen Klingen gekrönten „Nato-Draht“ restlos erschöpft umschwommen haben, und dann von den spanischen Grenzern mit Gummigeschossen daran gehindert werden, ans Ufer zu kommen. Derart hat es Spanien geschafft, verhältnismäßig wenig Asylanträge bearbeiten zu müssen.

Gab es da eben den Ruf nach nichts als der Wiederherstellung der „rechtsstaatlichen Ordnung an den Grenzen unseres Landes“? Sicher, die Einreise über die blaue oder grüne Grenze ohne gültiges Visum ist illegal. Aber gültige Visa nach Europa gibt es nicht. Wessen Antrag nach Prüfung anerkannt wurde, der hatte offensichtlich keine Chance, seine legalen Ansprüche anders als über illegale, lebensbedrohende Wege durchzusetzen. Seine Einreise war legitim. Seine Aufnahme legal.

Das EuGH-Urteil vom Juli 2017 hat auf die solidarische Eintrittsklausel verwiesen, nach der in Humanität bedrohenden Notfällen auch diejenigen Staaten Europas Geflüchtete aufnehmen dürfen, die nicht dazu verpflichtet sind. Völkerrechtlich ist die Kanzlerin gedeckt. Angela Merkel hat aber über das Parlament hinweg entschieden. Hat sie damit ihre Richtlinienkompetenz überzogen? Richtlinien sind nicht für Ausnahmesituationen geschaffen. Da es keine Präzedenzfälle gibt, wird die Frage umstritten bleiben.

Das Grundgesetz bestimmt: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Da wir politische Verfolgung nicht begrenzen können, dürfen wir auch die Aufnahme der Betroffenen nicht begrenzen.

Armut, Bürgerkriege oder Naturkatastrophen gelten, selbst wenn durch westliche Politik mit ausgelöst, als unpolitische Verfolgung. Das ist unlogisch, aber konsequent für eine Welt, die so viele Menschen ins Elend gestürzt hat, dass die ursprüngliche Idee von Asyl ad absurdum geführt wurde. Allein mit Aus- und Einwanderung sind die Probleme nicht zu lösen, darüber dürfte sogar Einigkeit herrschen.

Durs Grünbein hat – rückblickend auf die Kontroversen unter Literaten und Verlegern – in der Süddeutschen Zeitung das eigentliche Problem in einem Nebensatz abgehandelt: Die Lage sei so komplex, dass sie „nur noch durch eine Weltrevolution zu lösen“ sei. Das wurde unhinterfragt hingenommen. Könnten wir uns bitteschön darauf einigen, an diesem Punkt mit den Überlegungen nicht aufzuhören, sondern anzufangen?

Ende des Jahres will die UNO zwei Pakte verabschieden: einen globalen Pakt für Flüchtlinge und einen für geordnete Migration. Die Entwürfe liegen vor. Die Kapazitäten von Gemeinden sollen gestärkt werden, um Geflüchtete besser integrieren zu können, also gezielter auszubilden und leichter arbeiten zu lassen. Es wird angestrebt, größere Camps durch individuelle Unterbringung zu ersetzen. Denkbar sei eine verpflichtende Aufnahmequote. Friedenspolitik soll weltweit gestärkt werden. Völlig offen bleibt bisher, wer all das Wünschenswerte bezahlen soll.

Regierungen haben da meistens eine Idee – man erinnert sich: Nach einem Bericht der Deutschen Bundesbank vom Juni 2015 hat die Bankenrettung den deutschen Steuerzahler 236 Milliarden Euro gekostet. Das hat natürlich heftig auf die Sozialsysteme gedrückt, aber außer der Linken hat das kaum jemand beklagt.

Das Geld fehlt im Wohnungsbau, in der Ausbildung von Lehrern und im Ausbau der analogen und digitalen Infrastruktur. Doch die Banken mussten gerettet werden, weil sie angeblich systemrelevant sind. Diese unbewiesene Behauptung haben letztlich alle hingenommen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Wohlstands.

„Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“, beruhigte die Kanzlerin.

Das Finanzministerium hat für 2018 „Flüchtlingskosten“ von 15,2 Milliarden Euro bereitgestellt. Das ist – hochgerechnet über Jahre – im Vergleich mit dem Rettungsschirm für Banken nur eine Rettungsmütze. Aber alle beschwören den Untergang der Sozialsysteme. Wo bleibt das Kanzlerinnen-Wort an die Sozialleistungsempfänger, dass ihre Ansprüche gesichert sind?

Wenn deutsche Rentner heute Flaschen sammeln, dann nicht wegen der Rettung von Geflüchteten, sondern wegen der Rettung von Banken.

Wer ist bei 440 000 fehlenden Arbeitskräften wirklich eine Last? Wenn sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, so wurde Ende Mai beiläufig gemeldet, werden schon fünf Jahre nach ihrer Ankunft die Hälfte der Asylbewerber in Lohn und Brot stehen und so der Gesellschaft mehrfach zurückgeben, was sie emp-fangen haben. Das überfällige Einwanderungsgesetz sollte solche Erfahrungen berücksichtigen. Würde all das transparenter vorgerechnet, könnten Verlustängste gemildert werden.

Viel schwerer ist die Bekämpfung von Fluchtursachen, denn die sind systemimmanent. Der diesjährige Haushalt weist 6,6 Milliarden Euro dafür aus. Hier sollte der mündige Bürger Rechenschaft verlangen, was da mit seinem Geld genau bekämpft wird.

Mehr als fünfmal so viel, nämlich 38,5 Milliarden Euro, sind im Haushalt für Rüstung vorgesehen. Da weiß man, wo der Schwerpunkt liegt. Die Nato versteht sich erklärtermaßen als Verteidigerin unserer Lebensweise. Das vorrangige Mandat ist nicht mehr Rettung aus Seenot, sondern Schutz, auch militanter, der europäischen Grenzen. Wie von Frontex praktiziert.

Wurde in Kauf genommen oder gar beabsichtigt, dass die wieder steigende Zahl von Ertrunkenen der kostengünstigste und wirksamste Schutzschild gegen Fluchtwillige ist?

Die Konsuminseln im Norden werden immer brutaler verteidigt. Wer das befürwortet, stärkt wohl kaum den Rechtsstaat, sondern wachsende, faschistoide Strukturen. Und beschädigt so Deutschland.

Hoppla, gab es da eben Tumulte? „Andersdenkende sind niemals die Feinde der Demokratie, sondern die zu verstehenden Symptomträger von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“, behauptet Maaz kühn. Niemals? Auch nicht, wenn sie Nazis sind?

Selbst wenn diese den durch Rosa Luxemburg geadelten Status der Andersdenkenden in Anspruch nehmen, bleiben sie Feinde der Demokratie. Die ihnen dennoch Freiheitsrechte zugesteht. Und wenn sie funktioniert, sucht sie auch politische Defizite hinter den rassistisch Verirrten. Aber diese als Symptomträger zu verharmlosen oder gar als gesellschaftliche Entwicklungshelfer zu verstehen – das empfiehlt sich nicht.

Wenn nicht eine grundstürzende Lasten-Umverteilung gelingt, dann wird das Konfliktpotential womöglich jeder Kontrolle entgleiten. Wenn die Flucht vor Steuern nur halb so entschlossen bekämpft würde wie die Flucht vor Elend, dann wäre schon viel gewonnen.

Die Opfer globaler Missstände sollten nicht auch noch deren Bekämpfung bezahlen müssen. Das wäre gefälligst Sache der Profiteure.

Im nationalen Maßstab hieße das, gesicherte Sozialleistungen, aber eine wohlbedachte Zwangsanleihe bei den 5,7 Billionen Euro deutschem Privatvermögen. Vergleichbar dem Lastenausgleich nach dem 2. Weltkrieg.

Wer das als Kampfansage an Unternehmer und Privateigentümer sieht, irrt. Es ist vielmehr Programm auch ihrer Rettung: Um die subversive Ungleichheit der Bewohner dieser Welt zu mildern, sollen sie einen Bruchteil des wie auch immer entstandenen Vermögens hergeben, und können so den Großteil bewahren. Vor Unruhen bis Rebellionen, vor Handelskrieg bis Krieg.

Ob der Widerspruch zwischen Nötigem und Machbarem demokratisch zu überwinden sein wird, ist existentiell.

Fremdenfeindlichkeit ist letztlich eine Folge der Kapitallogik. Die Migranten bringen uns die selbstgemachten Konflikte zurück.

Die unversöhnliche Ursache verleugnet ihre Wirkung. Kapitalismus mit menschlichem Antlitz first. Wer lacht sich da tot?

Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben. Damit die Mehrheit am liebsten zu Hause lebt, muss sich vieles, wenn nicht alles ändern. Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vo-rantreibt? Endlich eine Globalisierung von unten? Prekarier aller Länder vereinigt euch! Überlasst die internationale Solidarität nicht dem Kapital.

Hallo? Ist da noch jemand? Wer hat das Licht ausgemacht?


Redaktionelle Anmerkung: Eine kürzere Fassung dieses Essays erschien am 21. Juni 2018 im Freitag.