"Willkommen in der Untertanenfabrik!"
Die ökonomische und ideologische Indienstnahme von Bildung scheint kaum mehr aufhaltbar zu sein.
Rund eine halbe Million Schüler aus rund 70 Ländern nahmen 2015 am PISA-Test teil. Die gute Nachricht: Deutschland landete in der oberen Tabellenhälfte. PISA-Spitzenreiter ist Singapur. Gefolgt von Japan und Estland. Bevor man sich aber wahlweise der Erleichterung hingibt oder beim nächsten Test einen Platz an der Tabellenspitze einfordert, sollte man sich vor Augen führen, woher der PISA-Test stammt und was er eigentlich testet.
Die wirtschaftliche Vermessung der Schule
Bereits im Jahr 1995 forderte die Weltbank eine „Output-Orientierung“ der Schulen. Dies heißt, „dass die Prioritäten in der Erziehung durch ökonomische Kriterien festgelegt werden, durch festgesetzte Standards und die Messung, ob diese Standards erzielt wurden“. Was also im Klassenzimmer geschieht, soll der Wirtschaftswissenschaftler entscheiden, nicht der Pädagoge.
Tatsächlich steht hinter den PISA-Tests kein internationaler bildungspolitischer Verbund, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Getestet werden die sogenannten „Schlüsselkompetenzen“ 15-jähriger Schüler: Mathematik, Naturwissenschaften sowie Lesen und Textverständnis. Es kann daher gar nicht deutlich genug betont werden, dass PISA keine objektive Evaluierung des Schulniveaus trifft und auch nicht treffen kann.
Erstaunlich ehrlich zeigt sich die Selbsteinschätzung des Deutschen PISA-Konsortiums im Jahre 2000: „Man kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, dass PISA keineswegs beabsichtigt, den Horizont moderner Allgemeinbildung zu vermessen.“
Die OECD erklärt die Bedeutung der dort bewerteten „Schlüsselkompetenzen“ damit, dass sie dazu befähigen sollen, „sich an eine durch Wandel, Komplexität und wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen“ und fragt: „Welche anpassungsfähige Eigenschaften werden benötigt, um mit den technologischen Wandel Schritt zu halten?“
Der Kunstpädagoge Professor Jochen Krautz kommentiert in seinem Buch „Ware Bildung“:
„Bildung wird damit zur Anpassung. Anpassung an ökonomische Erfordernisse bzw. an das, was die OECD dafür hält. Kompetenzen zielen demnach gerade nicht auf selbständiges Denken, sondern fördern die Unterordnung unter die gegebenen Umstände und die Effektivitätskriterien der Wirtschaft, die daran verdient.“
Mit anderen Worten:
Es geht darum, eine möglichst zahlreiche Heranzüchtung beruflicher Allzweckwaffen zu erreichen, die in einer sich stetig verändernden Wirtschaft des 21. Jahrhunderts möglichst effizient eingesetzt werden sollen.
Schulische Schock-Strategie
Als im Jahr 2000 Deutschlands Schüler erstmals dem PISA-Test unterzogen wurden, landete das Land der Dichter und Denker im letzten Drittel des internationalen Rankings. Folge war der sogenannte PISA-Schock. Industrie und der Politik forderten sofortige Konsequenzen. Auch die Eltern forderten über die Jahre immer zahlreicher das Schulwesen umzugestalten. In einer TNS-Emnid-Umfrage von 2004 zeigten sich nur 31 Prozent mit dem deutschen Schulsystem zufrieden.
Die Umfrage dokumentierte einen Meinungswechsel der Eltern: hin zu mehr Leistung, strengerer Auswahl, höheren Anforderungen: 49 Prozent forderten Elite-Universitäten, 81 Prozent regelmäßige Tests für Lehrer. Sechs Jahre später verlangten bereits 60 Prozent der Eltern strengere Lehrer und mehr Disziplin und Leistung im Klassenzimmer. 2014 legten mehr als drei Viertel der Befragten Wert darauf, dass deutsche Schüler in internationalen Leistungsvergleichen wie PISA gut abschneiden.
Die Umfrage zeigte den Autoren zufolge, „dass den meisten Deutschen eine klare Leistungsorientierung in den Schulen wichtig ist“. Ganz in ihrem Sinne betonte Roland Wöller, Kultusminister in Sachsen, dem deutschen PISA-Spitzenreiter: „Ohne Leistungsorientierung und Druck geht es nicht.“
Lehrplan unter Druck
Zwar hatte die OECD ausdrücklich erklärt, dass der PISA-Test keinen Einfluss auf den nationalen Lehrplan nehmen wolle, aber genau das war die Folge. So zumindest die Kritik von Jochen Krautz:
„Während der Anschein erweckt und vor allem in der Öffentlichkeit herumposaunt wird, PISA habe nun mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden, mit objektiven Tests und Zahlen erwiesen, was Schüler alles nicht können, wird tatsächlich durch die Hintertür ein neuer Bildungsbegriff eingeführt.“
Und der Pädagoge Professor Volker Ladenthin gibt zu Bedenken:
„Inzwischen wird in den Schulen das unterrichtet, was PISA misst. Also werden die Messergebnisse besser, weil man nun misst, was auch gelehrt worden ist. Dass das, was jetzt gemessen wird, etwas mit Bildung zu tun hat, ist jedoch deutlich mehr Weltanschauung denn Wissenschaft.“
Auch der Bildungsforscher Heinz-Dieter Meyer sieht eine Gefahr in dem Einfluss der PISA-Tests auf den Lehrplan: „Lehrer sind dazu angehalten, ihren Unterricht stark darauf auszurichten, dass ihre Schüler gute Ergebnisse bei Vergleichstests erzielen. Deshalb verengen sie die Lehre zu sehr auf Inhalte, die für solche Tests relevant sind - und lassen dafür all das weg, was in die Kategorie "nicht messbares Wissen" fällt. Gerade dieses Wissen erfordert aber oft eigenständiges, kritisches Denken. (…) Ich finde das politisch extrem gefährlich, denn das bietet ein Einfallstor für eine Uniformität und Standardisierung des Denkens, Fühlens und Verhaltens. So etwas kennen wir aus Diktaturen, das kann niemand wollen.“
Ohne Fleiß kein Preis
PISA-Chef-Koordinator Andreas Schleicher lobt zwar die Entwicklung in Deutschland, sieht aber im Augenblick noch Spielraum nach oben: „Während deutsche Schüler mathematische Formeln und Gleichungen verlässlich wiedergeben und anwenden können, gelingt es den Asiaten besser, wie ein Mathematiker oder ein Naturwissenschaftler zu denken und ihr Wissen flexibler auf neue Problemstellungen zu übertragen.“
Von Singapur ist Deutschland noch ein gutes Stück entfernt. Nicht nur bei PISA glänzte das Land, Singapur kann laut der "Internationalen Organisation zur Evaluation von Bildung" (IEA) auf die weltbesten Zweit- und Viertklässler in Mathematik und Naturwissenschaften stolz sein. "Gut gemacht, weiter so!", gratulierte hier der Premierminister.
Aber der Erfolg hat offenbar einen Preis. Schon im Kindergarten ist in Singapur ein Zwölf-Stunden-Tag keine Seltenheit und 40 Prozent der Kinder im Vorschulalter besuchen bereits Hilfsschulen. In der Grundschule nehmen 80 Prozent Nachhilfeunterricht in Anspruch, in der Oberstufe noch 60 Prozent.
Es überrascht wenig, dass eine Studie von Wissenschaftler aus Singapur 2015 zu dem Schluss kam, dass in Singapur Schulstress die Hauptursache für psychische Probleme und Selbstmord von Kindern und Jugendlichen im Land sei. So wie ein 11-jähriger Schuljunge aus Singapur, der lieber aus dem 17ten Stock seines Hochhauses sprang, als seinen Eltern zu gestehen, dass er zum ersten Mal die Prüfungen nicht bestanden hat.
Vielleicht ist die Frage erlaubt, ob der PISA-Champion wirklich als Vorbild dienen sollte.
Aber tatsächlich ist Deutschland auf einem guten Weg dem Vorbild Singapurs zu folgen. Laut einer aktuellen forsa-Umfrage im Auftrag des Nachhilfeinstituts Studienkreis investieren ein knappes Viertel der Eltern, deren Kind im letzten Zeugnis überwiegend Einsen und Zweien hatte, in Nachhilfe.
In 41 Prozent der Familien sind die Schulnoten der Grund von Spannungen. Dabei finden sich sogar bei einem Drittel der Kinder, deren Schulnoten familiäre Probleme auslösen, überwiegend Einsen und Zweien auf dem Zeugnis. Gut ist offenbar nicht gut genug. Da überrascht es kaum, dass in Deutschland über 40 Prozent der Schüler Versagensangst haben. (International liegt der Durchschnitt sogar bei 55 Prozent.)
Früh übt sich
Auch in Deutschland hat die Forderung nach mehr Leistung die Kleinkinder erreicht. Neben Elite-Kindergärten gibt es daher ein reichhaltiges Angebot an Frühförderung. Deutschland ist im Bereich Frühpädagogik einer der am schnellsten wachsenden Markt weltweit. Jedes vierte Kind bis acht Jahre wird mittlerweile zur Fördertherapie geschickt.
Frei nach dem Motto, dass die Kinder gar nicht früh genug mit dem lebenslangen Lernen anfangen können, um auf den weltweiten Wettbewerb vorbereitet zu sein. Dass bislang nicht einmal wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse vorliegen, inwiefern beispielsweise das Erlernen einer Fremdsprache im Vorschulalter wirklich zu Vorteilen im Spracherwerb führt, ändert wenig an den vollen Terminkalendern der Kleinsten. Die Zürcher Lernforscherin Elsbeth Stern [bezeichnet]((http://www.zeit.de/2007/37/C-Fruehfoerderung) die Vorstellung vieler Eltern, sie müssten die Architekten der Kindergehirne sein, als "reinsten Wahnsinn".
Der Journalist Klaus Werle kommentiert:
„Aus Müttern und Vätern werden Familienmanager, der Nachwuchs ist ihr wichtigstes Investitionsobjekt: Wir geben dir größtmögliche Unterstützung, damit du durch deine Leistung zeigst, wie gut wir als Eltern sind. Der gesamte Komplex zwischen Geburt und Abitur ist zu einer Mischung aus Wettrüsten und Leistungsschau geworden. Das neue Leitbild ist der Mensch als Unternehmer seiner selbst, der unentwegt nach Möglichkeiten sucht, sein Potential noch besser auszuschöpfen.“
Der Soziologe Meinhard Miegel mahnt in seinem Buch „Exit“ zu Besonnenheit: „Vielleicht haben sie in einem frühkindlichen Förderkurs als Dreijährige eine erste und als Vierjährige eine zweite Fremdsprache nahegebracht bekommen. Aber miteinander spielen, lachen, Spaß haben oder traurig sein – das blieb ihnen nicht selten fremd.“ Die neuen Richtlinien der American Academy of Pediatrics geben ihm recht. Diese erklären, was das Beste für die kindliche Entwicklung ist: freies, scheinbar zielloses Spiel ohne Druck, das keinen erzieherischen Zwecke verfolgen muss.
Kritik ist angebracht
Ein Gutachten, das vom „Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens“ im Auftrag des zuständigen Bundesministeriums erstellt wurde, betont seine Zweifel am Sinn des PISA-Tests: „Uns sind aus den deutschsprachigen Schulsystemen keine empirischen Untersuchungen bekannt, die beanspruchen würden, fundierte Aussagen“ zu der Frage zu treffen, ob „Bildungsstandards und externe Leistungsüberprüfung“ zu „verbesserten Schülerkompetenzen und Chancengleichheit“ führen.
Externe Leistungsüberprüfung durch Vergleichstests sind in ihrer Wirkung „nicht durch empirische Untersuchungen belegt“ und müssten daher „gegenwärtig bezweifelt werden“. Stattdessen warnt der österreichische Bildungsbericht vor nicht beabsichtigten Effekten, die bereits in den USA zu beobachten sind: „der Konzentration auf testmethodische und -strategische Kompetenzen“, also dem Lernen für den Test.
In diesem Sinne erklärt auch David Richard Precht in „Anna, die Schule und der liebe Gott“: „Wer immerfort getestet wird, lernt ja nicht für sich, sondern im Hinblick auf die Tests (…) auf diese Weise werden unsere Kinder dazu trainiert, Kapitalisten ihrer selbst zu sein und Aufmerksamkeit nur auf das zu lenken, was sich auszahlt.“
Der Lehrer machts
Aber natürlich ist die Frage richtig und wichtig, wie Schule funktionieren kann und sollte. John Hattie, australischer Professor für Erziehungswissenschaften, ging in Jahre langer Arbeit der Frage nach, welche Faktoren das Lernen in der Schule positiv beeinflussen. Nach der Auswertung von mehr als 960 Metastudien mit 260 Millionen beteiligten Schülern kam er zu dem Schluss:
„Es kommt auf den guten Lehrer an. Er muss ein Klima schaffen, in dem sich Schüler trauen, Fehler zu machen. Die Rahmenbedingungen von Schule dagegen – die Schulstrukturen oder das investierte Geld – haben nur geringen Einfluss. Leider wird in der Bildungsdebatte genau umgekehrt diskutiert.“
Und nicht zuletzt: Vielleicht wäre das Geld, das die PISA-Test kosten, tatsächlich besser in die Ausbildung der Lehrer investiert.
Ein Stück Hoffnung
Aber es gibt auch positive Nachrichten. Erstmalig hat sich die PISA-Studie auch mit dem Wohlbefinden der Schüler beschäftigt.
Wichtige Faktoren für die Zufriedenheit der Schüler seien insbesondere: die Unterstützung durch die Lehrer, Zuwendung durch die Eltern, Aktivitäten mit Freunden sowie Sport und Bewegung. Alles Faktoren, die normalerweise überhaupt nicht auf der Wunschliste leistungsorientierten Unterrichts zu finden sind. Die Studie zeigt auch auf, dass Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Eltern sprechen, sind ihren Mitschülern über ein halbes Jahr im Lernstoff voraus sind.
Das Interesse der PISA-Studie an den Schülern und ihrem Befinden jenseits aller „Schlüsselkompetenzen“ ist sicherlich begrüßenswert. Es gibt noch andere Zeichen, dass das Leistungsdiktat an der Schule vielleicht nicht von Dauer ist. In Großbritannien wurde auf den zunehmenden Leistungsdruck und die Testmanie auf eine besondere Weise demonstriert. So riefen Eltern ihre Kinder auf, einen Tag lang die Schule zu Schwänzen.
Weiterlesen:
Jens Wernicke: "Offene und verdeckte Privatisierung im Bildungssystem"