Willkommen in Absurdistan
Der türkische „Anti-Terrorkrieg“, die Pseudokritik der Medien und die Erosion des Gewaltverbots.
Warum es nicht reicht, sich über deutsche Panzer im syrischen Afrin aufzuregen erklärt der Journalist und Medienkritiker David Goeßmann auf rubikon. Er seziert den türkischen "Anti-Terrorkrieg", die Pseudokritik der Medien und die Erosion des Gewaltverbots. Denn die ständige Verharmlosung von Aggressionskriegen, Völkerrechtsbruch und Gewaltwillkür sowie die Billigung von Straflosigkeit für Kriegsverbrecher, wenn es sich um NATO-Partner handelt, habe fatale Konsequenzen. Die politische Kritik sollte sich daher nicht auf Nebenschauplätze zurückdrängen lassen, sondern den eigentlichen Skandal klarer in den Fokus nehmen.
Die Vereinigten Staaten, die Europäer, die syrische Regierung und Russland wollen den IS bekämpfen. Die Kurden in der Region sind dabei der wichtigste Verbündete. Der Westen unterstützt die Kurden daher in ihrem Kampf. Der Nato-Partner Türkei bekämpft wiederum die Kurden, nun mit einer großangelegten Offensive in Syrien. Die USA, die Europäer oder die Russen klopfen Erdogan ein wenig auf die Finger, aber lassen ihn ansonsten gewähren, während sie die Kurden dem türkischen Militär überlassen. Willkommen im geopolitischen Absurdistan.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Kurden von den USA und Großmächten instrumentalisiert und dann ihren Peinigern überlassen werden. Nach dem Motto: „Der Kurde hat seine Schuldigkeit getan. Der Kurde kann jetzt gehen“. Diesmal ist es nicht der Irak oder der Iran, sondern die Türkei unter Erdogan. Der Regierung in Ankara wird erlaubt, die Kurden gewaltsam zu vertreiben. Die „internationale Gemeinschaft“ gibt grünes Licht für den Aggressionsakt, setzt sich auf die Tribüne und schaut dem Spektakel zu, um gleichzeitig beim türkischen Panzervorrücken „Selbstverteidigung“ zu rufen.
Der Zynismus ist derart offensichtlich, dass in der veröffentlichten Debatte und den Medien deutlicher als sonst üblich Kritik geübt werden darf an den „warmen Worten“ des deutschen Außenministers, den Waffenlieferungen Deutschlands, sogar vereinzelt an dem „Verrat des Westens“ an den Kurden und der „Bankrotterklärung westlicher Außenpolitik“.
Aber es sind hohle Phrasen, aus denen nichts folgt. Die öffentliche Erregung über das Vorgehen der Türkei bleibt auf strategische Aspekte und Nebenschauplätze begrenzt. Es wird betont, dass es nicht klug sei, die kurdischen Verbündeten im Kampf gegen den IS zu schwächen. Die „Modernisierung“ der deutschen Panzer müsse sich Erdogan „abschminken“, solange die Türkei in Syrien „zusätzlich Öl ins Feuer gieße“. Selbst dort, wo in seltenen Fällen von türkischer Aggression und einem Angriffskrieg gesprochen wird, schwenkt der Blick schnell wieder zum „Terrorismus“ der YPG (Miliz der kurdischen Democratic Union Party in Syrien), zur „komplexen Gemengelage“ in Syrien, wo „Gut und Böse“ schwer auseinander zu halten sind.
Aber es geht bei dem türkischen Einmarsch nicht um „Gut und Böse“, eine „komplexe Gemengelage“, „zusätzliches Öl ins Feuer“, modernisierte Panzer oder um Bankrotterklärung und Verrat. Die Invasion ist zuerst einmal ein Aggressionsakt gegen eine Region und die dortige Bevölkerung, den die Türkei nicht gegen den Willen der „internationale Gemeinschaft“ ausführen könnte. Eine Petition von Wissenschaftlern und Menschenrechtsaktivisten bringt diesen Sachverhalt klar auf den Punkt:
„An attack of this kind against the peaceful citizens of Afrin is a blatant act of aggression against a peaceful and democratically-governed region and population. Turkey cannot carry out such an attack without the approval of Russia, Iran and Syria – and inaction by the U.S. to stop it. The Kurdish people have endured the loss of thousands of young men and women who joined the YPG, and YPJ women’s force, to rid the world of ISIS. The U.S and the international community have a moral obligation to stand behind the Kurdish people now. We call on U.S. officials and the international community to guarantee Afrin’s stability and security and prevent further Turkish aggression from within Syria and across the Syrian border.”
Die Medien sind beim Panzervorrücken und Bombardieren des türkischen Militärs jedoch um Balance bemüht. Holen wir den Rechenschieber raus. 1280 Mal wurde in der deutschen Presse von einer „Offensive“ ( als Platzhalter für z.B. „Militäroffensive“) in Hinsicht auf die türkische Invasion gesprochen, 121 Mal von „Selbstverteidigung“. 86 Mal tauchte der Hinweis auf „Aggression“ auf, vor allem in Bezug auf die Sichtweise der Kurden und der syrischen Regierung. 61 Mal zitierte die Presse die Sichtweise der Linkspartei, die die Offensive als „Angriffskrieg“ bezeichnet.
Die Medien präsentieren die Invasion also als Offensive, die von der türkischen Seite, den USA und Nato-Partnern als „Selbstverteidigung“, den Kurden und der syrischen Regierung als „Aggression“ und der Linkspartei als „Angriffskrieg“ betrachtet wird. Gleichzeitig wird das „Kurdenproblem“ in Syrien stark auf das Thema Terrorismus verengt und die Offensive als Anti-Terror-Kampf gerahmt. Die Wortkombination „Kurden“/“Terror“ liefert insgesamt 871 Treffer, die von „Türkei“/“Anti-Terror“ 52.
Von einem „Aufschrei“ in den Medien gegen den türkischen Einmarsch, von dem selbst die Informationsstelle Militarisierung spricht, kann nicht die Rede sein. Als die türkischen Panzer in die Region vorrückten, reichte der Nachrichtenbetrieb die Statements aus Anakara, Washington D.C., aber auch aus anderen Hauptstädten kommentarlos weiter, dass die Türkei das Recht habe, sich gegen Terrorattacken selbst zu verteidigen. Die Bundesregierung spricht von „legitimen Sicherheitsinteressen“.
Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um Apologie und Propaganda handelt. Die Türkei hat sich nicht einmal bemüht, eine „smoking gun“ für irgendetwas hervorzuzaubern. Doch die Journalisten widersprachen den PR-Formeln nicht, schwiegen, mit wenigen Ausnahmen. In der Berliner Zeitung heißt es in einem Leitartikel: „Juristisch betrachtet, handelt es sich bei der zynisch ‚Operation Olivenzweig‘ benannten Offensive um einen Bruch des Völkerrecht, denn von Afrin ist nie eine echte Aggression gegen die Türkei ausgegangen. Aber das Völkerrecht spielt im Syrien-Konflikt schon lange keine Rolle mehr.“
So sieht die radikalste Kritik an dem türkischen Aggressionsakt gegen die Kurden in Deutschland aus: Der Völkerrechtsbruch ist unschön; aber letztlich ist es eine juristische Formalie, denn das Völkerrecht spiele in Syrien „lange keine Rolle mehr“. Zudem würde „jede türkische Regierung den Aufbau eines kurdischen Quasi-Staats und einer starken, mit der PKK verbundenen Kurdenarmee in Syrien als Bedrohung ansehen“. Auch die USA tragen Verantwortung für die „besondere Tragik dieser Invasion“, so die Berliner Zeitung weiter. Sie hätten die Kurden in Syrien bewaffnet, aber ihnen „praktisch keine Grenzen“ gesetzt und “ihre mindestens logistische Unterstützung für die PKK toleriert“.
Selbst dort also, wo das Tabuwort „Völkerrechtsbruch“ am äußeren Ende des Meinungsspektrum aufscheinen darf, werden sogleich jede Menge intellektuelle Beruhigungspillen verabreicht und an die „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei erinnert.
Während sich die Medien auf Nebenschauplätzen ereifern und entrüsten, ignorieren sie den Skandal des Angriffskriegs. So kommentiert Christiane Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung, dass die „Militäraktion“ nicht nur „brandgefährlich“ sei, „weil sie zu neuen Vertreibungen und Toten in Syrien führen wird“, sondern auch eine „Gefahr für die Türkei selbst“ darstelle, „weil sie den alten Konflikt mit den Kurden am Leben halten wird“. Damit sei „niemandem gedient. Das müssen die Verbündeten der Türkei sagen, immer wieder“. Als ob die Türkei das nicht selber wüsste. Als ob es um eine Militäraktion in einem alten Konflikt ginge. Als ob sich irgendjemand im Westen jemals um die Kurden gekümmert hätte.
Wie wäre es mit der ehrlichen Bestandaufnahme von Fakten. Es ist ein Angriffskrieg. Er muss sofort gestoppt werden. Die Ampel muss von den Großmächten umgehend von Grün auf Rot gestellt werden. Oder wie wäre es, die Verantwortlichen für das Leid und den Tod von Unschuldigen zur Rechenschaft zu ziehen – unabhängig davon, ob die „Militäraktion“ strategisch gesehen „dienlich“ ist oder nicht? Solche Erwägungen liegen aber jenseits des Meinungsspektrums. Daher ist es für SZ zwar „schwer erträglich“, dass deutsche Panzer in dem Gebiet herumfahren, aber nicht, dass ein Angriffskrieg gegen eine Bevölkerung stattfindet, mit freundlicher Unterstützung der „internationalen Gemeinschaft“.
Solche verdeckten Apologien sind der Sound, mit dem die Medien der Türkei auf die Finger klopfen, aber sie ansonsten, dem politischen Kurs der Großmächte folgend, gewähren lassen. „Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nun den Kurdenkanton Afrîn angreifen lässt, tut er das weniger, weil ihn der Flecken militärisch bedroht“, so die SZ an anderer Stelle. „Die Selbstverwaltung der Kurden dort stört ihn eher aus politisch-symbolischen Gründen (…)“. Der richtigen Einsicht, dass das türkische Militär Menschen in einem Kriegsgebiet aus „politisch-symbolischen Gründen“, also Machtwillkür, mit Soldaten, Panzern und Kampfjets angreife, folgen aber nur strategische Bedenken.
So ist die links-liberale Qualitätszeitung vor allem bemüht, die Zuschauertribüne aus der Schusslinie zu bringen. Denn dass die USA und Russland „höchstens pflichtschuldig maulen“, Erdogan aber nicht „in den Arm fallen werden“, wisse der türkische Präsident. Denn beide Großmächte bräuchten ihn, „die eine als Nato-Partner, die andere, um das syrische Chaos vielleicht irgendwann ordnen zu können“.
Die Mär vom türkischen Sultan, der Russland und die USA durch die geopolitische Manege führt, samt der „internationalen Gemeinschaft“, mag die Leser in den Schlummermodus versetzen. Sie hat aber nichts mit der Realität und den Machtverhältnissen zu tun. Statt den Angriffskrieg, die Verbrechen und das Leid der Kurden in den Fokus zu nehmen, wäscht die SZ einen Angriffskrieg weiß, bei dem klar ist, dass die Türkei ihn sich „abschminken“ müsste, wenn die USA, Russland oder die Europäer „No“, „Njet“ oder „Nein“ sagen würden. Dafür bräuchte es nicht einmal Soldaten, die der Türkei „in den Arm fallen“. „Liebesentzugs“ würde reichen.
Aber die mediale Gleichgültigkeit gegenüber Recht und Gesetz sowie das Weichspülen des türkischen Kriegsverbrechens sind nur fair. Es wäre eine Heuchelei, wenn die Medien Ankaras Völkerrechtsbruch an die große Glocke hängen würden und den Aggressionsakt zu mehr machen würden als einem „gefährlichen Spiel“ Erdogans, einem moralischen Abenteuer, übertriebenem „Antiterrorkampf“ oder einer neuen Episode im türkisch-kurdischen Konflikt. Warum sollten SZ, Spiegel und Co. dem Nato-Staat Türkei nicht das zugestehen, was den USA, Frankreich und Großbritannien, unterstützt von der deutschen Regierung, eingeräumt wird: Das Gewaltverbot in internationalen Beziehungen mit Füßen zu treten, wie es ihnen beliebt; andere Länder zu überfallen und zu attackieren, wenn es geopolitisch opportun ist.
Das Völkerrecht lässt sich spätestens seit den endlosen Kriegen der USA nach 9/11 vor jeden geopolitischen Wagen spannen. Darum ist es wichtig daran zu erinnern, um was es beim Gewaltverbot in internationalen Beziehungen und dem Recht auf Selbstverteidigung genau geht. Die Medien überspringen diesen Teil fast immer oder deformieren das Recht bis zur Unkenntlichkeit, um nicht in Teufels Küche zu kommen.
Wobei die Reaktion auf den Türkei-Einmarsch etwas anders ausfällt als die auf die „humanitären Interventionen“ des Westens sonst. Denn nicht jeder ist froh darüber, was die Türkei gerade in Syrien anstellt. Die rhetorische Solidarisierung mit dem Autokraten Erdogan und seiner Politik tendiert Richtung null. Daher sind diesmal sogar, wenn auch in stark dosierter und begrenzter Form, „Extremansichten“ erlaubt. So darf die Völkerrechtlerin Anne Peters auf FAZ-NET klarmachen, dass die türkische Invasion sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann. Ein Erkenntnispfund, mit dem man wuchern könnte.
Doch das Pfund wird schnell wieder in den Meinungstresor geschlossen. Keine Neurahmung der Berichterstattung in Hinsicht auf „Angriffskrieg“ bzw. Kriegsverbrechen und dem, was aus Angriffskriegen folgen sollte. Das Verdikt der Völkerrechtlerin verschwindet ohne jedes Echo in der Nachrichtenflut. Denn eine Debatte über Völkerrechtsbruch, das Gewaltverbot und den Umgang mit Angriffskriegen könnte sich über den Türkei-Fall hinaus wie ein Virus auf andere Antiterrorkämpfe, „Militäroffensiven“ und Komplizenschaften mit Kriegsverbrechern ausweiten.
Und diese Büchse der Pandora will niemand öffnen. Daher wird beim türkischen Aggressionsakt die völkerrechtliche Diskussion ignoriert, wie üblich, nicht allein, um das Gewähren-lassen der Großmächte vor "Fundamentalkritik" zu schützen, sondern auch, um die von einer Diskussion ausgehende Ansteckungsgefahr zu bannen. Kein einziges Mal wird in der deutschen Presse von „Völkerrechtsbruch“ gesprochen. Lediglich bei den deutschen Panzerlieferungen wird vereinzelt vom „völkerrechtswidrigen“ Vorgehen der Türkei gesprochen, um die Militärexporte als rechtliches Problem für Deutschland in den Blick zu nehmen.
Öffnet man beim Türkei-Einmarsch die Büchse der Pandora, erkennt man schnell, wo die Gefahren, die vom Völkerrecht ausgehen können, liegen. Es müssen nämlich eine Reihe von äußerst strengen Kriterien erfüllt sein, um Gewaltanwendungen in internationalen Beziehungen als legal einstufen zu können. Eine kleine, bei weitem nicht vollständige Auflistung einiger Prinzipien (1):
- Es muss sich um einen imminenten bzw. stattfindenden Angriff von außerhalb handeln, der nur noch mit militärischen Mitteln abgewehrt werden kann. Es muss sich zudem um mehr als reine Grenzvorkommnisse handeln („large scale“).
- Ausschließlich die Abwehr von evidenten (“crystallized”) Angriffen ist rechtmäßig. Präventive (“pre-emptive”) Gewalt bzw. Gewalt gegen eine “wachsende Bedrohung” fallen nicht unter das Recht gewaltsamer Selbstverteidigung.
- Alle friedlichen Lösungen müssen ausgeschöpft worden sein. Die daraus resultierende Notwendigkeit muss belegt und bewiesen werden.
- Die Selbstverteidigung ist begrenzt auf proportionale Mittelanwendung im Verhältnis zur Abwehr konkreter Angriffe. Zugleich muss der UN-Sicherheitsrat informiert werden. Nach der Abwehr des Angriffs geht die Verantwortung an die UN („kollektive Selbstverteidigung“).
- Von rechtmäßiger Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung kann nur dann gesprochen werden, wenn belastbare Evidenz vorliegt. Die Hürden dafür sind hoch (steigend mit der Ausweitung der Gewaltanwendung). Die Belege müssen zudem öffentlich präsentiert werden können.
Nimmt die Türkei gemäß dieser Kriterien ihr Recht auf Selbstverteidigung wahr, wenn es in Syrien einmarschiert und die Afrin-Region bombardiert? Die Türkei müsste auf eine Reihe von Fragen eine Antwort geben:
- Welche großdimensionierten, imminenten/stattfindenden Angriffe gegen die Türkei sind mit dem türkischen Einmarsch und den Kämpfen mit den kurdischen Milizen in Nord-Syrien tatsächlich gestoppt worden?
- Welche Evidenz liegt dafür vor, dass es um mehr ging als „Vorbeugung“ gegen eine „wachsende Gefahr“?
- Sind alle möglichen friedlichen Wege für den Stopp des imminenten/stattfindenden Angriffs von der Türkei ausgeschöpft worden?
- Sind die Mittel des türkischen Militärs proportional gemessen an der Dimension der Bedrohung?
Das erstaunliche ist, dass sich die Türkei und die türkische Öffentlichkeit nicht einmal bemühen, irgendetwas zu konstruieren und den internationalen Medien Rechtfertigungsfutter für den Angriff zu bieten. Es sind lediglich Phrasen, die ständig wiederholt werden, die aber für sich genommen Nichts rechtfertigen und belegen können, wie:
- „tägliche Angriffe von Afrin ausgehend“;
- Afrin als „safe haven“ für Terroristen;
- „terroristische Bedrohung“;
- „notwendige Maßnahmen gegen eine Terrorgruppe, die uns von drei Seiten umzingelt und unsere Rechte verletzt“;
- „Angriffe auf YPG“ („People's Protection Units“, militärischer Arm der kurdischen „Democratic Union Party“, PYD, in Syrien);
- „Säubern der Grenze von YPG und PYD, um sie von dem Aufbau einer autonomen Region abzuhalten“;
- „Kampf gegen die Entstehung eines Terror-Korridor, der den nordwestlichen Afrin-Kanton mit dem von Kobani und Jazeera im Osten verbindet“;
- „das nächste Ziel ist Manbij, wenn YPG Elemente sich in den nächsten Monaten nicht aus dem Gebiet zurückziehen“ (2).
Nichts von dem kann auch nur annähernd eine gewaltsame Selbstverteidigung begründen und das Gewaltverbot aushebeln. Denn:
- Es geht beim Türkei-Einmarsch nicht um das Stoppen von imminenten/stattfindenden Angriffen, sondern wenn überhaupt um pre-emptive Gewaltanwendung gegen „Terroristen“, einen unspezifischen „war on terror“. Wenn es tatsächlich um imminente Angriffe geht: Wo ist die Evidenz dafür?
- Friedliche Lösungen wurden von der Türkei nicht nur nicht ergriffen sondern blockiert. Angesichts des Bruchs des Waffenstillstands mit der kurdischen Seite, der Eskalation der Gewalt der türkischen Regierung gegen die Kurden sowie der Indizien, dass die Türkei die ISIS unterstützt habe im Kampf gegen die Kurden in Syrien, kann nur schwer von einer Ausschöpfung aller friedlichen Mittel geredet werden.
- Es wird auch sonst keinerlei Evidenz vorgelegt für die Behauptung, dass es sich um „Selbstverteidigung“ im Sinne des internationalen Rechts handelt.
- Die offiziell verkündeten Ziele der Türkei beim Einmarsch sowie die militärischen Operationen und Strategien des Militärs widersprechen den Prinzipien der Selbstverteidigung. Es geht der türkischen Regierung augenscheinlich darum, eine autonome kurdische Region im Norden Syriens zu verhindern (deklariert als „safe haven“ oder „terror corridor“), wobei der Konflikt eskaliert und regional ausgeweitet wird.
Da keine Resolution des Sicherheitsrats oder eine „Einladung“ der syrischen Regierung vorliegt, ist die Invasion schlicht und ergreifend ein Völkerrechtsbruch, ein illegaler und illegitimer Aggressionsakt, ein Kriegsverbrechen und zugleich eines, das von der „internationalen Gemeinschaft“ gestoppt werden kann und muss. Zudem sollten die Verantwortlichen und Komplizen des Angriffskriegs vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.
Dass die USA und Europa die Türkei gewähren lassen und die veröffentlichte Meinung hierzulande die Tatsache eines Angriffskriegs entweder ignoriert beziehungsweise wie einen Formfehler für irrelevant erklärt, während die Kritik auf strategische Fragen konzentriert wird, ist ein weiterer Beleg dafür, dass aggressive Geopolitik und ihre Folgen von den Medien geduldet werden, solange sie nicht Kerninteressen der „internationalen Gemeinschaft“ (sprich: der westlichen Großmächte) betreffen. Zu den Kerninteressen im Türkeifall zählen offensichtlich nicht das Schicksal der Kurden, das Zurückdrängen von ISIS und die Stabilisierung Syriens und der Region.
Die Kurden müssen für diese mediale Ignoranz und moralische Lethargie blutig bezahlen, wie viele andere Völker, auf die der militärische Vorschlaghammer niederrauschen darf. Gleichzeitig erodiert das Gewaltverbot in internationalen Beziehungen weiter. Im Zuge der US-Antiterrorkriege mit Unterstützung der Nato-Partner ist die Missachtung des Völkerrechts quasi zum Gewohnheitsrecht mutiert. Stillschweigend haben viele Staaten akzeptiert, dass präventive Militäraktionen gegen „Terrorgruppen“ eine legitime Form der Selbstverteidigung darstellen. Die Gründe dafür sind offensichtlich.
Viele Regierungen der Welt, vor allem die der Großmächte wie China, Russland oder der Iran, ganz zu schweigen von den Nato-Staaten, wollen ihre „Antiterrorkämpfe“ ungestört führen. Die Konsequenzen der öffentlichen Ignoranz und des medialen Schweigens sind fatal. Ganze Regionen werden verwüstet, ohne dass irgendjemand dafür zur Verantwortung gezogen wird. Die Kriterien der UN-Charta, die Gewalt zwischen Staaten einschränken sollen, werden aber nicht nur in der politischen Praxis oder im UN-Prozess, sondern auch in der völkerrechtlichen Fachdebatte zunehmend aufgeweicht. Einige Schwenks sind bereits vollzogen worden.
Der Feldzug der Türkei gegen das kurdische Volk in Syrien ist eine verpasste Chance in einer langen Kette von verpassten Chancen, dem rechtlosen, inhumanen und den Weltfrieden bedrohenden Treiben Einhalt zu gebieten. Manche mögen den Glauben an das Völkerrecht verloren haben. Aber so schnell sollte man die erkämpften Rechte nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen.
Das Gewaltverbot und die strikten Regeln für militärische Selbstverteidigung können eine Waffe gegen Willkür mächtiger Staaten sein. Daher wird das Völkerrecht auch möglichst aus der öffentlichen Debatte ferngehalten. Wenn die Medien in den USA, in Europa und in Russland Angriffskriege als Angriffskriege in den Berichterstattungsfokus nehmen müssten, egal von wem sie begangen werden, wäre es für die Aggressoren sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich, sie durchzuführen, jedenfalls nicht in der Weise, wie sie es wollen und immer wieder tun.
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Anmerkungen:
1.)
Hier sind einige Ausführungen der Völkerrechtler zu drei zentralen Prinzipien. Die angefügten Zitate sind der gemeinsamen Prinzipienerklärung von Völkerrechtsexperten zum Selbstverteidigungsrecht (International Law Programme at Chatham House, UK, 2005) entnommen.
- Es muss ein imminenter Angriff vorliegen, gegen den die Abwehrmaßnahmen gerichtet sind. Präventive Verteidigungsschläge werden nicht gestützt vom internationalen Recht.
“To the extent that a doctrine of ‘pre-emption’ encompasses a right to respond to threats which have not yet crystallized but which might materialise at some time in the future, such a doctrine (sometimes called ‘preventive defence’) has no basis in international law. A fatal flaw in the so-called doctrine of prevention is that it excludes by definition any possibility of an ex post facto judgment of lawfulness by the very fact that it aims to deal in advance with threats that have not yet materialised.”
“The fatal flaw in the new-minted doctrine of ‘pre-emption’ is that it excludes by definition any possibility of an ex post facto judgement of lawfulness by the very fact that it aims to deal in advance with threats that have not yet come into existence; it is thus inherently self-justifying and can have no place in an ordered system of law. To make the general rule of self-defence into one that was in the last analysis self-judging would expose it to the same fundamental objection. How would such a rule protect the interests of a generally peaceable and law-abiding state against a hostile, lawless neighbour?”
“In particular, in so far as a right of pre-emptive (or preventive) self-defence implies a departure from the requirement of imminence it has no basis in the law. Put another way, as Hans Blix did in his third Hersch Lauterpacht Memorial Lecture on 24 November 2004: ‘Although ‘imminence’ may be a severe time requirement, ‘a growing threat’ would be an unacceptably lax criterion and would not tally with the generally accepted position that force should be used only as a last resort.’”
- Evidenz ist unabdingbar für die Legalität gewaltsamer Selbstverteidigung.
“The self-defence rule cannot possibly mean that force is lawful whenever the state thinks that a particular application of force is necessary to deal proportionately with what it conceives to be a particular threat against it (immaterial whether the threat derives from an actual use of force or an imminent one) – even if ‘thinks’ is glossed to be ‘sincerely believes’ or even ‘very sincerely believes’; that would destroy its value and standing as a legal rule designed to balance the rights of both sides in a quarrel.”
“The determination of ‘imminence’ is in the first place for the relevant state to make, but it must be made in good faith and on grounds which are capable of objective assessment. Insofar as this can reasonably be achieved, the evidence should be publicly demonstrable. Some kinds of evidence cannot be reasonably produced, whether because of the nature or source, or because it is the product of interpretation of many small pieces of information. But evidence is fundamental to accountability, and accountability to the rule of law. The more far-reaching, and the more irreversible its external actions, the more a state should accept (internally as well as externally) the burden of showing that its actions were justifiable on the facts. And there should be proper internal procedures for the assessment of intelligence and appropriate procedural safeguards.”
“On the question of the evidence necessary before a State can act by way of anticipatory self-defence, the threshold should be both high and, insofar as this can reasonably be achieved, the evidence should be publicly demonstrable.”
Notwendig sei “… real evidence that an attack is imminent sufficient to convince a detached bystander and not just someone who wants to be convinced.”
“The existence of a campaign or the presence of an attack as understood above from non-state groups requires demonstration, to give rise to a right of self-defence at all. There was evidence of complicity of the Ugandan authorities with the hijackers in the Entebbe incident. To demonstrate the necessity of action against the territory of another state not directly responsible for the acts of the non-state group requires, inter alia, the demonstration that there is no other means of meeting the attack (and that this way will do so). The state potentially under threat might be persuaded to co-operate in the face of a legitimate threat to its territory but, save for the most compelling emergency, the territorial state is surely entitled to proceed first in its own way against an identified group on its territory. The Security Council might authorise action. It seems to me likely that satisfying the necessity test will be rare.”
- Es hat zwar eine stillschweigende Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts auch gegen nicht-staatliche Gruppen insbesondere nach 9/11 gegeben. Aber weiter gilt: Nur großdimensionierte Angriffe auf eigenes Territorium können sich auf das Recht auf Selbstverteidigung stützen.
“It is in this context (rather than that of an attack by a state itself) that it is relevant to consider the ICJ’s (Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag, David) remarks in the Nicaragua judgment (supra note 2). At para. 195 the Court stated that: ‘… it may be considered to be agreed that an armed attack must be understood as including not merely action by regular armed forces across an international border, but also “the sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to (inter alia) an actual armed attack conducted by regular forces, “or its substantial involvement therein. ‘ … The Court sees no reason to deny that, in customary law, the prohibition of armed attacks may apply to the sending by a State of armed bands to the territory of another State, if such an operation, because of its scale and effects, would have been classified as an armed attack rather than as a mere frontier incident had it been carried out by regular armed forces.”
2.)
Angefügt sind einige offizielle Begründungen für den türkischen Einmarsch in den Norden Syriens
“Turkey’s foreign minister on Thursday slammed the presence of the YPG/PKK in northern Syria, saying that Turkey’s possible Afrin operation came in response to the group’s terrorist threat. ‘Turkey is subject to attacks every day from Afrin. It is our right to self-defense in line with international law to take measure against a terror group surrounding us on three sides, violating our rights, and we should intercede,’ Mevlut Cavusoglu told news channel CNN Turk.” (AA News, http://aa.com.tr/en/politics/ankara-exercising-its-right-to-self-defense...)
“Using northern Iraq as a safe haven, the PKK, however, has become one of the bloodiest terror organizations in the last three decades, claiming the lives of tens of thousands of Turkish citizens. This is the historical perspective that has pushed Turkey to attack the YPG.” “The next stages of the anti-YPG fight will enter the pipeline only after Afrin is fully cleared. It is believed that the Afrin operation could take around five or six months. The next target is Manbij, in the western part of Euphrates, if the YPG elements are not withdrawn from the area in the following months. The U.S. had promised that the YPG would be pushed back to the eastern Euphrates after the city was captured from the ISIL but this never happened. However, it is beyond doubt that Turkey should focus on the eastern Euphrates part of Syria if it really wants to deal with the YPG problem. The YPG controls around 600 kilometers of the Turkish-Syrian border as well as a number of border gates between the two countries. Although it is too early to talk about these hypothetical aspects of the military operations, one assumes this massive campaign against terror will last much longer than one can forecast.” (Kommentar of Hurrieyet Daily News, http://www.hurriyetdailynews.com/opinion/serkan-demirtas/afrin-operation...)
“The Netherlands said Tuesday that there have been enough signs for Turkey to exercise self-defense and launch the Operation Olive Branch in Syria's Afrin to protect its borders. (…) On Saturday, the Turkish military launched an operation on Afrin to clear its border of the PKK's Syrian affiliate Democratic Union Party (PYD) and its People's Protection Units (YPG) militia to prevent them from establishing an autonomous region, which Turkish officials call a "terror corridor," by connecting the northwestern Afrin canton to the Kobani and Jazeera cantons to the east. (Daily Sabah Diplomacy, https://www.dailysabah.com/diplomacy/2018/01/23/there-are-enough-signs-f...)
Ähnliche Begründungen gab es schon vor gut einem Jahr von Seiten der Türkei:
„Similarly, in an op-ed for the Turkish newspaper The Daily Sabah, Mehmet Celik argues that the ambivalence of the West — in particular the United States — over Kurdish separatism has emboldened terrorists and made Turkey’s task more difficult: Due to organic organizational links between the PKK and the PYD, Turkey also sees the PYD as a terrorist establishment in its borders, which Ankara has said numerous times it will not allow....Meanwhile, Yeni Birlik newspaper columnist Avni Özgürel said that many of Turkey's internal problems also have international dimensions…adding that the U.S.'s partnership, military and logistical support with the PYD in Syria, despite Turkey's concerns, has encouraged the PKK terror group to carry out attacks against Turkey, the U.S.'s historic NATO ally.”
“The terror wave Turkey faces today is not coordinated from within, but from an area in Syria which is under U.S. control. And if we rewind and go back to July 15, if things had gone as they had planned that night, all the plans they had foreseen for that region of Syria would have been actualized and thus a PYD terror corridor would have been established all the way to the Mediterranean.” (http://www.mepc.org/commentary/terror-attacks-and-assassination-turkey)