Willkommen im Anthropozän!
In einer Zeit, in der Klima- und Coronakrise die Menschheit gleichzeitig heimsuchen, braucht es ein neues Manifest.
Vor hundert Jahren war dergleichen auf der Tagesordnung; heute begegnet uns das Phänomen in der Diskussion um Kultur und Zeitgeist kaum noch. Jede neue Kunstströmung formulierte früher ihr eigenes Manifest. Das aus Sicht des Autors interessanteste erschien nach der Katastrophe des großen Krieges und — in dessen Gefolge — der Pandemie der Spanischen Grippe. Beides waren Schocks für die Herrenmenschenmentalität, die in den fortschrittsgläubigen Ländern Europas schon damals verbreitet war. Schließlich hatte man dank der technischen Errungenschaften zuvor die gesamte Welt erobert und die Natur lag dem Menschen zu Füßen. Heute, wieder unter dem Einfluss einer Pandemie mit einem Stillstandschock, ist die Zeit für ein neues Manifest gekommen: das des Anthropozän.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends erschien der von Geowissenschaftlern eingeführte Begriff des Anthropozän. Was er ausdrückt, war auch den Menschen früherer Jahrhunderte nicht unbekannt. Noch nie jedoch zeigte sich das menschliche Wirken in der Allmacht, wie wir sie heute überall wahrnehmen können.
Der Mensch ist am Ziel seines uralten Traumes. Endlich erfüllt er den Auftrag des allmächtigen Gottes, sich die Erde untertan zu machen. Auch wenn dieser Allmächtige längst abgeschafft wurde — nicht so im Zentrum des Kapitalismus, den USA —, die Erzählung wirkt ungebremst fort im Zeitalter der Aufklärung, die die menschliche Vernunft an seine Stelle setzte. Die Sonderstellung des Menschen war nun nicht mehr dem göttlichen Auserwähltsein geschuldet, sondern allein aus dem Wesenskern des Menschen, der Vernunft, abgeleitet.
Der damit verbundene Raub von Geist und Seele an allen anderen Mitgeschöpfen sowie der Natur als Ganzes leitet in diesem Selbstverständnis unser Denken und Handeln. Und allein dieser räuberische Gewaltakt öffnet die Türen für eine nicht endende Kette von weiteren Raubzügen der Ausbeutung von Menschen, Tieren, Pflanzen und vielen anderen natürlichen Ressourcen. Allmacht kennt keine Grenzen, an denen sie innehält. Gleiches gilt für die dazu benötigte, nirgendwo endende Kontrolle über das zu Beherrschende.
Die Wissenschaft ist nicht allein der Wahrheit verpflichtet, sondern in gleichem Maße diesem Menschheitstraum: der Allmacht über die Natur.
Die Erkenntnis wird Mittel zum Zweck, vereint mit den Kräften der Wirtschaft, Politik und Rechtsprechung. Macht ist Verfügungsgewalt, diese findet ihren Gipfelpunkt immer in der Zerstörung des Beherrschten. Deshalb ist die Zerstörung der Natur der größtmögliche Triumph des Vernunftwesens Mensch.
Auch nach zwei Jahrzehnten der Diskussion sind sich die Geologen noch nicht einig. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem neuen geologischen Erdzeitalter zu sprechen. Ausgerechnet jetzt, im Zeichen der Coronakrise, werden wir geradezu gezwungen, das Anthropozän auszurufen. Nur gänzlich anders als es sich die siegreiche Wissenschaft anfangs dachte.
Natürlich war der ursprüngliche Anlass seiner Verkündigung die Summe der Veränderungen, die wir unter dem Begriff der Klimakrise zusammenfassen. Es war klar, dass wir ohne einschneidende Maßnahmen einer Klimakatastrophe entgegengehen. Doch konnte sich das bisherige Menschenbild der Vernunft hinsichtlich der Bedrohung durch die Veränderungen des Klimas noch hinüberretten in das neue Zeitalter. Mit dem vollmundigen Anspruch, das besagte Bedrohungsszenario mit technischen Lösungen stoppen zu können, ohne auch nur einen Hauch an der Logik des kapitalistischen Marktes mit der Ausbeutung von Natur und Arbeit verändern oder gar aufgeben zu müssen. Vor allem ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen! Die Ausrufung des Anthropozän sollte die Weltpolitik wachrütteln, endlich gemeinsam — die Wissenschaft allen voran — in einem Weltklimaprogramm die Weichen zu stellen für den Kampf gegen die bedrohlichen Anzeichen des Klimawandels.
Nun stecken wir mitten in der Coronakrise und mit ihr im Schlepptau in einer Pandemie der Depression und der Zwangsstörung. Ausgelöst wurde dies alles durch das Wirken des Virus und die weltweit politisch verordnete soziale Distanz durch Quarantäne, Ausgangsbeschränkungen und die anschließende Masken- und Abstandspflicht.
Jetzt wird ausgerechnet ein „Winzling“, ein Virus zum Totengräber des aufgeklärten Weltbildes des rationalen Menschen. Das mittlerweile zum Angstvirus mutierte Coronavirus hebelt die Welt, wie wir sie kannten, aus. Alle Erdbewohner gemeinsam erleben einen historischen Moment. Das Menschenbild der Vernunft prallt in voller Fahrt gegen die Wand und zerstört sich selbst! Die Kontrolle des Virus erfordert die Kontrolle des Menschen, den Stillstand des sozialen Lebens. Alternativlos erscheint die wissenschaftliche Logik des Virologen, die sich stets am schlimmstmöglichen Fall orientiert. Die Politik hat ihr zum Schutz des Lebens zu folgen.
Die Allmacht über die Natur einschließlich des Virus erfordert übereinstimmend die totale Kontrolle auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das Licht der Vernunft weist die Richtung, direkt in das Dunkel der Leere des Nichts. Auf dem Weg dorthin wird das freie, selbstbestimmte Individuum auf dem Altar der Kontrolle geopfert. Mit dem Entzug all seiner Freiheiten entweicht das Leben aus ihm, und es verwandelt sich in einen Untertanen.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Akt der Selbstzerstörung auf dem Weg der allmächtigen Vernunft auf der Lauer liegt. Er begegnete uns bereits im Zusammenhang des Wettrüstens der Supermächte angesichts des Schreckgespenstes eines atomaren Weltkrieges. Die Entwicklung dorthin folgte seit Jahrtausenden der immer gleichen Logik: durch die Überlegenheit der Waffe im Kampf den Sieg über den Gegner zu erlangen. Das Ziel der Allmacht liegt in der Selbstzerstörung und endet in der Leere des Nichts.
Doch damit nicht genug: Ein weiteres Thema der Selbstzerstörung liegt vor uns. Wir sind alle Betroffene und Zeugen eines epochalen Ereignisses, der Coronakrise vergleichbar, über dem der Schleier des Nicht-Existierens liegt. Niemand scheint beunruhigt zu sein, obwohl es in unserer Gesellschaft kaum noch jemanden gibt, der nicht schmerzlich davon betroffen ist. Gemeint ist die schleichende und unaufhörliche Auflösung der Keimzelle der Gesellschaft, der Familie. Wiederum verwundert es nicht, denn hier erkennen wir das Wirken einer bislang unerkannten Kraft: der des versteckten Matriarchats. Dieses befand sich immer schon im Zentrum der autoritär-patriarchalen Familie.
Jetzt, da der Patriarch in diesem Teil der Gesellschaft seinen Hut nehmen musste, war ein Machtvakuum entstanden, das der autoritäre Geist des versteckten Matriarchats vollständig einnehmen konnte.
Die Auflösung der jahrtausendealten Abhängigkeit rächt sich in der Auflösung der Familie. In der verbleibenden vollständigen Kontrolle über die Kinder wartet, wie in den oben geschilderten patriarchalen Allmachtsszenarien, ebenfalls die Leere des Nichts. Für Mutter und Kind auf der einen Seite, den Vater im Abseits der Bedeutungslosigkeit auf der anderen. Die matriarchale wie auch die zuvor beschriebene patriarchale Allmacht — die Technik, insbesondere die Kriegstechnik, die Wissenschaft, der Kapitalismus, sie alle sind Geschöpfe der patriarchalen Allmacht — bewegen sich auf den gleichen zerstörerischen Punkt zu.
Die Realisierung der finalen Selbstzerstörung wird Aufgabe der digitalen Technologie sein, die gerade in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß die Kontrolle über den Menschen zu übernehmen beginnt. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Niemand kann sagen, auf welche Weise und bis wann sie die vollständige Kontrolle über den Menschen erlangt haben wird. Klar ist allein, dass diese Kontrolle von global agierenden Konzernen ausgeübt wird, die sie schon jetzt als gewinnbringende Ware betrachten, für die es nur die eine Richtung gibt: unendliches Wachstum, für das es kein Halten gibt!
Die geschilderten Szenarien müssten für die Erkenntnis genügen, dass das autoritäre Menschenbild — ob patriarchal oder matriarchal — überall dort, wo es sein Ziel erreicht, in der Selbstzerstörung der Leere des Nichts endet. Der Zeitpunkt ist jetzt da, Corona sei Dank, davon Abschied zu nehmen.
So können wir jetzt das neue Manifest des Anthropozän formulieren.
Rechtzeitig zum Beginn des Zeitalters des Anthropozän ist der Mensch, der zuletzt wichtigste und mächtigste Gestalter der Natur, durch das Coronavirus von seinem Thron der Allmacht der Vernunft gestoßen worden. Unwiderruflich! Die Folgen der Allmacht waren längst für alle sichtbar und durch den Begriff der Klimakrise beschrieben. Artensterben, Abholzung der Urwälder, Überfischung und Plastik-Vermüllung der Meere, globale Erwärmung mit Wüstenbildung und extremen Wetterlagen, das Schmelzen der Pole und Gletscher, Wasserknappheit, Verschmutzung der Luft und ausgelaugte Böden bezeugen das menschliche Wirken. Sollte es allein die Aufgabe von Wissenschaft und Technik sein, diesem Prozess der Naturzerstörung entgegenzuwirken, wird der Bock zum Gärtner gemacht. Wer züchtete die Hochleistungsrinder und den Genmais, wer entwickelte die Pestizide für die jetzt am Pranger stehenden Bauern?
Das Anthropozän mit dem alten Menschenbild der Aufklärung einzuläuten, also dem Vernunftwesen Mensch und seiner dazugehörenden Sonderstellung im Organismus der Natur, hat seinen Sinn verwirkt. Es ist ein Geschöpf des autoritären Patriarchats bürgerlicher Prägung, dazu erschaffen, den mit wirtschaftlicher Macht ausgestatteten und dadurch erstarkten Stand des Bürgertums vom Joch feudaler Herrschaft durch Adel und Kirche zu befreien. Der Kern dieser Freiheit war und ist bis heute das freie Walten des Kapitalismus. Er bildet die Grundlage der wirtschaftlichen und politischen Macht des Bürgertums.
Dass der bürgerliche Kapitalismus ein Kind des uralten autoritären Patriarchats ist, zeigt sich am deutlichsten in seinem Kernprinzip: Der Besitzende, das Kapital, zwingt den Nicht-Besitzenden, für ihn zu arbeiten und so des Besitzenden Reichtum zu mehren. Kapital ist Macht, Besitzlosigkeit ist Ohnmacht. Dass dies so bleibt, ist abgesichert durch die Gesetzgebung und die Logik des Finanzsystems. Hier setzt das Bürgertum fort, was der Adel und auch der Klerus als die Besitzer des Bodens seit eh und je von den Bauern forderten. Mit anderen Worten: Der bürgerliche Kapitalismus setzt das feudal-autoritäre Menschenbild fort, jetzt im Namen der Vernunft.
Gleiches gilt für die Vernunft selbst. Wissen ist die zweite Säule der Macht. Die bürgerliche Vernunft erobert die Universität, die zuvor fest in kirchlicher Hand gelegen war. Die menschliche Vernunft war ursprünglich als Kernstück theologischen Philosophierens von der göttlichen Allvernunft abgeleitet. Das bürgerliche Denken schafft diesen Gott ab und setzt an dessen Stelle die bürgerliche Vernunft, deren Aufgabe nun darin besteht, die Gesamtheit der bürgerlichen Ordnung zu begründen und gestalten. Die staatliche und wirtschaftliche Ordnung, das Rechtswesen, alles folgt den Vorgaben der gesetzgebenden Vernunft. Sie übernimmt den Platz, den zuvor der göttliche Wille und die göttliche Ordnung mit ihren strengen Hierarchien eingenommen hatten. Wissenschaft und Technik auf der einen Seite und der Kapitalismus auf der anderen übernehmen jetzt den Auftrag, sich die Erde untertan zu machen.
Die Grundprinzipien des Autoritären, das Streben nach Allmacht und Kontrolle, die Ungleichheit der Menschen, die Macht des Besitzenden und die Ohnmacht des Besitzlosen, der die Arbeit leistet, die allein den Besitz des Mächtigen vermehrt, bleiben auch die Ideologie des nun herrschenden autoritären Bürgertums. Seine Wertversorgung in der Selbstherrlichkeit basiert auf der Entwertung, der Diskriminierung des Minderen, des Schwachen und der Kontrolle über sie.
Die dritte Säule des Bürgertums ist die Macht des verdeckten Matriarchats. Die Frau hatte in der patriarchalen Ordnung Folgsamkeit und Unterordnung zu leben, auf Beruf, Bildung und politische Macht zu verzichten und sich allein ihren familiären Aufgaben zu widmen.
Bei genauerer Betrachtung der familiären Wirklichkeit ergibt sich ein davon abweichendes Bild: Da sehen wir die Frau, die sich dem Schicksal ihrer Zweitrangigkeit ergeben hat und sich gemäß dieser Ordnung verhält. Daneben gibt es die Mutter, der es gelingt, den schwachen Mann in die Position der Zweitrangigkeit zu drücken und die gleichen Machtinstrumente des Patriarchats für alle Welt sichtbar einzusetzen. Und dann gibt es die Mutter, die im Bild des Opfers für den Patriarchen unsichtbare Machtinstrumente einsetzt, durch die sie die Kontrolle über die gesamte Familie erlangt.
Ihre bevorzugten Mittel sind die Vermittlung von Angst und Sorge, mütterliche Liebe, Strafe durch Liebesentzug, vorausschauendes Handeln, das Wissen, was für alle das Beste sei, und die Manipulation durch das Erzeugen von schlechtem Gewissen. Lug und Trug, wie sie auch zur patriarchalen Macht gehören, dürfen bei dieser Aufzählung nicht fehlen, auch nicht der Einsatz von geplanten Mitteln zur Erreichung kurz- oder langfristiger Ziele. Planung ist am Werk und damit das Wissen um die ausgeübte Macht. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles geschieht kontrolliert. Selbst da, wo der Eindruck des Gegenteils entstehen soll.
Die Liste der allgemeinen Herrschaftsinstrumente müssen wir um diese Aufzählung, die sicher nicht vollständig ist, erweitern, wenn wir die verborgene Form der Macht verstehen wollen. Es gibt die für alle erkennbare Form der Macht des Täters und die unsichtbare des Opfers, beide sind grundverschieden, haben aber das gleiche autoritäre Ziel: Allmacht und Kontrolle.
Die vierte Säule der bürgerlichen Macht bildet der Kolonialismus als Erbe sowohl der feudalen Macht als auch der kirchlichen. Die spanische Krone und der Papst waren die Hauptakteure zu Beginn dieses neuen Zeitalters, das die Welt in zwei grundverschiedene Daseinsformen der Über- und Unterordnung aufteilte, wie es auch für die Geschlechterordnung galt. Das Bürgertum setzt dieses feudale Herrschaftserbe des Autoritären fort, ersetzt aber die göttliche Begründung durch die Vernunft-Begründung. Diese formuliert zwar die allgemeinen Menschenrechte in ihrer universalen Gültigkeit, unterscheidet die Menschen jedoch im gleichen Atemzug nach ihrem Vernunftgebrauch. Frauen und Kinder, Besitzlose, sogenannte Geisteskranke und die Schwarzen wie auch alle anderen als mindere Rassen eingestuften Menschengruppen verlieren dadurch ihren Anspruch auf diese Rechte.
Die Macht und der Reichtum unseres bürgerlichen Weltbildes basiert bis heute auf der Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt, die sich zwar des Jochs der europäischen Kolonialmächte entledigte, von diesen aber wirtschaftlich weiterhin beherrscht wird. Die koloniale Folge der Allmacht globaler Großkonzerne verbindet sich hier unmittelbar mit den Folgen der Naturzerstörung.
Das Anthropozän, will es den Weg der Selbstzerstörung verlassen, benötigt ein völlig neues Menschenbild, in dessen Zentrum nicht wie bisher Vernunft, Allmacht und Kontrolle, sondern die Entwicklung des Menschen steht. Aus dem Leiden heraus in die innere Stille und die Erfahrung der Einheit mit allem.
Verabschieden wir also die Grundbegriffe unseres bisherigen Selbstverständnisses. In ihnen halten wir das autoritär-patriarchale Weltbild mit der Allmacht der Vernunft am Leben. Verabschieden wir die Begriffe Vernunft, Verstand, Bewusstsein, Unbewusstes, Trieb, Körper-Geist-Seele, Instinkt, Sexualität, Fantasie, Gewissen, Moral, Erziehung und Rolle, um die wichtigsten zu nennen. Geben wir der Natur, den Tieren und Pflanzen Geist und Seele, Würde und Achtung, Respekt und Fürsorge zurück. Es gibt nur einen Geist, eine Seele, eine Würde. Dies gilt für alle Lebewesen dieser Erde gemeinsam.
Den Menschen in neuen, unbelasteten Begriffen zu denken bedeutet: Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, auch sein Ich besteht aus Geschichte. Von den neuen Begriffen sollen an dieser Stelle nur die wichtigsten eingeführt werden. Diese sind: die „Sprache der Handlung“, die „bildernde Präsentis“, die „Ich-Gestalt“ und deren Synonym, das „Ich-Gesicht“, sowie das Verb „gesichtern“.
Auf der Basis dieser vier und noch weiterer Begriffe sind wir in der Lage, den Menschen frei von Macht und Hierarchie zu denken und damit ein völlig neues Menschenbild zu erschaffen. In meiner Anfang 2020 erschienenen achtbändigen Flugschriftenreihe „Psychotherapoesie“ (1) sind diese neuen Begriffe in aller Ausführlichkeit dargelegt.
Alle Lebewesen dieser Erde sprechen die evolutionsgeschichtlich bis in die Anfänge zurückreichende Sprache der Handlung. Sie ist die universelle Sprache des Lebens. Jedes Wollen, Fühlen, Erkennen zeigt sich in Form einer Handlung. Gleich, ob wir gemeinsam lieben, singen, essen, kämpfen oder flüchten, es wird gehandelt. In der Sprache der Handlung erkennen wir die Einheit von Wahrnehmen, Bildern, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln.
Als Mensch der ersten Lebensjahre sind wir vollständig eingebettet in diese Einheit. Über die gesamte Lebensspanne hinweg bleibt sie die Grundsprache des sozialen Erlebens. Sie ist die Sprache der Liebe, der Macht, der Erotik, der Kunst, der Religionen, aller Rituale des Alltags, des handwerklichen und wirtschaftlichen Handelns. Es gibt keinen Bereich, der davon ausgeschlossen wäre, auch nicht die Wissenschaft.
Was von besonderer Bedeutung ist: Die Sprache der Handlung enthält alle geistigen Vollzüge, die bisher allein der Vernunft zugeschrieben waren, nämlich die Abstraktion, das Erfassen von Zusammenhängen der Kausalität und Gleichzeitigkeit, das Schlussfolgern, das planend-vorausschauende Denken, die Selbstreflexion, das moralische und einfühlende Denken.
Der Begriff der Präsentis vereint, was wir bisher nur streng getrennt zu denken vermögen. Er erschließt sich aus der Einheit von Wahrnehmen, Bildern, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln in der Sprache der Handlung. Mit anderen Worten: Die Präsentis ist der Geist, der hört, sieht, riecht und schmeckt, der Bilder erschafft und Klänge, er fühlt Freud und Leid, liebt, ist enttäuscht und hasst, er ist der Geist der Schönheit, der Zusammenhänge erkennt und Schlussfolgerungen anstellt, der Geist, der will, der Geschichten erzählt und mit Zahlen rechnet, Gedichte schreibt, mit Händen und Füßen agiert und erkennt, Schmerzen fühlt, musiziert und tanzt, und — was seltsam klingen mag —: Der Geist vögelt leidenschaftlich gerne. Alles dies vereint die bildernde Präsentis. Lasst endlich den Geist lebendig sein! Zu lange schon ist er dieses monströs leblose, strenge, emotions- und saftlose Vernunftgerippe.
Das Ich der ersten Lebensjahre ist bildlos, es kennt keine Trennung von Ich und Du, von Ich und Welt. Das Ich lebt in der Einheit ohne Grenzen.
Etwa ab dem dritten Lebensjahr beginnt die bildernde Präsentis sich selbst zu verbildern. Sie erschafft erst aus den Menschen, die dem Kind das eigene Dasein schenkten, den Eltern, dann auch den weiteren Personen seines familiären Umfelds wie Geschwistern und Großeltern die familiären Gestalten des Ich. Die Ich-Gestalt der Mutter und des Vaters, der Schwester, des Großvaters und wer sonst noch da ist. So füllt sich nach und nach die Ich-Bühne, auf der sich alle versammeln.
Erst danach fügt sich die Ich-Gestalt des eigenen Erlebens hinzu. Auf diese Weise wird die Familie mitsamt allen Geschichten zum Grundbestandteil des kindlichen Ichs. Von nun an kann es nicht mehr außerhalb der familiären und damit auch kulturellen Geschichte existieren. Die Ich-Gestalt besteht allein aus der familiären Geschichte. Zu dieser fügt sich dann die eigene Geschichte hinzu. Der Mensch ist also grundsätzlich ein geschichtliches Wesen, weil sein Ich nur aus Geschichte besteht. Die Geschichte ist das Substrat der Ich-Gestalt. Jede dieser Ich-Gestalten hat ihren eigenen Gesichtsausdruck, der für den geübten Blick, vor allem den des Kindes, sofort lesbar ist. Deshalb der synonyme Begriff des Ich-Gesichtes.
Alle Kinder sind Meister im Gesichtern und im Gesichter lesen. Sie sehen an ihren Eltern sofort, ob es Sinn hat, Wünsche vorzubringen oder nicht. In der Partnerschaft und am Arbeitsplatz gehen wir alle damit um, reagieren darauf, ohne einen Begriff dafür zu haben. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Menschen. Die einen gesichtern andauernd und situativ, während andere ihr Gesicht über längere Zeiträume bewahren. Im sozialen Handeln ist das Gesichtern eine der wichtigsten Informationsquellen.
An dieser Stelle endet die Sinnhaftigkeit der Vorstellung eines freien und selbstbestimmten, nur der eigenen Vernunft folgenden Individuums. Dieses war und ist eine Illusion. Wir können uns befreien von der Fremdbestimmung durch politische Herrschaft, werden aber immer aus Geschichte bestehen und diese leben, ohne Wissen von dieser Geschichte zu haben. Deshalb kann es im sozialen Leben keine Fakten oder objektiven Tatsachen geben, nur kulturell und persönlich bedingte, interpretierte, für wahr oder falsch befundene Umstände. Auch die Corona-Zahlen gehören hierzu.
Damit können wir den Bogen zurück an den Anfang dieser Ausführungen schlagen. Das zu Beginn der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts in Paris erschienene Manifest des Surrealismus benannte die Tyrannei der Rationalität mit klaren Worten und propagierte den Beginn einer neuen Zeit, der Surrealität. In ihr sollte die schöpferische Irrationalität des Traumes und der Fantasie zur neuen Gestaltungskraft der Gesellschaft werden.
An vorderster Front beim Aufbau einer veränderten, nicht mehr den Gesetzen der Logik verpflichteten Gesellschaft sahen sich die Künstler, die die Gräuel des Ersten Weltkrieges mitangesehen und überlebt hatten.
Wie wir alle wissen, ist dieses Unternehmen gescheitert. Die Werke der Maler hängen heute, Unsummen kostend, in den Museen oder als Reproduktionen in Wohnzimmern und Büros. Die damaligen Künstler dachten in den gleichen Begriffen des autoritär-rationalen Menschenbildes, das sie zum Wohle der Menschheit überwinden wollten. Und wurden von diesem rückstandslos wieder verschluckt.
Das neue Menschenbild hat zwei Quellen: die Kunst und die Psychotherapie. Ein Virus, gegen das es weder eine Impfung noch Medikamente gibt und das weltweit viele Tote fordert, konfrontiert mit zahlreichen Ängsten bis hin zur Todesangst, also der Leere des Nichts. Die Kunst bezog ihre Antriebs- und Gestaltungskraft immer schon aus den Abgründen, die der Künstler in sich trug. Als Bildhauer, Poet, Zeichner und Psychologe leitete mich diese Leere des Nichts; von einem Virus, außer den unendlich vielen, weit und breit keine Spur.
Aus diesem Leiden heraus entstand über mehrere Jahrzehnte hinweg das neue Menschenbild, erstmals ausgedrückt in einer Poesie ohne willentliche Gestaltung. „Fliegen I Gang auf Erden“ (2) lautet der Titel der 2013 erschienenen Gedichtsammlung, einem langen Lied der Sprache der Verstummten oder der Leere des Nichts, die sich schließlich in lebendige Fülle wandelte. Mit den Worten kamen zugleich die Bilder. „FlügelFederBilderBuch“ (3) ist die 2014 herausgegebene Sammlung der Federzeichnungen benannt, in denen der gleiche Weg zeichnerisch dargestellt wird.
Auf dieser Basis entwickelte sich aus dem psychologisch-philosophischen Erkenntnisinteresse das Gemälde eines neuen Menschenbildes. Eine Auseinandersetzung mit philosophischen oder psychologischen Theorien wird der Leser in den Büchern nicht finden. Die Leere des Nichts, künstlerisch gestaltend, hat dieses neue Menschenbild geschaffen. Deshalb kann es den Weg zeigen, der aus der Leere herausführt, der uns den inneren Frieden finden lässt und uns mit dem Leben versöhnt.
Der wichtigste Moment im Leben ist der des Sterbens. Auf diesen Moment gilt es sich vorzubereiten. Wer zuvor tausendfach gestorben ist, der hat keine Angst vor ihm.
Das größte Geschenk aber ist im Leben selbst. Es schützt vor dem Sog der Angst, wie er gegenwärtig weltweit die Menschen in Bann hält, und gibt den gesuchten inneren Frieden. Die Kunst ist nicht nur tröstliche Begleiterin, sie führt auch auf den verschlungenen Pfaden und liefert die wirkenden und heilenden Bilder und Erkenntnisse der Präsentis. Ihr gilt das Vertrauen, nicht der noch mehr Ängste erzeugenden rationalen Kontrolle.
Zu lange schon schien es, dass Kunst nur noch den einen Sinn erfüllt, in Auktionen oder auf Kunstmärkten Höchstpreise zu erzielen. Dass aus ihr die Kraft und der Inhalt des neuen Menschenbildes entstehen konnte, gibt auch ihr die vermisste Selbstachtung und Sinnhaftigkeit zurück. Mit der Folge, dass nicht mehr das künstlerische Endprodukt im Zentrum steht, sondern das gestalterische Schaffen selbst durch seinen soeben geschilderten Lebensbezug.
Die Überwindung des Leidens ist die Utopie der Kunst, des Lebens selbst, der Kern und Inhalt dieses neuen Erdzeitalters, das wir Anthropozän nennen. Überwindung meint nicht Kampf; sie durchlebt das Leiden, nimmt es an, verzichtet auf Kontrolle und erhält daraus die Fülle des Lebens.
Fliegen
ist der Gang auf Erden
einen Himmel über sich.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Bucher, Rupert: Psychotherapoesie. Hohenems 2020
(2) Bucher, Rupert: Fiegen I Gang auf Erden. Hohenems 2013
(3) Bucher, Rupert: FlügelFederBilderBuch. Hohenems 2014