Will Russland Europa schwächen?

Russland braucht ein starkes Europa.

Will Russland Europa schwächen? Diese Behauptung wird in letzter Zeit zunehmend auf dem Schauplatz der medialen Propaganda von westlicher Presse und von westlichen Politaktivisten vorgetragen. Dazu sage ich ganz klar: Nein! Russland will Europa nicht schwächen. Russland kann ohne Europa nicht existieren, so wie Europa nicht ohne Russland. Darüber kann es keine zwei Meinungen geben, die Frage ist allein: Wie? Vortrag beim Attac-Kongress am 6. und 7. Oktober 2018 in Kassel (1).

Man muss sich nur die Jahrzehnte der neueren Geschichte anschauen, da gibt es eindeutige Daten zu dieser Frage:
• Michail Gorbatschow wollte das Europäische Haus.
• Boris Jelzin wollte sogar der NATO beitreten, ist sogar Mitglied eines NATO-Russland-Rates geworden. Er war der Meinung, die NATO könnte sich auch nach Osten ausweiten – aber als gemeinsame Organisation, zusammen mit Russland.
• Wladimir Putin, im Jahr 2000 angetreten, hat seine erste Grundsatzrede im deutschen Bundestag 2001 gehalten. Auf Deutsch. Er bot Zusammenarbeit an mit dem Ziel, eine Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon zu schaffen, gemeinsam den eurasischen Raum zu entwickeln.

Das ist die Grundsituation. Aber – dann gibt es ein Aber:

Im Zuge der NATO-Osterweiterung und der Osterweiterung der EU, die bis nach Usbekistan entlang des russischen Bauchesdurch alle angrenzenden eurasischen Südgebiete reichen sollte und die Russland einzuschnüren versuchte, kam Russland zu einer differenzierteren Politik gegenüber der EU – auchbegleitende Vorgänge wie die sogenannten bunten Revolutionen spielten hierbei eine Rolle. Russland ging gezwungenermaßen dazu über, seine eigenen Interessen zu schützen. Das Motto hieß, Russland muss wieder auf die Beine kommen, muss wieder stark werden, Russland muss aus dem Elend des Zusammenbruchs und aus der Umklammerung herauskommen.

Dazu gibt es eine Innenpolitik – und eine Außenpolitik, für die Putin steht:
Nach innen hat er das Land stabilisiert, indem er es schaffte, einen Konsens der widerstreitenden Kräfte herzustellen. Danach hat er die innere Stabilisierung nach außen getragen. Er wies die Kolonisierungsversuche der USA und auch der Europäischen Union zurück, indem er gleich nach seinem Antritt für eine Begleichung der sowjetischen Alt-Schulden sorgte und die Annahme weiterer Kredite vom IWF ablehnte. Sinn dieser Politik war, Russland unabhängig von den westlichen Geldgebern zu machen – jedenfalls relativ unabhängig, wenn man sich auch vom Kapitalmarkt nicht fernhalten konnte. Aber aus der Verschuldungsschraube wollte man raus.

Die weiteren Schritte sind gekennzeichnet von einer allmählichen Lösung Russlands aus der Umklammerung und der Entwicklung Putins zum globalen Krisenmanager:
• 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz kritisiert Putin erstmals öffentlich die Krisenpolitik der USA.
• 2008 im Krieg mit Georgien, mit dem Russland deutlich zeigte: Wir lassen nicht zu, dass ehemalige sowjetische Gebiete, die noch umstritten sind, im Interesse der NATOeinfach besetzt werden. Dagegen ging Russland militärisch vor. Das war die gelbe Karte gegenüber der von USA, NATO und EU koordiniert betriebenen Westausdehnung.

Die weiteren Ereignisse sind bekannt:
• 2014 die Auseinandersetzung um die Ukraine. Sie führte dazu – ohne hier auf Details einzugehen –, dass Russland den Versuchdes Westens verhinderte, die Ukraine in die NATO und die EU zu ziehen– verhindert allerdings zu dem Preis, dass in der Ukraine bis heute Krieg geführt wird.

Heute liegt die Ukraine als schwärende Wunde am Bauch Russlands, zwischen Europa und Russland, ein Konflikt, zu dem bisher keine Einigung gefunden werden konnte. Nach wie vor wird behauptet, Russland habe in diesem Zug die Krim annektiert.

Das Referendum der Bevölkerung für einen Beitritt zur Russischen Föderation wird von westlicher Seite als angeblich erzwungen beiseite geschoben. An dieser Beschuldigung werden bis heute die Sanktionen gegen Russland aufgehängt.

• Desungeachtet folgten seit 2016 die Ereignisse in Syrien, genereller gesprochen, in Mesopotamien, wo Russland zugunsten Bashar al-Assads militärisch eingriff. Schon davor war Russland als Warner gegen die Regime-Change-Politik der USA und ihrer Verbündeten in Mesopotamien und Nordafrika aufgetreten. Aber nach der Liquidierung Gaddafis durch die westliche Intervention setzte Russland dem von den USA in Syrien geführten Krieg ein klares Stoppschild entgegen, indem es die Souveränität Syriens unter seinen Schutz stellte. Dieser Einsatz hat dazu geführt, dass dieser Krieg jetzt seinem Ende entgegengehen kann – und das, obwohl die USA dort nach wie vor zündeln, das heißt nach wie vor die sogenannten Rebellen unterstützen. Die Verflechtungen dieser Kräfte reichen bis in die Bereiche des „Islamischen Staates“. In Idlib, im letzten Rückzugsgebiet der Opposition, wo circa 350.000 Menschen leben, halten sich 10 - 15.000 erklärte radikale, das heißt terroristische Kämpfer auf. Daraus ergibt sich eine Gemengelage, die sehr kompliziert ist.

Wie auch immer – Russland hat dafür gesorgt, dass diese letzte Bastion des Widerstands nicht einfach bombardiert wird. Man hat stattdessen einen Cordon Sanitaire um dieses Gebiet gezogen, über den die Bevölkerung das Gebiet verlassen kann. Wer sich mit den Terroristen nicht gemein machen will, kann das Gebiet verlassen.

Was dort jetzt passiert, ist offen, nachdem die Radikalen erklärt haben, dass sie nicht aufgeben werden. Es ist aber jedenfalls der Versuch erkennbar, auch hier wieder so etwas wie eine Krisenlösung zu finden. Russland an vorderster Stelle.

Im Ergebnis der hier skizzierten Entwicklung der letzten Jahre stehen sich Donald Trump und Wladimir Putin in einem prekären Patt gegenüber, Trump als Zerstörer, Putin als Verteidiger der bestehenden Völkerordnung. Die EU steht unentschieden dazwischen – abhängig von den USA und von Russland gleichermaßen. Im Hintergrund erhebt sich China zu neuer Größe.

Soweit zu der generellen Situation. Das kann man alles sehr viel detaillierter behandeln. Ich will es aber bei dieser Skizze zunächst einmal belassen, um mich noch einem anderen Aspekt zuzuwenden, den ich genauer beleuchten möchte: die besonderen Beziehungen von Russland zu Europa und Europa zu Russland. Ich betone noch einmal:

Europa und Russland sind nicht zu trennen. Sie sind wie siamesische Zwillinge. Sie gehören als eurasisches Paar zusammen. Tötet man den einen, tötet man den anderen oder zurückhaltender gesagt: Bedrängt man den einen, bedrängt man den anderen, oder sie bedrängen sich gegenseitig.

Sie können – bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Wünsche – nicht voneinander loskommen. Sie müssen sich miteinander entwickeln.

Das Bild der siamesischen Zwillinge sollte uns immer vor Augen sein, wenn wir anschauen, was mit der Beziehung von Russland und Europa zu tun hat: Ein Russland ohne Europa oder auch ein Europa ohne Russland kann es nicht geben.

Hier ist deswegen auch der Ort, der aktuellen Feind-Propaganda der EU gegenüber Russland entgegenzutreten, die ich schon eingangs erwähnt habe. In dieser wird verbreitet, Russland spalte die EU, indem es die Rechten unterstütze, sie finanziere, sie nach Russland einlade und so dem Nationalismus in Europa Vorschub leiste – mit dem Ziel,die EU zu zerstören.

Diese Behauptung ist falsch, aber sie ist nicht einfach vom Tisch zu wischen. In der Tat gab es Vorgänge, die einen solchen Eindruck entstehen lassen konnten: Vertreter und Vertreterinnen der europäischen Rechten – der französischen, der italienischen Rechten und auch der deutschen AfD – sind nach Moskau geflogen und haben dort mit russischen Politikern Kontakt aufgenommen. Die ‚Front national‘ hat sogar Wahlkampfhilfe aus Russland bekommen. Vor dem Hintergrund der aggressiven Ablehnung Russlands durch die EU hat sich so nach dem bekannten Motto ‚der Feind meines Feindes ist mein Freund‘ eine Situation ergeben, die in der Tat den Eindruck entstehen lassen konnte, als gäbe es eine gemeinsame Front der europakritischen Rechten und Russlands gegen die EU. Das ist irritierend.

Weiterhin ist nicht vom Tisch zu wischen, dass eine große Zahl der in Deutschland lebenden Russland-Deutschen beziehungsweise der nach der Perestroika zu uns gekommenen Russen und Russinnen eine starke Affinität zur Rechten haben, konkret heute zur AfD. Große Teile der hier lebenden russischen Bevölkerung haben sich der AfD zugewandt. Da stellen sich natürlich Fragen: Warum tun sie das? Es gibt verschiedene Antworten. Eine könnte lauten: Die russischen Einwanderer fühlen sich hier als Menschen zweiter Klasse behandelt, fühlen sich von den etablierten Parteien, einschließlich der Linken, nicht vertreten. Diesen Menschen, die vom Sozialismus wie auch von der westlichen Demokratie enttäuscht sind, bietet die AfD mit ihrer fundamentalen Systemkritik – als Anti-Linke Kraft – offenbar im wahrsten Sinne eine Alternative.

Dies alles zusammen macht die Situation ziemlich unüberschaubar. Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Vereinfacher und Demagogen.

Tatsächlich ist es so, dass die Politik der russischen Staatsführung mit dem, was die europäischen Nationalisten, Rassisten, Alt-oder Neonazis oder auch ihre russischen Kontaktstellen vertreten, nicht übereinstimmt, nicht innenpolitisch und nicht außenpolitisch.

Putin hat wiederholt erklärt,
• dass er an einer Stärkung Europas interessiert ist, weil Russland Europa braucht, um ein Gegengewicht zu den USA zu haben; nur ein starkes, nicht ein schwaches Europa kann ihm dabei nützlich sein;
• dass Russland ein Vielvölkerstaat ist, ein multiethnischer und multireligiöser Staat, in dem Nationalismus keinen Platz hat, in dem der Islam ein wichtiger Teil der Gesellschaft ist.

Nationalismus und Islamfeindlichkeit der europäischen Rechten ist sind mit den Realitäten in Russland nicht vereinbar. Das heißt, die Rechten können keine politischen Partner für Russland sein. Sie stehen konträr zu den Zielen der russischen Politik, die sich mit der Rolle Putins als Krisenmanager auch international gegen nationalistische Tendenzen wendet, wie sie zurzeit von den USA unter dem Tenor „America first“ ausgehen.

Das Problem ist, dass auch in Russland, klar ausgesprochen, die Idioten noch nicht ausgestorben sind, die dies nicht begriffen haben – noch nicht, nicht mehr, das sei dahingestellt. Von solchen Kräften wurden die Kontakte zu europäischen Rechten hergestellt. Auf unterer Ebene. So ist das.

Bedauerlicherweise hat die politische Öffentlichkeit Russlands die von diesen Kontakten für den Ruf Russlands ausgehende Gefahr lange nicht erkannt, jedenfalls darauf nicht reagiert. Aber jetzt, im Sommer dieses Jahres, hat die politische Führung offenbar entschieden – man darf gern sagen: endlich –, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wohl in der Erkenntnis, dass weiterer Schaden von der russischen Politik abgewendet werden muss.

Im Juli erschien eine offizielle Expertise in der Zeitschrift „Expert“, einem renommierten Theorieorgan, in der die politischen Kräfte Russlands aufgefordert werden, genauer hinzuschauen, mit wem sie es bei den europäischen Rechten zu tun haben. Die Verfasserin der Expertise, Veronika Kraschnennikowa, ist führendes Mitglied der Regierungspartei „Einiges Russland“. Ihre Position wäre in etwa vergleichbar mit einer Mitgliedschaft im Führungsgremium der Großen Koalition – siehe dazu die Veröffentlichung in der Internetzeitung www.russland.news(http://www.russland.news/?s=afd), Stichwort AfD.

Unmissverständlich erklärt Frau Kraschnennikowa, dass russische Politik mit den rechten europäischen Strömungen nicht vereinbar sei. Mit Bezug auf Putin wird erklärt, dass Nationalismus in Russland keine Grundlage habe,
• dass nationalistische Politik nichts sei, was Europa stärken könne,
• dass nationalistische Politik Europa schwäche und mit einem schwachen Europa auch Russland geschwächt werde,
• dass Russland vielmehr Interesse an einem demokratischen Europa habe, das sich auch den Positionen von Trump entgegenstellen könne.

Organisation für Organisation, einschließlich der einschlägigen Lebensläufe der führenden Personen, werden in der Expertise die rechten Strömungen der EU abgeklopft. Es wird klar herausgearbeitet, dass ein staatliches Interesse Russlands an diesen Kontakten nicht bestehe, mehr noch und unmissverständlich, dass aufgrund der Geschichte Russlands wie im Sinne seiner gegenwärtigen Politik ein solches Interesse auch nicht bestehen könne.

Die Expertise ist eine klare Botschaft von hoher politischer Ebene zu der Frage, wo Russlands Interessen in der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union liegen: Eben nicht in einer Stärkung der Rechts-Entwicklung und des Nationalismus in Europa, sondern in der Entwicklung eines starken und demokratischen Europa, das der Politik der USA entgegentreten kann und das zur Bündnisbereitschaft mit Russland zurückfindet. Darum geht es.

Bemerkenswert ist schließlich, dass die bereits im Juli 2018 erfolgte Veröffentlichung in der deutschen und europäischen Presse nicht aufgegriffen wurde. Erst mit der Veröffentlichung in Russland News wurde sie der deutschen Leserschaft bekannt gemacht. Bei Russland.news sind auch weitere Details nachzulesen, außerdem ist dort ein Life-Interview mit der Autorin der Expertise(http://www.russland.news/stoppt-putinpartei-alle-afd-kontakte-video/) zu sehen. Aufgegriffen wurde die Information danach nur von RT-Deutsch. Deutlicher kann das Desinteresse der herrschenden Medien und Politik an publizistischer Wahrheitsfindung – weniger zurückhaltend gesagt: das Interesse an der Aufrechterhaltung des vergifteten Märchens von der angeblichen russischen Bedrohung gegenüber der Europäischen Union – nicht dokumentiert werden.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Schriftliche Fassung eines Workshop-Vortrags beim Attac-Kongress „Ein anderes Europa ist möglich“ vom 6.und 7. Oktober 2018 an der Universität Kassel