Wiegenlieder des „Bösen“

Die CD „Lullabies from the axis of evil“ bringt Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gehör, die der Westen als „Feindstaaten“ abgekanzelt hat.

„Höre jetzt zu weinen auf, mein Auge. Auch wenn die Nacht endlos scheint, will ich sie durchwandern, bis wir zu Hause sind.“ Es ist der Klagegesang einer Mutter aus Palästina, der hier mit dem Beitrag einer norwegischen Künstlerin zu einem berührenden, völkerverbindenden Kunstwerk verschmolzen wurde. 2002 prägte George W. Bush den Begriff „Achse des Bösen“ und meinte damit unter anderem Irak, Iran und Nordkorea. In dieser Zeit, als die USA imperiale Kriege gegen eine ganze Reihe von Ländern anzettelte, kam dem Kirchenmann Erik Hillestad die Idee, wie man diesem perfiden Kampfbegriff mit wirklicher Friedensarbeit begegnen konnte: mit Wiegenliedern für Babys, die schwächsten, schutzbedürftigsten und unschuldigsten Geschöpfe überhaupt. Jedes Wiegenlied sollte von zwei Frauen gemeinsam gesungen werden — einer aus dem westlichen Kulturkreis und einer aus einem der Länder, die laut Bush zur Achse des Bösen zählten.

„Ya lel ma atwalak / This never ending night“ (Rim Banna & Kari Bremnes, aus der CD „Lullabies from the axis of evil“)

„Lullabies from the axis of evil“: Wiegenlieder von der Achse des Bösen — welch gewaltiger und provokanter CD-Titel! Es war die vielleicht politischste und gleichzeitig berührendste Aussage, die Musiker jemals zu Gehör brachten. Die Idee zu diesem völkerverbindenden Projekt hatte der norwegische Musikproduzent Erik Hillestad, der mit seinem Platten-Label „Kirkelig Kulturverksted“, übersetzt etwa „kirchliche Kulturwerkstatt“, schon sehr oft Musiker verschiedener Kulturkreise zusammenbrachte. Hillestad stammt aus einem religiösen Umfeld und glaubt daran, dass Austausch und Zusammenarbeit eine pazifistische Kraft haben.

2004 entwickelte der in Oslo beheimatete Produzent die Idee zu diesen Wiegenliedern. 2003, ein Jahr zuvor, hatten die USA bei den Vereinten Nationen (UN) angebliche Beweise für Massenvernichtungswaffen vorgelegt, die der Supermacht als Grund für einen Angriffskrieg gegen den Irak und einen Regimewechsel dienen sollten. Dieser Krieg war ebenso völkerrechtswidrig wie der Afghanistankrieg, den die USA schon 2001 entfachten, als Reaktion auf die 9/11-Anschläge. Amerika hatte vergeblich versucht, ein entsprechendes Mandat vom UN-Sicherheitsrat für einen Angriff zu bekommen und daraufhin seinen Angriff durch den Artikel 51 der UN-Charta zu legitimieren versucht, dem Recht auf Selbstverteidigung — was hier jedoch völkerrechtlich keine Anwendung findet.

Wie auch immer: Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush prägte am 29. Januar 2002 in einer Rede zur Lage der Nation das politische Schlagwort der „Achse des Bösen“, die seiner Meinung nach „den Frieden der Welt bedroht“. Konkret meinte er damit die Länder Iran, Irak und Nordkorea, die Terroristen unterstützen und nach Massenvernichtungswaffen streben würden, zählte aber auch Kuba, Libyen und Syrien dazu.

Dieser Kampfbegriff setzte sich übrigens aus Zitaten von Benito Mussolini und Ronald Reagan zusammen: Während Mussolini den Begriff der Achsenmächte prägte, bezeichnete Reagan während des Kalten Kriegs Russland als „Reich des Bösen“. Rückblickend wissen wir, dass der Irakkrieg mit dieser Bush-Rede zur Lage der Nation begann.

In dieser Zeit also, als die USA die Unterstützung einer internationalen Staatengemeinschaft suchten, um imperiale Kriege gegen eine ganze Handvoll Länder anzuzetteln, kam dem Kirchenmann Erik Hillestad die Idee, wie man dem Begriff der „Achse des Bösen“ mit wirklicher Friedensarbeit begegnen konnte: mit Wiegenliedern für Babys, für die schwächsten, schutzbedürftigsten und unschuldigsten Geschöpfe überhaupt. Jedes Wiegenland sollte von zwei Frauen gemeinsam gesungen werden – eine aus dem westlichen Kulturkreis und eine aus einem der Länder, die laut Bush zur Achse des Bösen zählten.

This never ending night
of longing and wandering
My hair has turned to white
My body’s ill

Welch symbolische Kraft aus diesem Projekt spricht! Ost und West treffen sich, um die Kriegspropaganda vollständig umzukehren, um mit Wiegenliedern den amerikanischen Präsidenten Lügen zu strafen, dass es „gute“ und „böse“ Völker gibt. Gegeneinander gehetzte Kulturkreise treffen sich, um der rhetorischen Aggression mit Verständigung zu begegnen, um der Gewalt von Krieg und Tod mit quasi der zartesten und liebevollsten menschlichen Äußerung entgegen zu treten: sanften Liedern einer liebenden Mutter für ihr Kind. Sie geben Geborgenheit und sind der Gegenpart zur Rhetorik des amerikanischen Präsidenten: Führt ihr nur Krieg, wenn ihr denn Krieg führen müsst — wir singen gemeinsam für unsere Kinder!

Für Hillestad symbolisieren Wiegenlieder den Beginn aller menschlichen Kommunikation, die — über alle Grenzen und Differenzen hinweg — Teil einer universellen Kultur sind.

„Sowohl musikalisch als auch inhaltlich gibt es in den Wiegenliedern ästhetische Gemeinsamkeiten“, sagt Hillestad. „Die Themen sind oft die gleichen, ebenso die musikalische Struktur. Unterschiede in Tonart, Sprache, Metaphorik und Religion können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine Verbindung zwischen den Kulturen der Erde gibt.“ Der Norweger hatte, vereinfacht gesagt, die Hoffnung, dass US-Soldaten, die Schlaflieder irakischer Mütter hören, keine irakischen Väter foltern. „Gegen ein Wiegenlied kommt man nicht an, weil es so stark ist“, so Hillestad.

Doch es war ein steiniger Weg von der Idee zur fertigen CD: Zwei Jahre durchkreuzte der Norweger den Nahen und Mittleren Osten, um dort unter zum Teil widrigen und nicht ungefährlichen Umständen zahlreiche Sängerinnen aufzunehmen. So reiste er mit Hilfsflügen ins kriegsgebeutelte Afghanistan und in den Vorkriegs-Irak, nahm trotz Verbots singende Frauen in islamischen Staaten wie Iran und Syrien auf und ließ Tonbänder aus Nordkorea schmuggeln, weil er nicht einreisen durfte. Nun galt es, die westlichen Partnerinnen zu finden.

Doch ein Drittel der von Hillestad angefragten Künstlerinnen aus den USA lehnte ab aus Angst, in Amerika auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden und dort dann nicht mehr auftreten oder Platten verkaufen zu dürfen — sagt das nicht eine Menge aus über die USA, die Redefreiheit als Grundrecht und Basis einer Demokratie definiert und dann behauptet, in den „bösen“ Ländern Demokratie einführen zu wollen? Die Angst war übrigens nicht unbegründet — als die CD 2004 erschien, wurde sie in den USA tatsächlich auf eine schwarze Liste gesetzt. Cancel Culture ist also wahrlich kein neues Phänomen.

Suhail, my little light
and Fares, my precious one
Some day you'll bring me medicine
I know you will

Nach langer Suche fand Hillestad schließlich hochkarätige Sängerinnen: Die schottische Eddie Reader sang gemeinsam mit der nordkoreanischen Sun Ju Lee, und Sarah Jane Morris aus England fand sich mit der Iranerin Mahsa Vahdat zusammen. Rickie Lee Jones aus den USA erhebt mit der Irakerin Halla Bassam ihre Stimme, und eine Deutsche war auch dabei: Nina Hagen setzte mit Martha Lorenzo aus Kuba in dem Lied „Lullaby, Sweet Baby“ ein zartes und dennoch kraftvolles Zeichen gegen den Krieg. „George W. Bush, Dick Cheney und John Ashcroft sind die wahre Achse des Bösen“, betont Rickie Lee Jones in einem Interview: „Sie sind selbst eine Triade des Bösen, deshalb denken sie in solchen Begriffen.

In die Geschichte einzugehen als der Präsident, der die Menschen des Mittleren Ostens als böse bezeichnete, ist ein schreckliches Erbe. In politischen Zeiten zu versuchen, Religion und die Idee von Gut und Böse zu beschwören, wenn man in Wirklichkeit um Öl kämpft; zu versuchen, das amerikanische Volk dazu zu bringen, von diesen Menschen als böse zu denken, weil man ihr Öl will — das ist es, was Bush tut.“

Das erste dieser 14 Duette, die Hillestad aufnahm, war die Zusammenarbeit zwischen der Palästinenserin Rim Banna und der Norwegerin Kari Bremnes. Rim Banna, die in Moskau Musik studierte und einen ukrainischen Mann heiratete, traf er in Nazareth während einer kalten Dezembernacht, und er war tief beeindruckt. „Das Heilige Land, in dem früher drei große Religionen jahrhundertelang in Frieden leben konnten, ist das Gebiet, in dem die Doppelmoral der westlichen Welt dem wachsenden extremen Fundamentalismus in der muslimischen Welt ständig neue Nahrung gibt“, so Hillestad.

Rim Banna hatte gerade Zwillinge geboren und sang ganz allein vor Hillestads Mikrofonen mit beängstigender Intensität „Ya lel ma atwalak“ ein, a cappella. Er war zu Tränen gerührt, obwohl er kein einziges Wort verstand von diesem Lied, das von der herzzerreißenden Sehnsucht einer Mutter handelt, die in der Dunkelheit umherirrt, während sie von ihren beiden geliebten Kindern getrennt ist. Die Nacht scheint endlos zu sein, der Schmerz über die Trennung von ihren Kindern lässt sie vor ihrer Zeit altern.

And I always will remember
like they are wandering besides me
The dearest and beloved ones
you're separated from
Stop crying now, my eye
even if it seems forever
I will wander in this night
until we are home

Es ist ein universelles Thema einer liebenden Mutter überall auf der Welt, das Kari Bremnes dann in Norwegen weiterentwickelte und vollendete, unterstützt vom genialen Saitenvirtuosen Knut Reiersrud. Wenn diese zwei starken Frauen „diese niemals endende Nacht“ durchleben, dann bekräftigt jeder Ton aus ihren Lippen, dass kein Krieg der Welt je nötig war. Dass kein Krieg der Welt es wert ist, dass Mütter um ihre Kinder trauern müssen und ihnen keine Wiegenlieder mehr singen können.

So sleep and you'll be strong
Sleep on now, my baby boy
Some day you'll take us back again
to where we belong


Ya Lel Ma Atwalak: This Never Ending Night

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